Wulf Kirsten – »Exkursion nach Weitzschen«

Person

Wulf Kirsten

Ort

Weimar

Thema

Von Heimat zu Heimat

Autor

Wulf Kirsten

Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Mon­tag, 7. April: Von Dres­den nach Mei­ßen mit der S‑Bahn, mit dem Bus nach Riems­dorf. Dort hatte ich Quar­tier bestellt. Ich war der ein­zige Hotelgast.

Von Mei­ßen nichts gese­hen. Der Gang durch den Bahn­hof nie­der­schmet­ternde Trost­lo­sig­keit. Scheuß­lich war er schon immer, solange ich mich erin­nern kann. 1950 begann ich nebenan, Gro­ßenhai­ner Str. 7, in der Bäcker­ge­nos­sen­schaft eine kauf­män­ni­sche Lehre. Nun herrscht vor allem Leere. Kein Schal­ter mehr geöffnet.

Eine halbe Stunde Auf­ent­halt. Über den Rats­wein­berg gelau­fen. Weiss nicht mal mehr genau, in wel­chen der bei­den Käs­ten ich die Schule besuchte 1948–1950, wohl aber, was sich dort abspielte.

Riems­dorf in einer Gott­ver­las­sen­heit, immer­hin mit Bus­sta­tion. Mein Bus fuhr nach Tan­ne­berg. So gut wie keine Fahr­gäste. Also ist vor­pro­gram­miert, was bevor­steht. Mein Vor­ha­ben glat­ter Wahn­witz ange­sichts des mise­ra­blen Wet­ters. Es reg­nete ohne Unter­laß, dazu eisige Luft, höchs­tens 5° Cel­sius. Schlim­mer konnte mein Aus­flug gar nicht aus­fal­len. Immer­hin bekam ich in dem Hotel Mit­tag­essen. Der Gast­hof nebenan öff­net erst abends ab 18 Uhr. Zwei Stun­den Bett­ruhe ange­sichts des Regens und völ­lig zuge­zo­ge­nen Him­mels. Kein Licht­loch zu erblicken.

Gegen drei end­lich los­ge­zo­gen. Regen­ja­cke über die Wind­ja­cke gezo­gen. Auf ein­sa­mer Straße gleich seitab gelau­fen nach Kobitzsch, das in mei­ner Erin­ne­rung nur ein ein­sa­mes Gut war, inzwi­schen ist der Feld­weg Fahr­straße geworden.

Das, was ich sehe, kon­tras­tiert mit mei­ner Erin­ne­rung. Als ich 1969 in Riems­dorf ein Vier­tel­jahr kam­pierte, fuhr ich mal abends mit dem Rad dahin auf mise­ra­blem Feld­weg. Eine Ver­än­de­rung, die mich ver­un­si­chert und mich fra­gen läßt, ob es sich nicht doch um zwei ver­schie­dene Orte handelt?

Vor einem Haus ste­hen zwei junge Frauen, rau­chend, die ich nach dem Weg frage. Sie wei­sen mich einen über­wach­se­nen Pfad hin­un­ter, gera­de­aus, nicht ohne teil­nahms­voll nach mei­nen Schu­hen zu fra­gen. Immer­hin, ein men­schen­freund­li­ches Wort. Ich glit­sche den ziem­lich stei­len Weg hin­un­ter. Ver­su­che nicht aus­zu­rut­schen, was auch gelingt. Die Wie­sen regen­über­sät­tigt ver­sumpft, die blü­hen­den Bäume vom eis­kal­ten Regen abge­straft. Da kann es keine Schlehe, kein zei­ti­ges Obst geben. Nicht eine Biene, die sich ins Freie wagt. Die Früh­jahrs­blu­men, haupt­säch­lich Busch­wind­rös­chen, mickern dahin, kön­nen sich nicht recht ent­fal­ten. Ins Tal hin­un­ter, durch das die Kleine Trie­bisch fließt. Der Weg stößt auf eine Ruine. Ich dachte zuerst, hier stand wohl ein Kalk­ofen. Fehl­ge­schlos­sen. Es han­delt sich um die Reste einer Schrot­mühle, wie ich bald erfuhr. Schüt­toff­mühle. Nir­gendwo die­sen Namen gele­sen. Dachte aber gleich an das berühmte Mül­ler­ge­schlecht in Leu­ben bei Lom­matzsch und an die Schüt­toffs in Lam­pers­dorf. Wer weiß? Will ver­su­chen, noch etwas über das Schick­sal die­ser Mühle zu erfah­ren. Es blie­ben ein paar Grund­mau­ern. Drei Kel­ler­lö­cher. Ich hörte, ja, da wäre nach und nach von den Dörf­lern weg­ge­tra­gen bzw. gefah­ren wor­den, was sie brau­chen konn­ten. Nur wann spielte sich das ab? Um 1900? Nach 1945?

