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Wulf Kirsten
Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Montag, 7. April: Von Dresden nach Meißen mit der S‑Bahn, mit dem Bus nach Riemsdorf. Dort hatte ich Quartier bestellt. Ich war der einzige Hotelgast.
Von Meißen nichts gesehen. Der Gang durch den Bahnhof niederschmetternde Trostlosigkeit. Scheußlich war er schon immer, solange ich mich erinnern kann. 1950 begann ich nebenan, Großenhainer Str. 7, in der Bäckergenossenschaft eine kaufmännische Lehre. Nun herrscht vor allem Leere. Kein Schalter mehr geöffnet.
Eine halbe Stunde Aufenthalt. Über den Ratsweinberg gelaufen. Weiss nicht mal mehr genau, in welchen der beiden Kästen ich die Schule besuchte 1948–1950, wohl aber, was sich dort abspielte.
Riemsdorf in einer Gottverlassenheit, immerhin mit Busstation. Mein Bus fuhr nach Tanneberg. So gut wie keine Fahrgäste. Also ist vorprogrammiert, was bevorsteht. Mein Vorhaben glatter Wahnwitz angesichts des miserablen Wetters. Es regnete ohne Unterlaß, dazu eisige Luft, höchstens 5° Celsius. Schlimmer konnte mein Ausflug gar nicht ausfallen. Immerhin bekam ich in dem Hotel Mittagessen. Der Gasthof nebenan öffnet erst abends ab 18 Uhr. Zwei Stunden Bettruhe angesichts des Regens und völlig zugezogenen Himmels. Kein Lichtloch zu erblicken.
Gegen drei endlich losgezogen. Regenjacke über die Windjacke gezogen. Auf einsamer Straße gleich seitab gelaufen nach Kobitzsch, das in meiner Erinnerung nur ein einsames Gut war, inzwischen ist der Feldweg Fahrstraße geworden.
Das, was ich sehe, kontrastiert mit meiner Erinnerung. Als ich 1969 in Riemsdorf ein Vierteljahr kampierte, fuhr ich mal abends mit dem Rad dahin auf miserablem Feldweg. Eine Veränderung, die mich verunsichert und mich fragen läßt, ob es sich nicht doch um zwei verschiedene Orte handelt?
Vor einem Haus stehen zwei junge Frauen, rauchend, die ich nach dem Weg frage. Sie weisen mich einen überwachsenen Pfad hinunter, geradeaus, nicht ohne teilnahmsvoll nach meinen Schuhen zu fragen. Immerhin, ein menschenfreundliches Wort. Ich glitsche den ziemlich steilen Weg hinunter. Versuche nicht auszurutschen, was auch gelingt. Die Wiesen regenübersättigt versumpft, die blühenden Bäume vom eiskalten Regen abgestraft. Da kann es keine Schlehe, kein zeitiges Obst geben. Nicht eine Biene, die sich ins Freie wagt. Die Frühjahrsblumen, hauptsächlich Buschwindröschen, mickern dahin, können sich nicht recht entfalten. Ins Tal hinunter, durch das die Kleine Triebisch fließt. Der Weg stößt auf eine Ruine. Ich dachte zuerst, hier stand wohl ein Kalkofen. Fehlgeschlossen. Es handelt sich um die Reste einer Schrotmühle, wie ich bald erfuhr. Schüttoffmühle. Nirgendwo diesen Namen gelesen. Dachte aber gleich an das berühmte Müllergeschlecht in Leuben bei Lommatzsch und an die Schüttoffs in Lampersdorf. Wer weiß? Will versuchen, noch etwas über das Schicksal dieser Mühle zu erfahren. Es blieben ein paar Grundmauern. Drei Kellerlöcher. Ich hörte, ja, da wäre nach und nach von den Dörflern weggetragen bzw. gefahren worden, was sie brauchen konnten. Nur wann spielte sich das ab? Um 1900? Nach 1945?
