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Jens Kirsten
Erstdruck: Thüringische Landeszeitung, 29.3.2014 / Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.
Läßt sich angesichts der Überfülle literarischer Texte aus und über die Weltliteraturhauptstadt Weimar überhaupt noch Neues entdecken? Ja, mit dem Band »Der bunte Spiegel. Erinnerungen 1890 bis 1933« von Max Osborn. Weimar wird darin zwar nur gestreift, aber mit bleibendem Eindruck. Max Osborn, 1870 in einer jüdischen Familie in Köln geboren, war der bekannteste Kunstkritiker der Weimarer Republik. Er veröffentlichte nahezu achtzig Bücher, ehe ihn die Nationalsozialisten 1933 ins Exil trieben. Lesenswert macht sein bislang in Deutschland ungedrucktes Erinnerungs-Buch die Lebendigkeit, mit der er zu schreiben verstand. Seine Künstlerporträts von Adolph Menzel, Max Liebermann, Max Slevogt, Max Klinger und vielen anderen Malern seiner Zeit zeigen nicht nur seine aufgeschlossene Geisteshaltung und sein literarische Können, sondern vermitteln lebendig das Bild einer ganzen Epoche.
Die »Kunstfahrt nach Sowjet-Rußland«, so der Titel eines Kapitels, gehört zu den eindrucksvollsten Passagen des Buches. 1923 reiste Osborn auf Einladung der sowjetischen Regierung nach Rußland, um sich und die Welt davon zu überzeugen, daß die russischen Revolutionäre keine Bilderstürmer waren. Osborn gerät angesichts dessen, was man in der Leningrader Eremitage und den Moskauer Kunstsammlungen zusammengetragen hat, nicht nur ins Schwärmen, sondern auf dem Weg durch die schier endlosen Kunsthallen an den Rand der physischen und geistigen Erschöpfung. Radikale Einschnitte erfolgten dann wenige Jahre später unter Stalins Herrschaft. Superlative begegnen ihm in der Umbruchszeit auch auf der Krim, als ihm ein Grundbesitzer auf die Frage, wieviele Schafe er sein eigen nenne, antwortete: »Ich kann nur sagen, daß ich etwas über 30.000 Schäferhunde habe«.
Osborns Erinnerungen beschränken sich jedoch nicht nur auf die Begegnungen mit Künstlern, die meist Bilder einer herzlichen Freundschaft sind. Bildende Kunst verband sich für Osborn wie selbstverständlich mit Theater, Tanz, Literatur und Musik. Unmöglich in der gebotenen Kürze alle literarischen Beziehungsknoten, die Osborn knüpft, aufzuzeigen. Ganz zu schweigen vom Anekdotischen. Ob Isadora Duncan, die schon deshalb Erwähnung verdient, weil sie einst die heiligen Bretter des Weimarer Hoftheaters mit nackten Füßen zu berühren wagte, Anna Pawlowna oder Grethe Wiesenthal als Tänzerinnen; der Dirigent Hans von Bülow, die Schriftsteller Erich Otto Hartleben, der auf ganz eigene Weise den Kopf verlor, Arno Holz, Johannes Schlaf – sie alle gehörten zum künstlerischen Leben des frühen 20. Jahrhunderts in Deutschland.
Nicht zu vergessen der österreichische Schauspieler Josef Kainz, der auf der Höhe seiner Karriere der vielleicht bekannteste und beste Schauspieler im deutschen Sprachraum war. Osborn widmet ihm ein eigenes Kapitel. Mit subtiler Verve zeichnet er das Porträt eines vielseitig begabten und charismatischen Künstlers. In Weimar wurde Osborn Zeuge einer mitternächtlichen Heldenanbetung im Hotel Elephant, wo Kainz und seine Freunde bei ihrer Ankunft ein sonderbar anmutender Gast ansprach: »Verzeihen Sie, meine Herrschaften, wenn ich mich hier aufhalte. Aber ich komme aus dem Theater und kann noch nicht schlafen gehen. Meine Herrschaften, ich bin nämlich ein nachgemachter Mensch. Und so bin ich von Apolda zu Fuss hierher gewandert, um Kainz zu sehen, Josef Kainz, Hoheit Kainz, Gott Kainz!«
1933 wurden die Werke von Max Osborn von den Nationalsozialisten verbrannt und er ins Exil getrieben, wo er 1946 in New York starb. Seine Erinnerungen erschienen 1945 in New York; nach nahezu 70 Jahren liegen sie nun erstmals im deutschen Sprachraum vor. Sie fügen sich ein in die Textur der »Memoria-Editionen« des Verlegers Thomas B. Schumann, der mit seinen Veröffentlichungen zur Exilliteratur einen literarischen Schatz nach dem anderen aus der Vergessenheit hebt und so gleichsam ein neues Licht auf die deutsche Literatur wirft.
Max Osborn, Der bunte Schleier. Erinnerungen 1890 bis 1933; Edition Memoria, Hürth bei Köln 2013; 29,80 €.
Abb. 1: unbekannter Fotograf, um 1938 / Abb. 2: unbekannter Fotograf, um 1900.
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