Da ich da unten nicht recht wußte, wie wei­ter, lief ich ein Stück Wegs talab. Stieß kurz dar­auf an ein bewohn­tes Gebäude. Eine ehe­ma­lige Mühle. Ich erin­nerte mich an den Mül­ler Rend­ler. Dicht auf der ande­ren Seite sei­ner Mini-Mehl­mühle fuhr die Schmal­spur­bahn vor­über, deren Spur ich ja bereits wei­ter oben gekreuzt hatte. In Riems­dorf hörte ich, daß es die LPG war, die die Demon­tage so hef­tig betrie­ben hatte, wegen des Schot­ters, den sie für ihren Wege­bau drin­gend brauchte! Wäh­rend ich mich im Höf­chen der ehe­ma­li­gen Mühle umsah, kam ein Auto in den Hof, von einer älte­ren Frau gesteu­ert, mit einem gewal­ti­gen Zin­ken im Gesicht aus­ge­stat­tet; einem Gesicht, das regel­mä­ßi­gen Alko­hol­genuß ver­mu­ten ließ. Die ein­zige Bewoh­ne­rin, Ein­sied­le­rin. Sie bestä­tigte mir, daß es sich um die Rend­ler­mühle han­delte. Rend­ler war ihr Vater. Nun sie selbst so alt wie er, als ich ihn sah. In Riems­dorf wurde mir berich­tet, sie muß zum Ein­kau­fen fah­ren. Wie sonst könnte sie in die­ser Ein­sie­de­lei exis­tie­ren? Aber es sei kreuz­ge­fähr­lich, ihrem Auto zu nahe zu kom­men. Sollte hei­ßen, sie fährt mise­ra­bel. Geschich­ten! War ich jemals dort? Ich denk schon. Ver­mut­lich kam ich 1988 vor­über, als ich von Busch­bad bis Bir­ken­hain lief und Kuhns in Lam­pers­dorf besuchte. Beide Kuhns wenige Jahre spä­ter gestor­ben. Ich war noch mal mit dem Fern­seh­team dort. Von dem Gespräch ist nichts über­lie­fert. Gerade das wäre mir wich­tig gewe­sen. Bei wem und wo ich auch nach alten Bekann­ten mich erkun­dige: immer tönt es zurück: tot, gestor­ben, längst nicht mehr am Leben. Frau Blü­mel? Ja, die lebt noch in Ullen­dorf. Sie war Lei­te­rin und ein­zige Ver­käu­fe­rin einer klei­nen Kon­sum-Ver­kaufs­stelle in Riems­dorf vor Olims Zei­ten, als ich Kon­sum-Buch­hal­ter war, neben­her auch Inven­tur­prü­fer, in den jah­ren 1953 bis 1957, ehe ich nach Cos­wig umge­lenkt wurde.

Von der arm­se­li­gen Rend­ler- oder Kobitzsch-Mühle zurück. Die Bewoh­ne­rin konnte mir den Weg nach Pis­ko­witz erklä­ren. Aus dem Feld­weg war eine Asphalt­straße gewor­den, also den Berg hoch.

Im Grunde das Tal der Klei­nen Trie­bisch, ein biß­chen Wald. Ehe ich los­zog, kur­zes Gespräch mit dem Hotel­be­sit­zer, der 1970 bis 1975 Lei­ter der Schar­fen­ber­ger LPG war, kurz nach­dem ich dort drei Monate in einer Feld­bau­bri­gade gear­bei­tet hatte. Die­ser Auf­ent­halt wurde für mich zu einem Wen­de­jahr. Sein Vor­gän­ger Roland Schrei­ber starb im Vor­jahr in Riems­dorf. Auch mit ihm sprach ich, als das Fern­se­hen den Film mit mir drehte.

