Matthias Steinbach – »Also sprach Sarah Tustra. Nietzsches sozialistische Irrfahrten«

Personen

Friedrich Nietzsche

Dietmar Ebert

Ort

Weimar

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Dietmar Ebert

Alle Rechte beim Autor. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Nietz­sche in der DDR

Von Diet­mar Ebert

Mat­thias Stein­bach erzählt in sei­nem Buch kennt­nis­reich und unter­halt­sam, wie in der DDR Nietz­sches kri­ti­scher Geist zum Ver­stum­men gebracht wer­den sollte.

 

Mat­thias Stein­bach, seit 2007 Pro­fes­sor für Geschichte und Geschichts­di­dak­tik an der Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät Braun­schweig, wurde 1966 in Jena gebo­ren. Hier sind seine Wur­zeln, hier hat er stu­diert, wurde mit sei­ner quel­len­ge­sät­tig­ten Stu­die Des Königs Bio­graph. Alex­an­der Car­tel­lieri (1867–1955). His­to­ri­ker zwi­schen Frank­reich und Deutsch­land an der Fried­rich-Schil­ler-Uni­ver­si­tät Jena pro­mo­viert und habi­li­tierte sich dort mit sei­ner Arbeit Öko­no­mis­ten, Phil­an­thro­pen, Huma­ni­täre. Pro­fes­so­ren­so­zia­lis­mus in der aka­de­mi­schen Pro­vinz. Gemein­sam mit Uwe Dathe hat er die Tage­bü­cher Alex­an­der Car­tel­lie­ris 2014 im Münch­ner Olden­bourg Ver­lag herausgegeben.

Seine For­schungs­the­men sind breit gefä­chert. Kennt­nis­reich und unter­halt­sam spricht und schreibt er über Per­sön­lich­kei­ten, die im 19. und 20. Jahr­hun­dert gelebt und gewirkt haben. Die Dop­pel­stadt Jena-Wei­mar und dar­über hin­aus der gesamte mit­tel­deut­sche Raum haben immer im Fokus sei­nes For­schungs­in­ter­es­ses gestan­den. Für einen His­to­ri­ker sei­ner Genera­tion, der erlebt hatte, wie Nietz­sche zu Beginn sei­nes Stu­di­ums noch immer ver­femt war und sich wenige Jahre spä­ter durch seine Werke unge­heure geis­tige Wel­ten erschlos­sen, war es nur eine Frage der Zeit, um zu erkun­den, warum Nietz­sches Werke in der DDR bis zum Ende nicht erschie­nen sind. Meh­rere Jahre hat der His­to­ri­ker vor allem im Bun­des­ar­chiv Ber­lin-Lich­ter­felde, im Goe­the-Schil­ler-Archiv Wei­mar, in der Bun­des­be­hörde zur Auf­ar­bei­tung der Unter­la­gen des MfS und ande­ren Archi­ven recher­chiert, hat Zeit­zeu­gen befragt und ist mit sei­nem Kol­le­gen Michael Plo­e­nus und sei­nen Stu­den­ten nach Röcken, Naum­burg, Tau­ten­burg, Schul­pforta, Wei­mar und Jena gefah­ren. Sein Buch lebt von die­ser Metho­den­kom­bi­na­tion, und er scheut sich nicht, eigene Erin­ne­run­gen und Erfah­run­gen   ein­flie­ßen zu las­sen. Leicht wäre es gewe­sen, die Ein­sei­tig­kei­ten mar­xis­ti­scher Phi­lo­so­phen wie Georg Lukács, die Eng­stir­nig­keit und Hilf­lo­sig­keit von Kul­tur­po­li­ti­kern wie Alex­an­der Abusch und Kurt Hager zu beschrei­ben und zu ver­ur­tei­len, ganz zu schwei­gen von den ortho­gra­phi­schen Feh­lern infor­mel­ler und haupt­amt­li­cher Mit­ar­bei­ter des Minis­te­ri­ums für Staats­si­cher­heit, die eben keine „Ecker­manns“ waren, so dass aus dem Namen des ira­ni­schen Pries­ters und Phi­lo­so­phen Zara­thus­tra, der Nietz­sche zu sei­nem dich­te­risch-phi­lo­so­phi­schen Werk Also sprach Zara­thus­tra inspi­rierte, schon ein­mal eine Frau namens Sarah Tus­tra wurde, die wohl auch ein­mal „Also“ gesagt hat. Mat­thias Stein­bach geht es nicht um Ver­ur­tei­lun­gen ideo­lo­gi­scher Plat­ti­tü­den, son­dern darum, selbst zu ver­ste­hen und sei­nen Lesern ver­ständ­lich zu machen, wel­che Inter­es­sen­grup­pie­run­gen bestan­den, wer wel­che Vor­stöße unter­stützte oder durch­kreuzte und wie letzt­lich dar­aus kul­tur- und ver­lags­po­li­ti­sche Stra­te­gien oder Nicht-Stra­te­gien erwuch­sen. Nur wenn wir ver­ste­hen, wie kul­tur­his­to­ri­sche Pro­zesse ver­lie­fen, kön­nen wir sie wirk­lich begrei­fen und viel­leicht auch wer­ten. Die­ses Credo durch­zieht Mat­thias Stein­bachs Buch »Also sprach Sarah Tus­tra.« Nietz­sches sozia­lis­ti­sche Irr­fahr­ten, das im Sep­tem­ber 2020 im Mit­tel­deut­schen Ver­lag Halle erschie­nen ist.

