Harald Gerlach

Der Dich­ter und Thea­ter­mann Harald Ger­lach ent­wi­ckelte in dem spä­ten Pro­sa­text »Fort­ge­setzte Land­nahme oder Wo der Welt­krieg wirk­lich begann« (1997), der sich mit dem deut­schen Ver­ei­ni­gungs­pro­zess kri­tisch aus­ein­an­der­setzt, eine eigen­stän­dige dia­lek­ti­sche Erin­ne­rungs­stra­te­gie, die sich zumal auf den Umgang mit sei­ner künst­le­ri­schen Bio­gra­phie bezieht. Dabei unter­schied er zwi­schen der ers­ten Hei­mat Schle­sien, in der er 1940 gebo­ren wurde und die er mit den Eltern 1945 ver­las­sen musste, und der zwei­ten Hei­mat Thü­rin­gen, in der er fast ein hal­bes Jahr­hun­dert lebte und künst­le­risch höchst pro­duk­tiv wirkte – zunächst im süd­thü­rin­gi­schen Grab­feld, in Röm­hild, dann drei Jahr­zehnte in Erfurt und Rudol­stadt. Anfang der 1990er Jahre ver­ließ er seine zweite Hei­mat und zog nach Lei­men bei Heidelberg.

Hier ent­stand sein spä­tes lite­ra­ri­sches Werk, hier starb er 2001, wurde aber auf sei­nem Wunsch hin auf dem Fried­hof in Röm­hild bei­gesetzt. So war er in seine Hei­mat für immer zurück­ge­kehrt. Harald Ger­lachs Schaf­fen ist außer­or­dent­lich viel­sei­tig, es umfasst alle drei lite­ra­ri­schen Gat­tun­gen und bezieht seit Anfang der 1990er Jahre ver­schie­dene essay­is­ti­sche Genre mit ein. Dies führt zwi­schen 1991 und 2000, neben umfang­rei­chen lebens- und werk­ge­schicht­li­chen Dar­stel­lun­gen etwa zu Goe­the, Schil­ler und Heine, zu nahezu 100 lite­ra­ri­schen Sen­dun­gen zur deut­schen Kul­tur­ge­schichte für den Rund­funk. Dane­ben schreibt er Romane, Erzäh­lun­gen und Gedichte. Dra­ma­ti­sche Texte ent­ste­hen aller­dings nicht mehr, weil er das Thea­ter, das in sei­ner Erfur­ter und Rudol­städ­ter Zeit wohl im Zen­trum stand, als öffent­li­che Stätte gesell­schaft­lich ein­grei­fen­der Wir­kung inzwi­schen auf­ge­ge­ben hatte.

Das publi­zierte Werk Ger­lachs umfasst über 20 Bücher (Romane, Erzäh­lun­gen, Gedichte, Thea­ter­texte, Essays), die zwi­schen 1972 und 2004 erschie­nen, zunächst aus­schließ­lich im Auf­bau-Ver­lag Ber­lin und Wei­mar. Von den frü­hen Gedich­ten (1972) und den Geschich­ten aus dem Band »Ver­mu­tun­gen um einen Land­strei­cher« (1978) bis zu den spä­ten auto­bio­gra­phi­schen Roma­nen »Wind­stim­men« (1997) und »Blues Ter­rano« (2001) sind erin­ne­rungs­kul­tu­relle künst­le­ri­sche Inten­tio­nen bestim­mend, und zwar sowohl auf den Dich­ter selbst als auch auf seine wider­spruchs­volle geschicht­li­che Epo­che bezo­gen. Sie struk­tu­rie­ren seine lite­ra­ri­schen Werke, prä­gen ori­gi­nelle künst­le­ri­sche For­men aus. Dabei erwei­tern sich die natio­na­len und inter­na­tio­na­len Hori­zonte der mit dif­fe­ren­zier­ten lite­ra­ri­schen und sprach­li­chen Mit­teln dar­ge­stell­ten sub­jek­ti­ven Wirk­lich­keits­er­fah­run­gen im oft auch tra­gi­schen Span­nungs­feld von indi­vi­du­el­ler Frei­heit bean­spru­chen­dem künst­le­ri­schen Ich und die­ses ein­schrän­ken­der Welt. Ger­lachs Ver­ständ­nis als Künst­ler schärfte sich vor­nehm­lich auch in der Aus­ein­an­der­set­zung mit glei­cher­ma­ßen dis­po­nier­ten lite­ra­ri­schen Vor­bil­dern, mit sozia­len Außenseitern.

Das betrifft zunächst die Schrift­stel­ler der Auf­klä­rung Johann Peter Uz (1720–1796), über des­sen Auf­ent­halt in Röm­hild er die Novelle »Abschied von Arka­dien« (1988) schrieb, und beson­ders Johann Chris­tian Gün­ther (1695–1723). Das Schick­sal die­ses schle­si­schen Lyri­kers inspi­rierte Ger­lach zum Thea­ter­stück »Die Straße« (UA Erfurt 1979). Und das betrifft Chris­tian Diet­rich Grabbe (1801–1836) – dem neben Georg Büch­ner bedeu­tends­ten Dra­ma­ti­ker des Vor­märz – des­sen des­il­lu­sio­nie­ren­des Lust­spiel »Scherz, Satire, Iro­nie und tie­fere Bedeu­tung« die Vor­lage für ein Opern­li­bretto bil­dete, das Karl Otto­mar Treib­mann ver­tonte und das 1987 in Erfurt urauf­ge­führt wurde. Beide Insze­nie­run­gen waren kul­tur­po­li­tisch und künst­le­risch bri­sante Ereig­nisse in der erstarr­ten gesell­schaft­li­chen Rea­li­tät der DDR. Dass Harald Ger­lach indes­sen nicht nur die Eman­zi­pa­tion und Auto­no­mie des Künst­lers, son­dern aller Indi­vi­duen in ihrer Aus­ein­an­der­set­zung mit Raum (Hei­mat) und Zeit (Epo­che) the­ma­ti­sierte und pro­ble­ma­ti­sierte, lässt sein letz­ter Roman »Blues Ter­rano. Neue Wind­stim­men« (2001) erkennen.

Gerade wegen der Bedeut­sam­keit der bio­gra­phi­schen Ursprünge und Ent­wick­lun­gen für die Iden­ti­tät eines Indi­vi­du­ums gestal­tet er mit sen­si­bler poe­ti­scher Sub­jek­ti­vi­tät die anhal­tende Ver­un­si­che­rung des Ichs in den per­ma­nen­ten geschicht­li­chen Wand­lun­gen des aus­ge­hen­den 20. Jahr­hun­derts. Dass dabei in Figur und Hand­lung Ten­den­zen depri­mie­ren­der Welt­erfah­run­gen her­vor­tre­ten, die die Ver­wirk­li­chung der Ansprü­che des ein­zel­nen in Zwei­fel zie­hen, ver­weist auf den rigo­ro­sen kri­ti­schen Rea­lis­mus des Dichters.

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