Da ich da unten nicht recht wußte, wie weiter, lief ich ein Stück Wegs talab. Stieß kurz darauf an ein bewohntes Gebäude. Eine ehemalige Mühle. Ich erinnerte mich an den Müller Rendler. Dicht auf der anderen Seite seiner Mini-Mehlmühle fuhr die Schmalspurbahn vorüber, deren Spur ich ja bereits weiter oben gekreuzt hatte. In Riemsdorf hörte ich, daß es die LPG war, die die Demontage so heftig betrieben hatte, wegen des Schotters, den sie für ihren Wegebau dringend brauchte! Während ich mich im Höfchen der ehemaligen Mühle umsah, kam ein Auto in den Hof, von einer älteren Frau gesteuert, mit einem gewaltigen Zinken im Gesicht ausgestattet; einem Gesicht, das regelmäßigen Alkoholgenuß vermuten ließ. Die einzige Bewohnerin, Einsiedlerin. Sie bestätigte mir, daß es sich um die Rendlermühle handelte. Rendler war ihr Vater. Nun sie selbst so alt wie er, als ich ihn sah. In Riemsdorf wurde mir berichtet, sie muß zum Einkaufen fahren. Wie sonst könnte sie in dieser Einsiedelei existieren? Aber es sei kreuzgefährlich, ihrem Auto zu nahe zu kommen. Sollte heißen, sie fährt miserabel. Geschichten! War ich jemals dort? Ich denk schon. Vermutlich kam ich 1988 vorüber, als ich von Buschbad bis Birkenhain lief und Kuhns in Lampersdorf besuchte. Beide Kuhns wenige Jahre später gestorben. Ich war noch mal mit dem Fernsehteam dort. Von dem Gespräch ist nichts überliefert. Gerade das wäre mir wichtig gewesen. Bei wem und wo ich auch nach alten Bekannten mich erkundige: immer tönt es zurück: tot, gestorben, längst nicht mehr am Leben. Frau Blümel? Ja, die lebt noch in Ullendorf. Sie war Leiterin und einzige Verkäuferin einer kleinen Konsum-Verkaufsstelle in Riemsdorf vor Olims Zeiten, als ich Konsum-Buchhalter war, nebenher auch Inventurprüfer, in den jahren 1953 bis 1957, ehe ich nach Coswig umgelenkt wurde.
Von der armseligen Rendler- oder Kobitzsch-Mühle zurück. Die Bewohnerin konnte mir den Weg nach Piskowitz erklären. Aus dem Feldweg war eine Asphaltstraße geworden, also den Berg hoch.
Im Grunde das Tal der Kleinen Triebisch, ein bißchen Wald. Ehe ich loszog, kurzes Gespräch mit dem Hotelbesitzer, der 1970 bis 1975 Leiter der Scharfenberger LPG war, kurz nachdem ich dort drei Monate in einer Feldbaubrigade gearbeitet hatte. Dieser Aufenthalt wurde für mich zu einem Wendejahr. Sein Vorgänger Roland Schreiber starb im Vorjahr in Riemsdorf. Auch mit ihm sprach ich, als das Fernsehen den Film mit mir drehte.
Als das Wetter immer mistiger wurde, kurz vor der Kreuzung Kettewitz-Schmiedewalde, kehrte ich entnervt um. Bei diesem Sauwetter war kein Gespräch mehr möglich. Schlimmer konnte es nicht kommen. Ich stapfte deprimiert zurück. 17 Uhr war ich wieder im Quartier. Die Stimmung im Keller angesichts der tristen Feststellung, daß bei solchem Wetter weder ein Gespräch noch eine Ortsbesichtigung möglich ist, geschweige denn Aufzeichnungen gemacht werden können. So kehrte ich vor Piskowitz schweren Herzens, schlechten Gewissens um. Mal sehen, wie sich der kommende Tag anläßt. Ansonsten müßte ich es im Sommer noch einmal probieren.
Das Zimmer im Landhotel ist geheizt, so daß alles rasch trocken wird. Nur das Telefon funktioniert nicht. Ich merkte heute, wie überholt schon wieder nach wenigen Jahren nur meine gute Karte ist. Muß unbedingt Meßtischblätter besorgen. Bis Weitzschen wären es höchstens noch zwei Kilometer gewesen.
Kann mir nicht mehr vorstellen, wie ich in dem Vierteljahr in Riemsdorf kampiert habe. Weiß nur, daß ich ein Zimmer bei Frau Lange hatte. Aber was machte ich an den Abenden. Gewiß Radtouren zum Kobitzschgut, zum Schloß Scharfenberg und vielleicht auch nach Batzdorf. Aus dem verwahrlosten Kobitzschgut ging ein neues Dorf hervor. Die alten Gebäude scheinen alle abgerissen. Kleine Dörfer, um die zehn Häuser, bzw. Gehöfte sind hier in der Gegend keine Seltenheit. Heute sind sie längst irgendwohin eingemeindet.