 

 

Es ist eine Freude zu lesen, wie dif­fe­ren­ziert der Autor die Nietz­sche-Rezep­tion im Osten Deutsch­lands nach­ge­zeich­net hat. Nach 1945 galt Nietz­sche ähn­lich wie Richard Wag­ner als Weg­be­rei­ter des Natio­nal­so­zia­lis­mus. Dazu hatte Eli­sa­beth Förs­ter-Nietz­sche bei­getra­gen, als sie Benito Mus­so­lini und spä­ter Adolf Hit­ler im Nietz­sche-Archiv emp­fing und kurz vor ihrem Tode Hit­ler den Spa­zier­stock ihres Bru­ders schenkte. Die Nazis nutz­ten Teile von Nietz­sches Phi­lo­so­phie, um den „Über­men­schen“ in ihre Ideo­lo­gie zu integrieren.

Hatte es in der mar­xis­tisch inten­dier­ten Phi­lo­so­phie, Lite­ra­tur und Kunst bis 1933 eine dif­fe­ren­zierte Wer­tung von Nietz­sches Phi­lo­so­phie, beson­ders bei Wal­ter Ben­ja­min und Ernst Bloch gege­ben, so setzte sich nach 1945 Georg Lukács‘ Ver­dikt vom Weg­be­rei­ter des Faschis­mus, Irra­tio­na­lis­ten und Zer­stö­rer der Ver­nunft durch, das offi­zi­ell von Wil­helm Pieck, Otto Gro­te­wohl, Johan­nes R. Becher und Alex­an­der Abusch über­nom­men wurde. Zumin­dest Becher, der in sei­ner Jugend stark von Nietz­sche geprägt war und des­sen expres­sio­nis­ti­sche Gedichte vie­les der Sprach­ge­walt Nietz­sches zu ver­dan­ken hat­ten, mag einst über ein vor­ur­teils­lo­ses Nietz­sche-Bild ver­fügt haben, ehe er sich im Mos­kauer Exil der Über­macht von Georg Lukács‘ Phi­lo­so­phie und Ästhe­tik beugte.

In den 1950er Jah­ren war es vor allem Ernst Bloch, der als Ordi­na­rius an der Karl-Marx-Uni­ver­si­tät Leip­zig sei­nen Stu­den­ten ein dif­fe­ren­zier­te­res Bild des Phi­lo­so­phen Fried­rich Nietz­sche zu ver­mit­teln suchte. Wolf­gang Harich war bis zu sei­ner Ver­haf­tung im Novem­ber 1956 gemein­sam mit Ernst Bloch Her­aus­ge­ber der Deut­schen Zeit­schrift für Phi­lo­so­phie, war von Blochs bril­lan­ter Rhe­to­rik fas­zi­niert und ver­trat ähn­li­che phi­lo­so­phi­sche Posi­tio­nen wie der Leip­zi­ger Ordi­na­rius. Wäh­rend sei­ner Haft distan­zierte er sich – ver­mut­lich erzwun­ge­ner­ma­ßen – von ihm. In den 1970er und 1980er Jah­ren wird er zum selbst ernann­ten Strei­ter gegen jede Ver­öf­fent­li­chung von Schrif­ten und Gedich­ten Fried­rich Nietz­sches werden.

