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Antje Babendererde
»Dichters Wort an Dichters Ort« / Thüringer Literaturrat e.V.
Sommer 2011. Nach zwanzig Jahren will ich schreibend aus den wilden Weiten Amerikas zurückkehren in meine Heimat, will erkunden, wie viel Wildnis ich in Thüringen vor meiner Haustür finde. Ein Buch über die Rückkehr der Wölfe nach Deutschland soll es werden, in diesem Fall – damals noch fiktiv- über den Einzug einer Wölfin in den Thüringer Wald.
Ein geeigneter Schauplatz muss her, ich bemühe Google Earth sowie einige Landkarten und finde ein großes, nicht von Straßen zerschnittenes Gebiet zwischen Oberhof, Tambach-Dietharz und Luisenthal. Wunderbar! Voller Enthusiasmus beginne ich zu recherchieren.
Ein Tag im Herbst führt mich nach Altenburg zum NABU-Vorsitzenden Mike Jessat, der begeistert ist von meinem Wolfsbuch-Vorhaben, mir aber auch gründlich den Kopf wäscht. Mein angedachter Schauplatz bedient die alten Rotkäppchen-Klischees: Der böse Wolf im tiefen dunklen Wald. Klüger wäre es, den Roman auf dem Ohrdrufer Truppenübungsplatz anzusiedeln, denn der sei »Wolfserwartungsland«.
Frühling 2012, ich fahre von Ohrdruf über Crawinkel in Richtung Arnstadt und erreiche wenige Kilometer vor der Stadt das von Bergen und Felsen umgebene Jonastal, in dem sich das Flüsschen Wilde Weiße gut hundert Meter tief in den Muschelkalk gegraben und dadurch steile Abbrüche geschaffen hat. Im Mittelalter haben Mönche an den warmen Kalkhängen des Tals Wein angebaut und auf den Trockenwiesen Ziegen und Schafe gehalten.
Ich schließe die Augen und verschwinde in der Zeit. Als ich sie wieder öffne, weiß ich: Das ist es! Hier soll mein Roman angesiedelt sein. Ich steige auf das Hochplateau und vom Rand des dichten Waldgebietes, das zum Übungsplatz gehört, habe ich einen weiten Blick über das Land. In nördlicher und östlicher Richtung bin ich von hügeligen Trockenwiesen umgeben, die in kleine, von Bauminseln durchsetzte Felder übergehen. Genau an dieser Stelle lasse ich in Gedanken mein fiktives Dorf entstehen.
Mein Roman soll von einer Wölfin, von einem verschwundenen und von einem mutigen Mädchen handeln – und von einem mysteriösen Waldjungen. Genügend Stoff für einen Jugendroman. Doch nun, da ich mich für diesen Schauplatz entschieden habe, kann ich unmöglich seine Vergangenheit außer Acht lassen. Ich frage mich, warum ich so verschwindend wenig über die unrühmliche Geschichte des Jonastals weiß, obwohl ich doch in Gotha aufgewachsen und zur Schule gegangen bin.
Ein paar Monate vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges mussten Tausende Häftlinge und Zwangsarbeiter ein komplexes Netz aus unterirdischen Stollen und Gewölben im Muschelkalk anlegen, dafür hatten Hitlers Getreue einen Teil des Truppenübungsplatzes in ein Häftlingslager umfunktioniert. Aber auch in der Nähe von Bittstädt und in Espenfeld auf der anderen Seite der Talstraße gab es große Zeltlager, in denen Gefangene untergebracht waren, die als Zwangsarbeiter schuften mussten.
Die Männer, ausgezehrt von Hunger, Kälte und chronischem Schlafmangel, wurden zu Schachtarbeiten und im Gleisbau eingesetzt, sie mussten unterirdische Kabel verlegen und andere schwere körperliche Arbeiten verrichten. Angeblich sollten die Gänge, Gewölbe und Bunker Hitler als letztes Führerhauptquartier und Nachrichtenzentrale dienen. Doch als die Alliierten sich im Frühjahr 1945 dem Tal näherten, wurden Stollen gesprengt und Bunker geflutet, damit den Befreiern nichts Brauchbares mehr in die Hände fallen konnte.
Seitdem gibt es wilde Mutmaßungen und Verschwörungstheorien über die verschütteten Gänge und unterirdischen Gewölbe, in denen einige Hartnäckige noch heute Hitlers Atombombe, eine intakte Panzerflotte oder sogar das legendäre Bernsteinzimmer vermuten.