Von der Meißner Landstraße ist in meinem Zimmer nichts zu hören. Alles still. Die Zimmer ringsum sind nicht besetzt. Mein Fenster geht zum Hof. Abends – ausnahmsweise! – geschlossene Gesellschaft. Was immer das bedeuten mag, woher immer die leute kommen mögen, alle mit Auto.
Von Tag zu Tag hoffe ich, die Hustenanfälle werden vielleicht doch wieder abklingen. Im Fernsehen schaurige Wetternachrichten, die für morgen früh Eiseskälte prognostizieren. Nachts noch Regen. Bin gespannt, was ich morgen zustande bringen werde. Ob ich Weitzschen erreiche, ob ich den gesuchten Dorfbewohner finde. Ein vermasseltes Unternehmen – auf gut Glück. Und derart extremes Wetter war nicht zu gewärtigen. Schlimmer als heute konnte es nicht kommen.
Dienstag, 8. April: Halb zehn los, der Wirt, Herr Päßler, fuhr mich nach Weitzschen. Eiskalter Morgen, aber immerhin endlich trocken, und es blieb trocken an diesem Tag. Kaum Erwärmung. Ich sah mich erst ein bißchen im Dorf um. Der größte Bauernhof tot. Ruiniert. Von einer einzigen Frau bewohnt. Das Bauernsterben dauert an, riesige Gebäude, die für nichts mehr auskommen. Das ganze Anwesen, der Hof herunter, Endstadium, Tristesse. Das Dorf gehört zum zwei Kilometer entfernten Taubenheim. Traf den Gewährsmann zum Glück an bzw. erst einmal seine Frau. Er hantierte in den Vogelvolieren im Gartengrund. Sprach dann eine weile mit ihm, dessen Namen ich jetzt weiß: Rudolf Begenau, 2. Jahrgang 1930, seit 1951 in Weitzschen. Er erzählte dieses Mal etwas anders. Er konnte sich an unser erstes Gespräch erinnern. In Weitzschen lagen an verschiedenen Stellen tote Soldaten, im Keller seines Hauses starb ein verwundeter Soldat. Also muß da noch gekämpft worden sein. Was mich wundert und unklar bleibt, ob die Russen erst am 7. Mai 1945 hierher kamen. Ob das stimmt? Ob er sich irrt? Muß unbedingt Gerhard Steinecke fragen.
Die Geschichte, die mich interessiert, erzählte er dieses Mal etwas anders. In dem Gelände, an das ich mich erinnerte, dicht vor Weitzschen, hat sich überhaupt nichts abgespielt. Schauplatz war vielmehr die Höhe vor Piskowitz an der Taubenheimer Straße. Heute ist da eine riesige Kiesgrube. Das ursprüngliche Gelände ist gar nicht mehr vorhanden. Die Gruppe (möglicherweise nur sechs Soldaten) mußte sich ergeben. Alle wurden hinterrücks erschossen. 1951 wurden sie auf dem Friedhof Taubenheim beigesetzt. Ich telefoniere mit dem Pfarrer von Burkhardswalde, der das Sterberegister hat und von nichts weiß, so verschwimmt das tatsächliche Ereignis ins diffus Legendenhafte. Wie ich später erfuhr, weiß keiner etwas Genaues. Zu lange her. Als man Anfang der 1970er Jahre die Kiesgrube einrichtete, wurden Gebeine gefunden. Unklar, wohin die kamen. Offensichtlich sind die Toten nicht identifiziert worden. Vielleicht Soldaten, die noch während der Kampfhandlungen ums Leben kamen. Bleibt nur, das Fiktionale auszubauen. Jedenfalls gab es da bis zuletzt Kampfhandlungen, einige wenige, die die russischen Panzer aufzuhalten suchten. Nur, woher kamen diese Truppen? Versprengte? Eingekesselte? Darüber muß ich mit Steinecke reden. Vielleicht bringt er etwas Licht in das verworrene Geschehen. Klar ist, es gab keine Front mehr. Es muß ein totales Chaos geherrscht haben, aus dem die meisten Soldaten zu entkommen suchten.