Stein­bach arbei­tet sehr genau her­aus, dass obwohl Nietz­sche in der kul­tur­po­li­ti­schen Öffent­lich­keit eine Per­sona non grata war, sich der Nach­lass Fried­rich Nietz­sches spä­tes­tens seit 1950 in einem gut geord­ne­ten Zustand befand. Er war hoch über der Ilm im Wei­ma­rer Goe­the-Schil­ler-Archiv für Besu­cher aus der BRD, der Schweiz, kurz für Nut­zer aus dem west­li­chen Aus­land ein­seh­bar. Wenn man so will, gab es in Sachen Nietz­sche-Nach­lass eine Art „aus­wär­ti­ger Kul­tur­po­li­tik“, die sich von der ideo­lo­gisch gepräg­ten „Innen­po­li­tik“ unter­schied. Doch auch Ordi­na­rien der DDR-Uni­ver­si­tä­ten wurde die Nut­zung von Tei­len des Nietz­sche-Nach­las­ses gestat­tet. Mat­thias Stein­bach hat einen Brief des Jenaer Phi­lo­so­phie-Pro­fes­sors Georg Mende vom 19. März 1963 ent­deckt, in dem er Archiv­di­rek­tor Wolf­gang Hahn darum bit­tet, sich 14 Tage in Wei­mar ein­quar­tie­ren zu dür­fen, um in den „bis­her sekre­tier­ten Bestän­den“ Stu­dien zu trei­ben und der Wir­kungs­ge­schichte von Nietz­sches Phi­lo­so­phie nach­zu­spü­ren. Er bit­tet um einen sepa­rier­ten Arbeits­raum, weil er nicht arbei­ten könne ohne zu rau­chen. Das wurde ihm groß­zü­gig gewährt. Georg Mende hatte schon 1962 Erich F. Podachs Nietz­sches Werke des Zusam­men­bruchs in der Deut­schen Zeit­schrift für Phi­lo­so­phie rezen­siert und 1965 im 8. Band des Urana­nia-Uni­ver­sums ein fik­ti­ves Gespräch zwi­schen Nietz­sche und dem Arbei­ter­phi­lo­so­phen Joseph Dietz­gen ver­öf­fent­licht. Auch wenn Dietz­gen als Ver­tre­ter der „his­to­ri­schen Wahr­heit“ figu­riert und Nietz­sche als sich irren­der Phi­lo­soph dar­ge­stellt wird, Georg Mende hat sich die Quel­len ange­schaut und nahm Nietz­sche ernst.

Zu Beginn der 1960er Jahre begann mit Mazzino Mon­ti­nari und Gior­gio Colli eine Arbeit im Wei­ma­rer Nietz­sche-Archiv, die sich über Jahre erstreckte. Beide waren Mar­xis­ten und bis zu einem gewis­sen Grade Sym­pa­thi­san­ten der DDR. Colli und Mon­ti­nari glaub­ten – so Stein­bach- an Nietz­sche als „einen Anti­fa­schis­ten und Revo­lu­tio­när, des­sen gan­zes Leben und Den­ken erst von sei­ner Schwes­ter mit ver­hee­ren­den Fol­gen ver­zeich­net und fehl­ge­lei­tet wor­den war.“ Durch Zer­le­gung des Wil­lens zur Macht in des­sen Ein­zel­teile sollte Nietz­sches Den­ken gleich­sam „des­in­fi­ziert“ wer­den. Zunächst plan­ten beide „nur“ eine ita­lie­ni­sche Nietz­sche-Aus­gabe. Je län­ger aller­dings Mon­ti­nari Fried­rich Nietz­sches Nach­lass durch­fors­tete, desto stär­ker wurde die Erkennt­nis, dass es einer Kri­ti­schen Stu­di­en­aus­gabe und letzt­lich einer Kri­ti­schen Gesamt­aus­gabe der Werke Fried­rich Nietz­sches bedurfte, die vor allem in deut­scher Spra­che erschei­nen musste. Mon­ti­nari gelang es schließ­lich in Abspra­che mit Colli, den West­ber­li­ner Ver­lag de Gruy­ter und spä­ter die Euro­päi­sche Ver­lags­an­stalt für die­ses ambi­tio­nierte Unter­neh­men zu gewinnen.