Als das Wet­ter immer mis­ti­ger wurde, kurz vor der Kreu­zung Ket­te­witz-Schmie­de­walde, kehrte ich ent­nervt um. Bei die­sem Sau­wet­ter war kein Gespräch mehr mög­lich. Schlim­mer konnte es nicht kom­men. Ich stapfte depri­miert zurück. 17 Uhr war ich wie­der im Quar­tier. Die Stim­mung im Kel­ler ange­sichts der tris­ten Fest­stel­lung, daß bei sol­chem Wet­ter weder ein Gespräch noch eine Orts­be­sich­ti­gung mög­lich ist, geschweige denn Auf­zeich­nun­gen gemacht wer­den kön­nen. So kehrte ich vor Pis­ko­witz schwe­ren Her­zens, schlech­ten Gewis­sens um. Mal sehen, wie sich der kom­mende Tag anläßt. Ansons­ten müßte ich es im Som­mer noch ein­mal probieren.

Das Zim­mer im Land­ho­tel ist geheizt, so daß alles rasch tro­cken wird. Nur das Tele­fon funk­tio­niert nicht. Ich merkte heute, wie über­holt schon wie­der nach weni­gen Jah­ren nur meine gute Karte ist. Muß unbe­dingt Meß­tisch­blät­ter besor­gen. Bis Weit­zschen wären es höchs­tens noch zwei Kilo­me­ter gewesen.
Kann mir nicht mehr vor­stel­len, wie ich in dem Vier­tel­jahr in Riems­dorf kam­piert habe. Weiß nur, daß ich ein Zim­mer bei Frau Lange hatte. Aber was machte ich an den Aben­den. Gewiß Rad­tou­ren zum Kobitzsch­gut, zum Schloß Schar­fen­berg und viel­leicht auch nach Batz­dorf. Aus dem ver­wahr­los­ten Kobitzsch­gut ging ein neues Dorf her­vor. Die alten Gebäude schei­nen alle abge­ris­sen. Kleine Dör­fer, um die zehn Häu­ser, bzw. Gehöfte sind hier in der Gegend keine Sel­ten­heit. Heute sind sie längst irgend­wo­hin eingemeindet.

Von der Meiß­ner Land­straße ist in mei­nem Zim­mer nichts zu hören. Alles still. Die Zim­mer ringsum sind nicht besetzt. Mein Fens­ter geht zum Hof. Abends – aus­nahms­weise! – geschlos­sene Gesell­schaft. Was immer das bedeu­ten mag, woher immer die leute kom­men mögen, alle mit Auto.

Von Tag zu Tag hoffe ich, die Hus­ten­an­fälle wer­den viel­leicht doch wie­der abklin­gen. Im Fern­se­hen schau­rige Wet­ter­nach­rich­ten, die für mor­gen früh Eises­kälte pro­gnos­ti­zie­ren. Nachts noch Regen. Bin gespannt, was ich mor­gen zustande brin­gen werde. Ob ich Weit­zschen errei­che, ob ich den gesuch­ten Dorf­be­woh­ner finde. Ein ver­mas­sel­tes Unter­neh­men – auf gut Glück. Und der­art extre­mes Wet­ter war nicht zu gewär­ti­gen. Schlim­mer als heute konnte es nicht kommen.

Diens­tag, 8. April: Halb zehn los, der Wirt, Herr Päß­ler, fuhr mich nach Weit­zschen. Eis­kal­ter Mor­gen, aber immer­hin end­lich tro­cken, und es blieb tro­cken an die­sem Tag. Kaum Erwär­mung. Ich sah mich erst ein biß­chen im Dorf um. Der größte Bau­ern­hof tot. Rui­niert. Von einer ein­zi­gen Frau bewohnt. Das Bau­ern­ster­ben dau­ert an, rie­sige Gebäude, die für nichts mehr aus­kom­men. Das ganze Anwe­sen, der Hof her­un­ter, End­sta­dium, Tris­tesse. Das Dorf gehört zum zwei Kilo­me­ter ent­fern­ten Tau­ben­heim. Traf den Gewährs­mann zum Glück an bzw. erst ein­mal seine Frau. Er han­tierte in den Vogel­vo­lie­ren im Gar­ten­grund. Sprach dann eine weile mit ihm, des­sen Namen ich jetzt weiß: Rudolf Begenau, 2. Jahr­gang 1930, seit 1951 in Weit­zschen. Er erzählte die­ses Mal etwas anders. Er konnte sich an unser ers­tes Gespräch erin­nern. In Weit­zschen lagen an ver­schie­de­nen Stel­len tote Sol­da­ten, im Kel­ler sei­nes Hau­ses starb ein ver­wun­de­ter Sol­dat. Also muß da noch gekämpft wor­den sein. Was mich wun­dert und unklar bleibt, ob die Rus­sen erst am 7. Mai 1945 hier­her kamen. Ob das stimmt? Ob er sich irrt? Muß unbe­dingt Ger­hard Stein­ecke fragen.