Immerhin neue Angaben. Ich muß annehmen, daß sie näher an die Wirklcihkeit herankommen. Die russischen Panzer kamen vermutlich aus Meißen und wollten nach Taubenheim vorstoßen, was sie wohl auch taten nach kurzer Unterbrechung. Ich weiß hingegen zu berichten, in Klipphausen zogen die Russen bereits am 6. Mai ein, das belegen die Berichte von Inspektor Peschke und Gastwirt Otto Schöne. Also im Grunde wenig Neues. Kaum Konkretes. Vage Anhaltspunkte.
Was erzählte mir Begenau noch? Ein begeisterter Pimpf ist er gewesen, wie er mir schon vor Jahren bekundet hatte – im Gegensatz zu mir. Er schlitterte ganz knapp am Krieg vorbei. Überall schlägt mir eine Niedergeschlagenheit angesichts der gegenwärtigen Lage entgegen. Auf den Dörfern ist sie besonders kraß. Riesige Enttäuschung. Politikerverachtung. Ablehnung der Globalisierung. Die Dörfer sind weitgehend stillgelegt. Das Leben besteht nur noch aus letzten Zuckungen. Gestörte Kommunikation. Das Fernsehen läßt die Leute stumm werden. Sie igeln sich ein, schotten sich ab. Mit der Landwirtschaft haben sie nichts mehr zu tun. Großflächenwirtschaft. Agrokonzerne, dirigiert von Leuten, die unsichtbar bleiben wie Vorsitzende von Banken, Konzernen. Nicht einen Menschen auf den Feldern gesehen. Das Zentrum in Riemsdorf bilden – weithin sichtbar – stahlblanke Getreidesilos. Signifikantestes Zeichen des Zeitgeists das Ullendorfer Gewerbegebiet. Alles tot. Pleite. Millionen in den Sand bzw. Lehm gesetzt. Riesenflächen versiegelt, die fruchtbarste Erde weit und breit der Landwirtschaft entzogen.
Gespräch mit dem Schmied von Piskowitz, der Ziegel abputzte. Einer, der viel redet, felsenfeste Meinungen offeriert, anderen dabei nicht zuhört.
Rückmarsch auf der Straße bis ins Tal der Kleinen Triebisch. Dann auf dem Wanderweg am Bächlein entlang. Quatschnasses Gelände. Alle Zaunkönigreviere besetzt. In Taubenheim das Haus gesucht, in dem ich im November 1953 als Buchhalter anfing für 250 Mark im Monat. In der Bäckerei. Gasthof geschlossen. Das Dorf lag wie erstorben. Jetzt wurde auch der alte Fußweg nach Sora asphaltiert. Über das Gewerbegebiet nach Ullendorf. Mich auf Sigels Hof umgesehen, kaum Fortschritte gesehen. Niemand da. Da der angezeigte Bus nicht kam, auf der Straße nach Riemsdorf zurück.
Vor Gasthof und Schmiede mit Ziesche gesprochen. Sehr freundlich. Erstaunlich, daß er sich halten kann. Abends mit dem Ehepaar Päßler, das mich beherbergte, lange gesprochen. Dabei kam so mancher Name ans licht. Namen gemeinsamer Bekannter aus meiner LPG-Zeit: Hans Mileck, Kutscher, Alkoholiker. Er war mit den pferden im Suff ins Gewächshaus gefahren. Danach durfte er nicht mehr kutschieren. Der Mann, der jeden fragte, was ein Blindgänger sei, hieß Hummitzsch. Auch er schwerer Alkoholiker. Er verdiente sich als Klauenschneider ein flüssiges Zubrot. Seine Frau, die uns an einem heißen Erntetag wunderbares Zitronenwasser, brunnengekühlt, kredenzte, erhängte sich später im Knien!
Wenn wir drei, vier Hanseln steinhart gewordenen Dünger (Superphosphat) kloppten und siebten, um ihn wiederverwendungsfähig zu machen, legte sich Hummitzsch ins Stroh und schlief, nun selbst Blindgänger geworden. Im Kuhstall war er als schwerer Alkoholiker nicht mehr zu gebrauchen gewesen. Ab in die Feldbaubrigade. Das war der Haufen, der all diese Fälle auffing.
Die Rede kam auch auf Rolf, der mal als Industriearbeiter aufs Land geschickt wurde und nun hängengeblieben war. Ein armer Tropf, mit dem nicht viel los war. Er wohnte auch auf dem Hof, in dem ich mein Quartier hatte. Der Brigadier hieß Renner. Später Parteimensch. Fachlich hatte er wohl nichts drauf. Ich sprach damals mit studierten jungen Agronomen über Rachel Carsons Buch »Der stumme Frühling«. Die Erfahrungen, die ich in den drei Monaten Landaufenthalt machte, trugen entscheidend dazu bei, daß 1969 für mich zu einem Umbruchjahr wurde. Ich begann, ökologisch zu denken und wußte, die Gestaltung moderner, industrieller Landwirtschaft kann mein Thema nicht sein. Jedenfalls nicht deren apologetische Umsetzung. Dabei ist es geblieben.