Mazzino Mon­ti­nari hat mit sei­ner Quel­len­for­schung und sei­nen Tran­skrip­ti­ons­ar­bei­ten eine wahre Her­ku­les­ar­beit geleis­tet. Er wurde sowohl vom Lei­ter der Natio­na­len For­schungs- und Gedenk­stät­ten, Hel­mut Holtz­hauer,  als auch vom Archiv­di­rek­tor Wolf­gang Hahn in sei­ner Arbeit sehr unter­stützt. Frei­lich fand sie hin­ter ver­schlos­se­nen Türen statt. Öffent­li­che Vor­träge waren selbst für Mit­ar­bei­ter der Natio­na­len For­schungs- und Gedenk­stät­ten nicht vor­ge­se­hen. In Dos­siers eines infor­mel­len Mit­ar­bei­ters wird Mon­ti­nari als genauer, beschei­de­ner For­scher beschrie­ben, der stän­dig die „Unita“ und das „Neue Deutsch­land“ liest und 1965 eine Foto­la­bo­ran­tin aus Wei­mar gehei­ra­tet hat.

 

Fried­rich Nietz­sche, 1869. Foto: Ate­lier Gebrü­der Siebe, Leipzig.

 

Mit ihrer Kri­ti­schen Nietz­sche-Aus­gabe hat­ten Gior­gio Colli und Mazzino Mon­ti­nari erreicht, dass sie ab Mitte der 1970er Jahre zur Stan­dard-Aus­gabe in West­eu­ropa wurde und damit die inter­na­tio­nale Nietz­sche-For­schung vor neuen Her­aus­for­de­run­gen stand. Das erhöhte auch das Renom­mee des Goe­the-Schil­ler-Archivs, das den bei­den For­schern, vor allem Mon­ti­nari, sehr gute Arbeits­be­din­gun­gen gewährt hatte. Zugleich konn­ten die klügs­ten Köpfe unter den Phi­lo­so­phen der DRR erken­nen, dass nun end­lich auch für sie die Zeit gekom­men war, um in eine inter­na­tio­nale Debatte über Nietz­sches Werke einzugreifen.

Zu ihnen gehörte neben Renate Reschke der Phi­lo­soph Fried­rich Tom­berg. Er war einer der Phi­lo­so­phen, der von der Stu­den­ten­be­we­gung akzep­tiert wurde, hatte sich mit Wolf­gang Fritz Haug im Umkreis der Zeit­schrift Das Argu­ment für einen kri­ti­schen Mar­xis­mus ein­ge­setzt und eine Pro­fes­sur an der Päd­ago­gi­schen Hoch­schule in Ber­lin (West) inne.

Mit­ar­bei­ter der von Mar­kus Wolf gelei­te­ten Haupt­ab­tei­lung Auf­klä­rung hat­ten Kon­takte zu dem kri­ti­schen Mar­xis­ten auf­ge­nom­men. Stein­bach schreibt: „Sub­stan­ti­elle Arbeit für die Behörde leis­tete Tom­berg nie. Nur schien der elo­quente Links­sym­pa­thi­sant Wolfs Män­nern für einen kul­tur­po­li­ti­schen Neu­an­fang nach erhoff­ter Beset­zung West­ber­lins inter­es­sant, etwa als ein vom Osten diri­gier­ter Prä­si­dent der Freien Uni­ver­si­tät. Als der Dop­pel­agent Wer­ner Stil­ler Anfang 1979 in die Bun­des­re­pu­blik floh und aus­packte, stand Tom­berg plötz­lich auf einer Liste tat­säch­li­cher wie mut­maß­li­cher Agen­ten und war nolens volens gefähr­det. Die Bedro­hung war durch­aus real, und so lan­dete er schließ­lich aus Angst und Hoff­nung in der DDR.“ Mit­ten in der aka­de­mi­schen Pro­vinz, denn er über­nahm an der Fried­rich-Schil­ler-Uni­ver­si­tät Jena einen Lehr­stuhl für bür­ger­li­che Phi­lo­so­phie. Das war für seine Kol­le­gen, Assis­ten­ten und Stu­den­ten ein Glück. Mit uns Assistent*innen der Sek­tion Lite­ra­tur- und Kunst­wis­sen­schaft übte er die Lek­türe von Mar­xens Kapi­tal ein und lehrte uns die Sub­stanz bür­ger­li­cher Kul­tur­phi­lo­so­phie zu erschlie­ßen, ohne gleich die ideo­lo­gi­sche Keule zu schwin­gen. Mit Fried­rich Tom­berg begann phi­lo­so­phi­sches Den­ken zum Ver­gnü­gen zu wer­den. Mat­thias Stein­bach gelingt mit dem Kapi­tel über Fried­rich Tom­bergs Wir­ken in Jena und sei­nen Ein­satz für Fried­rich Nietz­sche ein beson­ders leben­di­ger Text, denn er hat den heute 88jährigen Phi­lo­so­phen inter­viewt. Tom­berg kann sich noch sehr genau erin­nern und zieht eigene, bis­lang unver­öf­fent­lichte Texte für seine Erin­ne­run­gen heran. Er erin­nert sich, dass sein Lehr­ge­biet die gesamte spät­bür­ger­li­che Phi­lo­so­phie war, er aber in der Lehre beson­ders die Phi­lo­so­phie seit Scho­pen­hauer bis zur aktu­el­len west­li­chen Phi­lo­so­phie ver­tre­ten habe. Dazu gehörte natür­lich auch die Phi­lo­so­phie Fried­rich Nietz­sches. Zu Beginn der 1980er Jahre rief ihn die Chef­lek­to­rin des Leip­zi­ger Reclam-Ver­lags an und fragte ihn, ob er nicht ein Bänd­chen mit Nietz­sche-Tex­ten her­aus­ge­ben wolle. Der Ver­lags­chef, Hans Mar­quardt, hatte damals „grü­nes Licht“ gege­ben. Eben­falls im Reclam-Ver­lag sollte Renate Reschke, die sich an der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät über Nietz­sche habi­li­tiert hatte, des­sen Fröh­li­che Wis­sen­schaft her­aus­ge­ben. Tom­berg ent­schied sich gegen eine „bunte Mischung“ und für die  Unzeit­ge­mä­ßen Betrach­tun­gen. „Ich dachte“, so Fried­rich Tom­berg, „es sei am ehes­ten für die DDR trag­bar, wenn der anfäng­li­che Nietz­sche vor­ge­stellt würde – mit einer in sich zusam­men­hän­gen­den Text­samm­lung, der seine ursprüng­li­chen und zumin­dest unter­grün­dig fort­lau­fen­den Inten­tio­nen klar ent­nom­men wer­den konnten.“