Die Geschichte, die mich inter­es­siert, erzählte er die­ses Mal etwas anders. In dem Gelände, an das ich mich erin­nerte, dicht vor Weit­zschen, hat sich über­haupt nichts abge­spielt. Schau­platz war viel­mehr die Höhe vor Pis­ko­witz an der Tau­ben­hei­mer Straße. Heute ist da eine rie­sige Kies­grube. Das ursprüng­li­che Gelände ist gar nicht mehr vor­han­den. Die Gruppe (mög­li­cher­weise nur sechs Sol­da­ten) mußte sich erge­ben. Alle wur­den hin­ter­rücks erschos­sen. 1951 wur­den sie auf dem Fried­hof Tau­ben­heim bei­gesetzt. Ich tele­fo­niere mit dem Pfar­rer von Burk­hards­walde, der das Ster­be­re­gis­ter hat und von nichts weiß, so ver­schwimmt das tat­säch­li­che Ereig­nis ins dif­fus Legen­den­hafte. Wie ich spä­ter erfuhr, weiß kei­ner etwas Genaues. Zu lange her. Als man Anfang der 1970er Jahre die Kies­grube ein­rich­tete, wur­den Gebeine gefun­den. Unklar, wohin die kamen. Offen­sicht­lich sind die Toten nicht iden­ti­fi­ziert wor­den. Viel­leicht Sol­da­ten, die noch wäh­rend der Kampf­hand­lun­gen ums Leben kamen. Bleibt nur, das Fik­tio­nale aus­zu­bauen. Jeden­falls gab es da bis zuletzt Kampf­hand­lun­gen, einige wenige, die die rus­si­schen Pan­zer auf­zu­hal­ten such­ten. Nur, woher kamen diese Trup­pen? Ver­sprengte? Ein­ge­kes­selte? Dar­über muß ich mit Stein­ecke reden. Viel­leicht bringt er etwas Licht in das ver­wor­rene Gesche­hen. Klar ist, es gab keine Front mehr. Es muß ein tota­les Chaos geherrscht haben, aus dem die meis­ten Sol­da­ten zu ent­kom­men suchten.
Immer­hin neue Anga­ben. Ich muß anneh­men, daß sie näher an die Wirk­lcih­keit her­an­kom­men. Die rus­si­schen Pan­zer kamen ver­mut­lich aus Mei­ßen und woll­ten nach Tau­ben­heim vor­sto­ßen, was sie wohl auch taten nach kur­zer Unter­bre­chung. Ich weiß hin­ge­gen zu berich­ten, in Klipp­hau­sen zogen die Rus­sen bereits am 6. Mai ein, das bele­gen die Berichte von Inspek­tor Peschke und Gast­wirt Otto Schöne. Also im Grunde wenig Neues. Kaum Kon­kre­tes. Vage Anhaltspunkte.

Was erzählte mir Begenau noch? Ein begeis­ter­ter Pimpf ist er gewe­sen, wie er mir schon vor Jah­ren bekun­det hatte – im Gegen­satz zu mir. Er schlit­terte ganz knapp am Krieg vor­bei. Über­all schlägt mir eine Nie­der­ge­schla­gen­heit ange­sichts der gegen­wär­ti­gen Lage ent­ge­gen. Auf den Dör­fern ist sie beson­ders kraß. Rie­sige Ent­täu­schung. Poli­ti­ker­ver­ach­tung. Ableh­nung der Glo­ba­li­sie­rung. Die Dör­fer sind weit­ge­hend still­ge­legt. Das Leben besteht nur noch aus letz­ten Zuckun­gen. Gestörte Kom­mu­ni­ka­tion. Das Fern­se­hen läßt die Leute stumm wer­den. Sie igeln sich ein, schot­ten sich ab. Mit der Land­wirt­schaft haben sie nichts mehr zu tun. Groß­flä­chen­wirt­schaft. Agro­kon­zerne, diri­giert von Leu­ten, die unsicht­bar blei­ben wie Vor­sit­zende von Ban­ken, Kon­zer­nen. Nicht einen Men­schen auf den Fel­dern gese­hen. Das Zen­trum in Riems­dorf bil­den – weit­hin sicht­bar – stahl­blanke Getrei­de­si­los. Signi­fi­kan­tes­tes Zei­chen des Zeit­geists das Ullen­dor­fer Gewer­be­ge­biet. Alles tot. Pleite. Mil­lio­nen in den Sand bzw. Lehm gesetzt. Rie­sen­flä­chen ver­sie­gelt, die frucht­barste Erde weit und breit der Land­wirt­schaft entzogen.

