Christa und Gerhard Wolf in Bad Frankenhausen
4 : Die ehemalige Schule

Personen

Christa Wolf

Gerhard Wolf

Ort

Bad Frankenhausen

Themen

Thüringen im Nationalsozialismus

Von 1945 bis zum Ende der DDR

Gegenwart

Weibliche Perspektiven

Autor

Peter Braun und Martin Straub

Die Exkursion entstand im Rahmen eines Projekts der Literarischen Gesellschaft Thüringen e.V.

Die Schule, die Ger­hard Wolf und Christa Ihlen­feld besuch­ten, liegt im Zen­trum der Stadt, am Anger 1. Heute ist in dem ehe­ma­li­gen Schul­ge­bäude das Alten­pfle­ge­heim »Haus Wilma« unter­ge­bracht. Auch in der Schule suchte Christa Ihlen­feld nach Halt und Ori­en­tie­rung. Beson­de­ren Ein­fluss übte in die­ser Hin­sicht ihr Mathe­ma­tik­leh­rer Erwin Dewald, zugleich Direk­tor der Schule, auf sie aus. Noch in ihrem Roman Stadt der Engel oder The Over­coat of  Dr. Freud , erin­nert sich Christa Wolf an die­sen Leh­rer, der ihr diese revo­lu­tio­nä­ren Schrif­ten emp­foh­len  hatte und nicht ohne Wohl­ge­fal­len bemerkt, wie es dir ein­leuch­tete, daß die Welt nicht immer nur inter­pre­tiert, son­dern daß sie von Grund auf ver­än­dert wer­den mußte, und er hatte ohne zu zögern die Bürg­schaft über­nom­men, als du dich ent­schlos­sest, der Par­tei bei­zu­tre­ten, die eben diese Ver­än­de­run­gen ja in ihrem Pro­gramm hatte.

Sonja Hil­z­in­ger weist in ihrer lesens­wer­ten Dop­pel­bio­gra­phie zu Christa und Ger­hard Wolf dar­auf hin, dass der Dozent Erwin Schwar­zen­bach, eine Figur in Der geteilte Him­mel  aus dem Jahr 1962, Züge von Erwin Dewald trägt. Schwar­zen­bach ist der­je­nige, der die Haupt­fi­gur des Romans, Rita Sei­del, für ein Stu­dium am Leh­rer­bil­dungs­in­sti­tut wirbt. Im Gegen­satz zu dog­ma­ti­schen und see­len­lo­sen Par­tei­ar­bei­tern ist er vol­ler Empa­thie für den ande­ren. Aller­dings ver­schwieg sein rea­les Vor­bild Dewald, dass er Mit­ar­bei­ter in Goe­b­bels‹ Pro­pa­gan­da­mi­nis­te­rium war. Er wurde, erin­nert sich Christa Wolf in Stadt der Engeldegra­diert und an eine kleine Land­schule ver­setzt. Und sie resü­miert: Du aber, so sehr dich diese Nach­richt traf, nahmst kei­nen Augen­blick an, daß er euch, daß er dich betro­gen hatte, indem er selbst an die Leh­ren nicht glaubte, die er dir anemp­fahl, oder  daß er an die Wahn­sinns­leh­ren sei­ner ehe­ma­li­gen Dienst­her­ren geglaubt hatte.

Weni­ger als Christa Wolf habe er, Ger­hard Wolf, über die Lek­türe der theo­re­ti­schen Schrif­ten zum Sozia­lis­mus gefun­den. Für ihn sei, so sagt er in unse­rem Gespräch, die Lite­ra­tur sehr viel wich­ti­ger gewe­sen und nennt u.a. Theo­dor Plie­vier und sei­nen doku­men­ta­ri­schen Roman Sta­lin­grad. Ein Buch indes ist für beide beson­ders wich­tig. Es sticht aus den Lek­tü­ren der Zeit her­aus: Das siebte Kreuz von Anna Seg­hers. Für Christa Wolf blieb sie Zeit ihres Lebens eine wich­tige Autorin. Spä­ter wur­den sie Freun­din­nen, tausch­ten Briefe und Christa Wolf setzte sie sich immer wie­der schrei­bend mit ihrem Werk aus­ein­an­der. So heißt es in einem essay­is­tisch gehal­te­nen Nach­wort zu dem Roman aus dem Jahr 1963, sich an die Schul­zeit in Bad Fran­ken­hau­sen erinnernd:

Ich sehe noch in der alt­mo­di­schen Hand­schrift mei­ner alten Leh­re­rin, den merk­wür­di­gen Namen und den merk­wür­di­gen Titel an unse­rer Schul­ta­fel ste­hen: Anna Seg­hers, Das siebte Kreuz. Wir wur­den – das muß 1948 gewe­sen  sein – gebe­ten nach Goe­the und Rilke nun auch dies durch­zu­neh­men, da es heut­zu­tage nun ein­mal sein müsse. Ohne Vor­be­halte, wenn man bit­ten dürfte. Ich sehe noch den schnell zer­fled­der­ten Rowohlt-Rota­ti­ons­druck, den wir dann wirk­lich lasen. – Was aber lasen wir? Die atem­be­rau­bende Geschichte der Flucht eines Men­schen, eines Kom­mu­nis­ten. Wir wünsch­ten die­sem Flücht­ling das Gelin­gen der Flucht – man konnte nicht anders. Gleich­zei­tig wun­der­ten wir uns: Glaub­ten wir doch, das zu ken­nen, was in jenen Jah­ren Deutsch­land gewe­sen war; wir hiel­ten unsere kind­li­che Erin­ne­rung damals noch für zuver­läs­sig. Sollte also unter der glat­ten, uns oft glück­lich erschei­nen­den Ober­flä­che ein sol­cher Heis­ler, soll­ten viele sei­nes­glei­chen um ihr Leben gelau­fen sein, viel­leicht an uns vor­bei? Und hat­ten die ande­ren, die Erwach­se­nen, ihn auf­ge­nom­men – ihn aus­ge­lie­fert? Die Fra­gen, die uns das Buch ein­gab, hin­gen eng mit unse­ren ande­ren Fra­gen aus jener Zeit zusam­men. Sie drück­ten uns so, sie dräng­ten sich vor, daß wir weit ent­fernt waren, die­ses Buch wirk­lich zu erken­nen und zu ver­ste­hen. Außer­dem: um ein Buch rich­tig schät­zen zu kön­nen, muß man viele gute Bücher gele­sen haben. Auch davon waren wir weit ent­fernt. Doch die Frage, was in unse­rem Volk leben­dig, gesund und wand­lungs­fä­hig geblie­ben sei, war direkt an uns gerich­tet.

Wir dan­ken Ger­hard Wolf für das Gespräch, das im März 2013 statt­ge­fun­den hat. Damals berei­te­ten wir eine lite­ra­ri­sche Stadt­wan­de­rung in Bad Fran­ken­hau­sen auf den Spu­ren von Christa und Ger­hard Wolf vor, die von der „Lite­ra­ri­schen Gesell­schaft Thü­rin­gen“ initi­iert und unter­stützt wurde.

 

Wei­ter­füh­rende Literatur:

  • Sonja Hil­z­in­ger: Christa und Ger­hard Wolf. Gemein­sam gelebte Zeit. Ber­lin: VBB-Ver­lag, 2014.
  • Jana Simon: Sei den­noch unver­zagt. Gesprä­che mit mei­nen Groß­el­tern Christa und Ger­hard Wolf. Ber­lin: Ull­stein, 2013.

 Christa und Gerhard Wolf in Bad Frankenhausen:

  1. Schloss Rathsfeld (einschließlich des Barbarossa-Denkmals)
  2. Hermann-Hedrich-Heim und das ehemalige Wohnhaus der Familie Ihlenfeld
  3. Die Unterkirche
  4. Die ehemalige Schule
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