Zunächst war das Pro­jekt auf gutem Wege, aller­dings gab es Pro­bleme mit Tom­bergs Vor­wort, die er durch eine Kom­pro­miss-For­mu­lie­rung aus der Welt schaf­fen wollte. Letzt­lich erschie­nen die Unzeit­ge­mä­ßen Betrach­tun­gen nicht. Ob Wolf­gang Harich inter­ve­niert hatte oder ob das nega­tive Ver­lags­gut­ach­ten des „Chef-Phi­lo­so­phen“ Man­fred Buhr den Aus­schlag gab, lässt sich nicht mehr genau rekon­stru­ie­ren. Fried­rich Tom­bergs Ver­lags­pro­jekt bei Reclam schei­terte, sein Vor­wort blieb ebenso in der Schub­lade wie ein Text über Nietz­sches Geschichts­den­ken, den er für das Jenaer Klas­sik-Semi­nar ver­fasst hatte.

 

 

Über­schaut man die Lite­ra­tur­ent­wick­lung des 19. und 20. Jahr­hun­derts, so wird deut­lich, dass Fried­rich Nietz­sches Sprach­ge­walt, seine Apho­ris­men und seine Lyrik die Lite­ra­tur und Musik des 20. Jahr­hun­derts stark geprägt haben. Georg Trakl, Gott­fried Benn, Johan­nes R. Becher, kurz der ganze Expres­sio­nis­mus, sind ohne die Spreng­kraft von Nietz­sches Spra­che nicht zu den­ken. Die lite­ra­ri­sche, viel­stim­mige und apho­ris­ti­sche Art sei­nes Den­kens pro­vo­zierte glü­hende Ver­eh­rung und radi­kale Ableh­nung. Georg Lukacs‘ unter­schied mit sei­nem Plä­doyer für eine sys­te­ma­ti­sche Phi­lo­so­phie und einen Tota­li­täts­be­griff in der Ästhe­tik zwei Rich­tun­gen  in der Phi­lo­so­phie und Kunst des 19. und 20. Jahr­hun­derts , die ver­nunft­ge­lei­tete und die zur Zer­stö­rung der Ver­nunft füh­rende, deren exem­pla­ri­scher Ver­tre­ter für Lukács Nietz­sche war. Wal­ter Ben­ja­mins Auf­nahme des Brie­fes von Franz Over­beck an Fried­rich Nietz­sche, geschrie­ben am Oster­sonn­tag 1883, in seine  Brief-Antho­lo­gie Deut­sche Men­schen (1936) wirkt wie eine indi­rekte Kri­tik an den Pos­tu­la­ten des unga­ri­schen Phi­lo­so­phen. Auch Tho­mas Mann, den das Nicht-Ein­deu­tige, das Schil­lernde und Apho­ris­ti­sche in Nietz­sches dich­te­ri­scher Phi­lo­so­phie fas­zi­nierte, hat nie ein Hehl dar­aus gemacht, dass er Georg Lukács‘ Sicht auf Nietz­sche für ein­sei­tig hielt. Das wusste natür­lich ein so klu­ger Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler wie Eike Mid­del in Leip­zig, der in Tho­mas Manns Nietz­sche-Rezep­tion eine Mög­lich­keit sah, Nietz­sches Werke für einen lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lich-phi­lo­so­phi­schen Dis­kurs zu erschließen.