Auf der Suche nach jemandem, der mir das Gelände zeigen kann, finde ich schließlich den Kommandanten des Truppenübungsplatzes und eine junge Försterin, die beide bereit sind, mir zu helfen. An zwei verschiedenen Tagen werde ich über den Platz gefahren, betrachte alles aus den unterschiedlichen Blickwinkeln meiner Begleiter.
Das Gelände des Truppenübungsplatzes ist eine unendliche Geschichte. Im Schutz der über hundert Jahre dauernden militärische Nutzung konnten sich darauf Tier- und Pflanzenarten erhalten und entwickeln, die einzigartig sind. Die Wildnis besteht aus zahllosen Baumarten wie Eschen, Eichen, wilden Obstbäumen, Birken, Schwarzkiefern, Espen und uralten Buchen, deren silberne Stämme von schrecklichen Wunden durch Metallsplitter der Übungsgeschosse gezeichnet sind.
Im Dickicht hausen Birkhuhn, Wildkatze, Hirsch, Reh, Fuchs und Wildschwein. Es gibt Feuchtbiotope, Buschflächen, Trockenwiesen und Urwald. Unter dem dicken Teppich aus rottendem Laub und Kiefernnadeln schlummern Überreste von Bunkeranlagen, die Gebeine von tausenden Häftlingen und alte Munition aus mehreren Jahrzehnten.
Rings um das Militärgelände warnen rostige Schilder »Achtung Lebensgefahr!« Für den Großen Tambuch, das finstere Herz des Waldes, gilt absolutes Betretungsverbot, denn dort liegt noch haufenweise alte Munition. Über Jahrzehnte war das Gebiet Hauptziel für Übungen mit Panzern und Haubitzen. Die verrosteten Blindgänger, Übungsgranaten und Patronen stecken tief im Erdreich, aber bei starkem, anhaltendem Regen werden sie manchmal an die Oberfläche gespült. Wenn in diesem Areal das Räumkommando der Bundeswehr arbeitet, wird täglich bis zu eine Tonne Munition geborgen.
Die meisten Bäume in diesem Abschnitt des Waldes haben Metallsplitter in den Stämmen, sodass das kostbare Buchenholz nicht verwendet werden kann, außer zur Brennholzgewinnung. Kein Sägewerk nimmt die Stämme an, weil die Metallsplitter jeder Säge den Garaus machen würden.
In meinem Kopf entsteht die Geschichte, das Puzzle setzt sich nach und nach zusammen. Im Internet recherchiere ich über Muschelkalk und finde Folgendes: »Das Niederschlagswasser versickert im Karst schnell in der porösen Oberflächenstruktur und in Spalten und Klüften. Beim Durchsickern der Gesteinsschichten wird immer mehr von dem Gestein durch das Wasser aufgelöst und abtransportiert. Dadurch entstehen natürliche Hohlräume, die sich bis zu großen Höhlen ausweiten können.«
Höhlen. Nun weiß ich, wo mein Waldjunge über lange Zeit hausen wird, ohne entdeckt zu werden.
Doch ich brauche noch mehr Informationen über die Flora und Fauna des Gebietes und über das Leben in den umliegenden Dörfern. Ich finde einen jungen Mann, der sich in der Gegend bestens auskennt. Wir treffen uns, es ist ein sonniger warmer Maitag und ich stiefele Stefan hinterher durchs Gelände. Vom Waldrand auf dem Hochplateau hat man einen herrlichen Blick auf die Wachsenburg – die einzige Stelle, an der man von oben auf die Burg herabschauen kann.
Von Stefan erfahre ich eine Menge über Raubwürger, Schnarrschrecken und Wölfe, denn mein Naturführer aus Arnstadt ist Wolfsexperte – ein unerwarteter Bonus an diesem lehrreichen Tag.
Zurück am Schreibtisch, habe ich alle Zutaten die ich brauche, um »Isegrim« zu schreiben. Der Roman erscheint im Herbst 2013.
Acht Monate später bekomme ich einen Anruf von Stefan. Er hat eine Wölfin am Rande des Ohrdrufer Truppenübungsplatzes gesichtet und fotografiert. Ganz vorbildlich hat die graue Jägerin sich auf »Wolfserwartungsland« niedergelassen, hat meinen Roman zu einem kleinen Teil wahr werden lassen.
Im Dickicht hausen Birkhuhn, Wildkatze, Hirsch, Reh, Fuchs Wildschwein und eine Wölfin.
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