Gespräch mit dem Schmied von Pis­ko­witz, der Zie­gel abputzte. Einer, der viel redet, fel­sen­feste Mei­nun­gen offe­riert, ande­ren dabei nicht zuhört.

Rück­marsch auf der Straße bis ins Tal der Klei­nen Trie­bisch. Dann auf dem Wan­der­weg am Bäch­lein ent­lang. Quatsch­nas­ses Gelände. Alle Zaun­kö­nig­re­viere besetzt. In Tau­ben­heim das Haus gesucht, in dem ich im Novem­ber 1953 als Buch­hal­ter anfing für 250 Mark im Monat. In der Bäcke­rei. Gast­hof geschlos­sen. Das Dorf lag wie erstor­ben. Jetzt wurde auch der alte Fuß­weg nach Sora asphal­tiert. Über das Gewer­be­ge­biet nach Ullen­dorf. Mich auf Sigels Hof umge­se­hen, kaum Fort­schritte gese­hen. Nie­mand da. Da der ange­zeigte Bus nicht kam, auf der Straße nach Riems­dorf zurück.

Vor Gast­hof und Schmiede mit Zie­sche gespro­chen. Sehr freund­lich. Erstaun­lich, daß er sich hal­ten kann. Abends mit dem Ehe­paar Päß­ler, das mich beher­bergte, lange gespro­chen. Dabei kam so man­cher Name ans licht. Namen gemein­sa­mer Bekann­ter aus mei­ner LPG-Zeit: Hans Mil­eck, Kut­scher, Alko­ho­li­ker. Er war mit den pfer­den im Suff ins Gewächs­haus gefah­ren. Danach durfte er nicht mehr kut­schie­ren. Der Mann, der jeden fragte, was ein Blind­gän­ger sei, hieß Hummitzsch. Auch er schwe­rer Alko­ho­li­ker. Er ver­diente sich als Klau­en­schnei­der ein flüs­si­ges Zubrot. Seine Frau, die uns an einem hei­ßen Erntetag wun­der­ba­res Zitro­nen­was­ser, brun­nen­ge­kühlt, kre­denzte, erhängte sich spä­ter im Knien!

Wenn wir drei, vier Han­seln stein­hart gewor­de­nen Dün­ger (Super­phos­phat) klopp­ten und sieb­ten, um ihn wie­der­ver­wen­dungs­fä­hig zu machen, legte sich Hummitzsch ins Stroh und schlief, nun selbst Blind­gän­ger gewor­den. Im Kuh­stall war er als schwe­rer Alko­ho­li­ker nicht mehr zu gebrau­chen gewe­sen. Ab in die Feld­bau­bri­gade. Das war der Hau­fen, der all diese Fälle auffing.

Die Rede kam auch auf Rolf, der mal als Indus­trie­ar­bei­ter aufs Land geschickt wurde und nun hän­gen­ge­blie­ben war. Ein armer Tropf, mit dem nicht viel los war. Er wohnte auch auf dem Hof, in dem ich mein Quar­tier hatte. Der Bri­ga­dier hieß Ren­ner. Spä­ter Par­tei­mensch. Fach­lich hatte er wohl nichts drauf. Ich sprach damals mit stu­dier­ten jun­gen Agro­no­men über Rachel Car­sons Buch »Der stumme Früh­ling«. Die Erfah­run­gen, die ich in den drei Mona­ten Land­auf­ent­halt machte, tru­gen ent­schei­dend dazu bei, daß 1969 für mich zu einem Umbruch­jahr wurde. Ich begann, öko­lo­gisch zu den­ken und wußte, die Gestal­tung moder­ner, indus­tri­el­ler Land­wirt­schaft kann mein Thema nicht sein. Jeden­falls nicht deren apo­lo­ge­ti­sche Umset­zung. Dabei ist es geblieben.

Am Nach­mit­tag oder frü­hen Abend lief ich durchs »alte« Dorf. Sprach mit einer Frau. Als ich den namen Kost erwähnte, sagte sie, das sei sie. Also hatte ich mit ihrem Vater gear­bei­tet. Auch er tot. Sie Jahr­gang 1938.