Im Bereich der Künste, spe­zi­ell in der Lite­ra­tur und im Film, hatte 1971 eine leichte „Tau­wet­ter­pe­ri­ode“ ein­ge­setzt, und Ste­phan Hermlin hatte bereits 1972 bei Hon­ecker einen Vor­stoß gewagt, um den Lite­ra­ten Nietz­sche vor dem Phi­lo­so­phen Nietz­sche zu „ret­ten“. Das schei­terte aller­dings am Veto von Peter Hacks. 1976 nahm Hermlin Nietz­sches Gedicht An den Mis­tral. Ein Tanz­lied in sein Deut­sches Lese­buch auf und plat­zierte es zwi­schen Briefe Fon­ta­nes und Gedichte aus Rai­ner Maria Ril­kes Stun­den­buch. Wenig spä­ter erschien im Han­ser-Ver­lag eine Lizenz-Aus­gabe, die von Chef­kri­ti­ker Mar­cel Reich-Rani­cki und dem His­to­ri­ker Golo Mann aus­ge­spro­chen posi­tiv auf­ge­nom­men wurde. In der DDR war es Wolf­gang Harich, der sich gegen Hermlins Auf­nahme des Nietz­sche-Gedichts An den Mis­tral wandte. Ihm war ver­mut­lich klar: Wenn sich einer der ange­se­hens­ten Dich­ter der DDR, der zudem als Freund Erich Hon­eckers galt, für Nietz­sches Dich­tung ein­setzte, dann hätte das zu einem Damm­bruch füh­ren kön­nen und wei­tere Werke von oder über Fried­rich Nietz­sche hät­ten in der DDR erschei­nen können.