Am Nachmittag oder frühen Abend lief ich durchs »alte« Dorf. Sprach mit einer Frau. Als ich den namen Kost erwähnte, sagte sie, das sei sie. Also hatte ich mit ihrem Vater gearbeitet. Auch er tot. Sie Jahrgang 1938.
Der Hof, der seinerzeit Mittelpunkt des Geschehens war, nicht wiederzuerkennen, völlig zerhaut. Ich verunsichert, ob mir dort wirklich einmal die Schlammsuppe, die den ganzen Hof bedeckte, in die Schuhe gelaufen war. Der Ort ist heute kaum wiederzuerkennen. Das Häuschen des ehemaligen LPG-Vorsitzenden Roland Schreiber (gestorben 2007 in Riemsdorf). Früh wusch er sich am Brunnen und putzte dort die Zähne. Die Pumpe steht noch als Denkmal. Dann auf die Naustädter Straße fast bis zum Ort. Geradewegs auf den Kirchturm zu. An dem riesigen stacheldrahtbewehrten Areal der ehemaligen Radarstation entlang.
Jetzt Polizeistation – Diensthundeschule. Hinterm Zaun ein gerissener Hase. Natürlich jetzt alles pikobello asphaltiert, autogerecht. Sehr gute Aussicht: die Kirche von Wantewitz, der Dom zu Meißen, das Lößnitz/Elbtal, die blitzblanken vier Silos der Mega-Agrargenossenschaft. Irgendwo im Gelände muß es Schweine-Bunker geben, je tausend Tiere, die Tag und Nacht ununterbrochen gefüttert (»gestopft«, »genudelt«!) werden, damit sie täglich ein Kilo zunehmen. Ihr Fleisch nur Wasser.
Mein Blick geht auf die Röhrsdorfer, Soraer, Weistropper Kirchen. Auch an dieser Weggablung präsentiert sich ideal »die Erde bei Meißen«.
Nach einmal könnte ich diese Beziehung, Verbundenheit mit der Landschaft nicht herstellen. Da schiebt sich zuviel Fremde, Veränderung dazwischen. Ein Berg von Toten. Es bleibt Befremdung, Abstand, also Entfremdung. Ich selbst ein Fremder. Am sinnfälligsten verfallene Bauernhöfe, Abbrüche, das Ruinöse, das die neuen uniformen Einfamilienhäuser und DDR-Wohnblocks auratisch tief in den Schatten stellen. Kaum noch ein Weg. Nur noch Schnellstraßen, auf denen ein Fußgänger nichts mehr zu suchen hat. Das macht die Verlorenheit kraß bewußt.
Gegen halb sieben wieder im Hotel. Aufgezeichnet und dabei vergessen, die Abendnachrichten zu sehen. 19 Uhr zum Essen. Sehe mich schon im Geiste morgen früh an der Bushaltestelle stehen und eine andere Welt ansteuern, mit Meißen als kurzer Zwischenstation. Auch dort bin ich ein Fremder.
Bei aller deprimierenden Tristesse merke ich, was ich in den anderthalb Tagen aufgenommen habe trotz des miserablen Wetters. Am Abend endlich, endlich Sonnenschein.
Langes Gespräch mit Päßlers über die Helmmühle, die ihnen einige Jahre gehörte, über ihre Situation, daß ihr Hotel kaum noch frequentiert wird. Wie überall ringsum ein Abbruch, ein Niedergang, keine Spur eines Aufschwungs. Das Gefühl der Leute entsprechend. Anfang der neunziger Jahre war es im Vergleich dazu euphorisch zugegangen, ein Gefühl des Aufwärts, Aufstiegs, Neubeginns. Davon ist nichts geblieben, das ist zu ende. Die Dörfer bleiben sich selbst überlassen.
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»Von Heimat zu Heimat – eine literarische Spurensuche« ist eine Reihe des Thüringer Literaturrates e.V. mit freundlicher Unterstützung der Kulturstiftung des Freistaats Thüringen.
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