Der Hof, der sei­ner­zeit Mit­tel­punkt des Gesche­hens war, nicht wie­der­zu­er­ken­nen, völ­lig zer­haut. Ich ver­un­si­chert, ob mir dort wirk­lich ein­mal die Schlamm­suppe, die den gan­zen Hof bedeckte, in die Schuhe gelau­fen war. Der Ort ist heute kaum wie­der­zu­er­ken­nen. Das Häus­chen des ehe­ma­li­gen LPG-Vor­sit­zen­den Roland Schrei­ber (gestor­ben 2007 in Riems­dorf). Früh wusch er sich am Brun­nen und putzte dort die Zähne. Die Pumpe steht noch als Denk­mal. Dann auf die Nau­städ­ter Straße fast bis zum Ort. Gera­de­wegs auf den Kirch­turm zu. An dem rie­si­gen sta­chel­draht­be­wehr­ten Areal der ehe­ma­li­gen Radar­sta­tion entlang.
Jetzt Poli­zei­sta­tion – Dienst­hun­de­schule. Hin­term Zaun ein geris­se­ner Hase. Natür­lich jetzt alles piko­bello asphal­tiert, auto­ge­recht. Sehr gute Aus­sicht: die Kir­che von Wan­te­witz, der Dom zu Mei­ßen, das Lößnitz/Elbtal, die blitz­blan­ken vier Silos der Mega-Agrar­ge­nos­sen­schaft. Irgendwo im Gelände muß es Schweine-Bun­ker geben, je tau­send Tiere, die Tag und Nacht unun­ter­bro­chen gefüt­tert (»gestopft«, »genu­delt«!) wer­den, damit sie täg­lich ein Kilo zuneh­men. Ihr Fleisch nur Wasser.

Mein Blick geht auf die Röhrs­dor­fer, Soraer, Wei­strop­per Kir­chen. Auch an die­ser Wegg­ab­lung prä­sen­tiert sich ideal »die Erde bei Meißen«.

Nach ein­mal könnte ich diese Bezie­hung, Ver­bun­den­heit mit der Land­schaft nicht her­stel­len. Da schiebt sich zuviel Fremde, Ver­än­de­rung dazwi­schen. Ein Berg von Toten. Es bleibt Befrem­dung, Abstand, also Ent­frem­dung. Ich selbst ein Frem­der. Am sinn­fäl­ligs­ten ver­fal­lene Bau­ern­höfe, Abbrü­che, das Rui­nöse, das die neuen uni­for­men Ein­fa­mi­li­en­häu­ser und DDR-Wohn­blocks aura­tisch tief in den Schat­ten stel­len. Kaum noch ein Weg. Nur noch Schnell­stra­ßen, auf denen ein Fuß­gän­ger nichts mehr zu suchen hat. Das macht die Ver­lo­ren­heit kraß bewußt.

Gegen halb sie­ben wie­der im Hotel. Auf­ge­zeich­net und dabei ver­ges­sen, die Abend­nach­rich­ten zu sehen. 19 Uhr zum Essen. Sehe mich schon im Geiste mor­gen früh an der Bus­hal­te­stelle ste­hen und eine andere Welt ansteu­ern, mit Mei­ßen als kur­zer Zwi­schen­sta­tion. Auch dort bin ich ein Fremder.

Bei aller depri­mie­ren­den Tris­tesse merke ich, was ich in den andert­halb Tagen auf­ge­nom­men habe trotz des mise­ra­blen Wet­ters. Am Abend end­lich, end­lich Sonnenschein.
Lan­ges Gespräch mit Päß­lers über die Helm­mühle, die ihnen einige Jahre gehörte, über ihre Situa­tion, daß ihr Hotel kaum noch fre­quen­tiert wird. Wie über­all ringsum ein Abbruch, ein Nie­der­gang, keine Spur eines Auf­schwungs. Das Gefühl der Leute ent­spre­chend. Anfang der neun­zi­ger Jahre war es im Ver­gleich dazu eupho­risch zuge­gan­gen, ein Gefühl des Auf­wärts, Auf­stiegs, Neu­be­ginns. Davon ist nichts geblie­ben, das ist zu ende. Die Dör­fer blei­ben sich selbst überlassen.

 

***

»Von Hei­mat zu Hei­mat – eine lite­ra­ri­sche Spu­ren­su­che« ist eine Reihe des Thü­rin­ger Lite­ra­tur­ra­tes e.V. mit freund­li­cher Unter­stüt­zung der Kul­tur­stif­tung des Frei­staats Thüringen.

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