Mat­thias Stein­bach stellt klar und prä­zise die Frage, warum in den 1980er Jah­ren, als sich die DDR für das Erbe Luthers, Fried­rich II. und Otto von Bis­marcks öff­nete, kein Platz für Fried­rich Nietz­sches Werke in der Erbe­po­li­tik der SED war. Außer einer Fak­si­mile-Aus­gabe von Ecce homo, die Wolf­gang Harich im Schau­fens­ter der Brecht-Buch­hand­lung in der Chaus­see­straße ent­deckte, einen Tob­suchts­an­fall bekam und einen Volks­po­li­zis­ten auf­for­derte, das Buch aus dem Schau­fens­ter zu ent­fer­nen, ist kein wei­te­res Werk von ihm in der DDR erschie­nen. Stein­bach weist anhand einer Viel­zahl von Quel­len nach, dass die Spur des Ver­hin­derns immer wie­der zu Wolf­gang Harich führt. Ob es die geplan­ten Nietz­sche-Aus­ga­ben von Renate Reschke und Fried­rich Tom­berg, ob es die Briefe Wolf­gang Harichs an Ste­phan Hermlin, ob es die gesamte Debatte in Sinn und Form in den Jah­ren 1986 bis 1988 oder die Behin­de­rung von Heinz Malor­nys  Buch Zur Phi­lo­so­phie Fried­rich Nietz­sches waren, das erst im Herbst 1989 völ­lig unbe­ach­tet in die Buch­hand­lun­gen kam, immer war es Wolf­gang Harich, der als selbst ernann­ter Zen­sor und kul­tur­po­li­ti­scher Bera­ter Nietz­sches Schrif­ten mit immer absur­der wer­den­den Mit­teln  bekämpfte und letzt­lich ins Nichts ver­dammte, so wie es Brecht einst mit dem römi­schen Feld­herrn Lukul­lus getan hatte. Woher kamen die­ser Furor, diese radi­kale Ableh­nung und diese Maß­lo­sig­keit sei­ner Aus­fälle gegen jedes Nietz­sche-Zitat? Mat­thias Stein­bach bringt eine Fülle von Bei­spie­len, mit wel­chem Auf­wand und tak­ti­schem Geschick Harich alle ver­un­si­chert hat, die sich für Nietz­sches Schrif­ten ein­set­zen woll­ten. Zumeist brachte er Kurt Hager, Kul­tur­mi­nis­ter Hans-Joa­chim Hoff­mann und „Bücher­mi­nis­ter“ Klaus Höp­cke mit sei­nen Brie­fen in aus­weg­lose „Zwick­müh­len“. Die Folge waren fast immer rigi­dere kul­tur­po­li­ti­sche Sank­tio­nen und ein Auf-Eis-Legen aller Pro­jekte, die ein dif­fe­ren­zier­te­res Nietz­sche-Bild zum Ziel hat­ten. Anders ver­hiel­ten sich die Schrift­stel­ler.  Ste­phan Hermlin nutzte das Forum des Schrift­stel­ler­kon­gres­ses 1987, um sich gegen Wolf­gang Harichs Vor­würfe zur Wehr zu set­zen, und selbst Ver­bands­prä­si­dent Her­mann Kant warf Harich „Pol­po­te­rie“ vor. Also gerade zu der Zeit, zu der eine vor­sich­tige Öff­nung in Sachen Nietz­sche mög­lich gewe­sen wäre und Jür­gen Tel­ler im Kul­tur­mi­nis­te­rium für eine kleine museale Nietz­sche-Gedenk­stätte in Wei­mar warb, ver­suchte Harich alles in sei­nen Kräf­ten Ste­hende, um das zu ver­hin­dern. Er spielte die „Ange­le­gen­heit Nietz­sche“ nach und nach zum „Prüf­stein“ aller Ver­nunft und jeg­li­chen guten Wil­lens hoch und machte letzt­lich „Nietz­sches Den­ken über den Faschis­mus- und Impe­ria­lis­mus­be­zug hin­aus zum neur­al­gi­schen Punkt für die Über­le­bens­frage der Mensch­heit im Atom­zeit­al­ter über­haupt.“ Fried­rich Dieck­mann hat Harichs Den­ken in einem Auf­satz in Sinn und Form 2/2020 Kai­ros-Ver­ken­nung attes­tiert. In der Tat scheint Harich die Zei­chen der Zeit in der zwei­ten Hälfte der 1980er Jahre nicht erken­nen zu kön­nen. Fried­rich Dieck­mann, der schreibt, Harich als klu­gen Kopf geschätzt, aber nie mit ihm über Nietz­sche gespro­chen zu haben, erklärt sich des­sen Hal­tung zu Nietz­sche so, dass Harich wäh­rend der Haft­zeit zusam­men­ge­bro­chen sei und sich in einer Art vor­aus­ei­len­der Reue die Ansich­ten der ihn ver­hö­ren­den Offi­ziere zu eigen gemacht und lebens­lang ver­tre­ten habe. Zudem habe er in Nietz­sches Den­ken das bekämpft, was ihn als jun­gen Mann fas­zi­niert habe, ja, sein spä­ter Kampf gegen Nietz­sche wirke wie der gegen sein jugend­li­ches Alter Ego. Das heißt, liest man im Lichte Arthur Koest­lers und Manes Sper­bers Harichs wütende, absurde Angriffe auf Nietz­sches Phi­lo­so­phie und Lite­ra­tur, so wird Wolf­gang Harich zum Zen­sor sei­nes eige­nen Denkens.

 

 

Doch jede Lese­rin und jeder Leser mag sich ein eige­nes Bild for­men und aus der Mate­ri­al­fülle schöp­fen, die Mat­thias Stein­bach in sei­nem Buch aus­ge­brei­tet hat. Dazu gehört, dass er nicht nur aka­de­mi­sche, kul­tur- und ver­lags­po­li­ti­sche Debat­ten nach­zeich­net, son­dern auch durch Inter­views und Gesprä­che auf Exkur­sio­nen recher­chiert, wie Rei­ner Boh­ley sich am Kate­che­ti­schen Ober­se­mi­nar in Naum­burg um Nietz­sche bemühte, wie der Biblio­theks­lei­ter in Schul­pforta vor­sich­tig an den eins­ti­gen Schü­ler erin­nerte und wie der Tau­ten­bur­ger Tisch­ler Hah­ne­mann 1978 von der Dorn­bur­ger Bür­ger­meis­te­rin und dem Vor­sit­zen­den der Natio­na­len Front ein Schrei­ben bekam, in dem er auf­ge­for­dert wurde, die Tafel, die am Haus sei­nes Groß­va­ters an den berühm­ten Gast erin­nerte, abzu­schrau­ben. Er tat es, hob die Tafel gut auf und schraubte sie 1988 wie­der an. Kai­ros-Erken­nung hätte das Fried­rich Dieck­mann wohl genannt. Ger­hard Schau­mann, eme­ri­tier­ter Sla­wis­tik-Pro­fes­sor der Jenaer Uni­ver­si­tät und Nietz­sche-Ken­ner hat Stein­bachs Stu­den­ten viel über den Som­mer 1882 erzählt, den Nietz­sche mit Lou Salome in Tau­ten­burg ver­bracht hat.

In einem beson­de­ren Kapi­tel Nietz­sche unter Röcken erzählt der Autor von den Besu­chern an Nietz­sches Grab in des­sen Hei­mat­ort Röcken. Vie­les konn­ten ihm die Pfar­rer berich­ten, man­ches fand sich in den Akten. In den 1970er und 1980er Jah­ren tra­fen sich Nietz­sche-Ver­eh­rer an Nietz­sches Todes­tag, dem 25. August, der zugleich Erich Hon­eckers Geburts­tag war, am Grab des Phi­lo­so­phen. Meist sprach Rolf Schil­ling, „vor­mals Dozent für Mar­xis­mus-Leni­nis­mus, dann Abweich­ler, Dis­si­dent, Par­tei­feind, lite­ra­ri­scher Aus­stei­ger [und] heute freier Schrift­stel­ler“, der den real exis­tie­ren­den Sozia­lis­mus ebenso ablehnte wie die west­li­che bür­ger­li­che Gesell­schaft. IM Asker, ein Kin­der­buch­au­tor, berich­tete aus­führ­lich und nicht  ohne Sym­pa­thie für Schil­ling von die­sen Reden und Tref­fen, und Haupt­mann Stür­mer hatte seine liebe Not mit der Ver­schrift­li­chung der Tonbandprotokolle.

Die Pfar­rer und die Kirch­ge­meinde in Röcken bemüh­ten sich, den Ver­fall der Röcke­ner Kir­che auf­zu­hal­ten. Das Röcke­ner Pfarr­haus als Geburts­haus Fried­rich Nietz­sches und die Grab­stätte der Fami­lie Nietz­sche beka­men per Urkunde durch einen Beschluss des Rates des Krei­ses Wei­ßen­fels 1982 den Denk­mal­sta­tus zuer­kannt. Ver­mut­lich ein Beschluss im Wind­schat­ten der Ber­li­ner Kul­tur­po­li­tik. Geld war damit nicht ver­bun­den. Aber es war ein Licht­blick für den dama­li­gen Röcke­ner Pfar­rer Kurt Stauss und für Rai­ner Boh­ley, der 1982 mit der Mag­de­bur­ger Gemeinde eine streng über­wachte Kon­fe­renz unter dem Titel Der miss­brauchte Phi­lo­soph – Wie­der­ent­de­ckung von Fried­rich Nietz­sche organisierte.

Es ist die Fülle des Mate­ri­als, die Mat­thias Stein­bachs Buch so anre­gend wir­ken lässt, es ist die Viel­falt der Metho­den, die er kom­bi­niert hat, und es ist vor allem die Span­nung, die er erzeugt und der unter­halt­same, nie­mals beleh­rende Ges­tus sei­nes Erzäh­lens, die die Lek­türe sei­nes Buches zum Erleb­nis wer­den las­sen. Er lässt einen Teil der DDR-Kul­tur­ge­schichte als Feld sich über­schnei­den­der, teils durch­kreu­zen­der Inter­es­sen erste­hen. Als Leser fühlt man sich in die Recher­chen ein­be­zo­gen und sagt sich am Ende: Was für ein absur­der Auf­wand, um einen vita­len Geist öffent­lich zum Ver­stum­men zu brin­gen, einen Geist, der doch immer leben­dig blei­ben wird!

  • Mat­thias Stein­bach: »Also sprach Sarah Tus­tra. Nietz­sches sozia­lis­ti­sche Irr­fahr­ten«, Mit­tel­deut­scher Ver­lag, Halle (Saale) 2020, 268 Seiten.
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