Person
Ort
Thema
Von Goethes Tod bis zur Novemberrevolution
Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes, Berlin 1870.
Ronneburg lag bald im Rücken, und ich war frank und frei; als ich mich aber dessen freuen wollte, gelang es nicht. Warum hatte ich denn dem guten Mädchen nicht den Gefallen tun können, ihren Vater zu begrüßen, in dessen Augen das kleine Abenteuer seiner Tochter auf solche Weise die schicklichste Lösung gefunden hätte? Ausruhen mußte ich ja doch irgendwo, konnte unmöglich bis Hummelshain so fortrennen wie ein toller Hund oder von Furien gepeitschter Ödipus. Ich hätte, wie mir angedeutet worden, ja erst im Löwen einkehren, schickliche Zeit abwarten und dann meinen Besuch nach Belieben kürzen mögen. Das alles, und daß ich grob erscheinen müsse und meine Sache herzlich schlecht gemacht habe, fiel mir jetzt nachträglich ein, da ich mit solcher Weisheit nichts mehr anfangen konnte. Ich suchte sie mir daher auch wieder aus dem Sinn zu schlagen und begann einen fröhlichen Marsch zu pfeifen, auf den Text: »Nach Hummelshain, nach Hummelshain.«
Zu meiner, weiteren Erheiterung konnte freilich der Umstand wenig beitragen, daß mich ein Kerl einholte, der sich mir ohne weiteres anschloß, versichernd, es marschiere sich noch einmal so gut in Gesellschaft. Ich war entschieden anderer Ansicht, denn dieser Gesellschafter war weder ein zierliches Mädchen, wie die Ronneburger Pfarrerstochter, noch überhaupt ein erträgliches Wesen; vielmehr gehörte er zu der unbequemen Klasse inquisitorischer Peiniger, deren Unterhaltung sich wesentlich um die polizeilichen Fragen dreht: woher man kommt, wohin man geht, wie man heißt, was man ist und dergleichen Geheimnisse mehr. Ihn wieder loszuwerden, erlaubte ich mir die deutlichsten Manöver und Andeutungen, doch war er taub für alles und jedenfalls ein Mann, mit dem man sich nur durch die Lübecker Blume hätte verständigen können.
Mein guter Vater erzählte nämlich gern die folgende Geschichte. Zu Lübeck hatte sich ein Fremder in eine Schenke verlaufen, die sonst nur von Matrosen und anderem Seevolk besucht zu werden pflegte. Harmlos grüßend war er eingetreten; doch kaum hatte er sein Glas Wacholder verlangt, als auch die anwesenden Stammgäste schon die Köpfe zusammensteckten und augenblicklich einig waren, den Eindringling so abzubläuen, daß er das Wiederkommen vergäße. Aber ein alter Schiffszimmermann bedeutete sie: »Nicht gleich so grob, Kinder! Ich will es dem Menschen einmal erst durch die Blume zu verstehen geben.« Darauf erhob er sich, spuckte in die Hände und brüllte jenen an: »Was will die Landratte hier? Eppes spionieren? He? – Den Augenblick, verfluchter Schweinhund, pack‹ Er sich zum Teufel, oder ich zerbreche Ihm alle Knochen, die Er im Leibe hat.« Der Fremde war wie weggeblasen. Der Alte aber sagte: »Nun seht, ihr Kinder, daß man heutzutage mit etwas Höflichkeit auch noch zustande kommt. Das laßt euch zur Lehre dienen.« Diese Blumensprache hätte mein Begleiter vielleicht auch verstanden; leider konnte ich ihm aber die richtige Räson dazu, die Schiffszimmermannsfaust, nicht zeigen. Ich wußte kein Mittel, ihn abzuschütteln, und mußte mich daher in den Gedanken schicken, den ganzen Tag mit ihm behaftet zu bleiben, denn er wollte nach Kahla und hatte einen Weg mit mir bis Hummelshain. So trabten wir denn ein gut Stück Weges nebeneinander hin, bis mir der Zufall dennoch einen Ausweg zeigte.
Der einzige Trost, den jener Überlästige mir gegen sich selbst gewährte, war die Versicherung, daß er Bescheid wisse. Als wir nun aber an eine Stelle kamen, wo der Weg sich wie eine Gabel auseinanderzog, zeigte es sich, daß der Führer ebenso dumm war als der Geführte. Wir machten Halt und überlegten, doch es war kein Grund vorhanden, den einen Weg dem anderen vorzuziehen. Inzwischen schien mein Führer in der Schule was gelernt zu haben. Er schnallte seinen Tornister ab, und nachdem er unter allerlei Gepäck ein Schnupftuch von Kattun hervorgezogen, streckte er sich ins Heidekraut und breitete jenes vor sich aus. Es zeigte sich, daß eine Karte von Deutschland darauf gedruckt war, die mein Geograph jedoch in die zufällige Richtung unseres Weges, Nord gegen Süd, gelegt hatte. Ich erlaubte mir daher, ihm bemerklich zu machen, er müsse seine Karte wenigstens nach der Himmelsgegend wenden, sonst wiese sie uns nach Ronneburg zurück.
»Wollen Sie mich etwa von die Erdkunde belehren?« erwiderte er, stieß mit dem Daumen in sein Tuch und schwur: »Wenn hier nicht Kahla liegt, soll mich der Teufel holen; folglich wird links geschwenkt. Verstanden?«
Er hätte ebensogut sagen können: folglich wird rechts geschwenkt! und dann wäre ich auf jede Gefahr hin links gegangen. Ich sagte ihm, ich dächte anders, wünschte ihm glückliche Reise, und ehe er noch sein gelehrtes Tuch wieder zusammengepackt hatte, zog ich rechts ab.
»Nu! Nu!« rief er mir nach, »der Musje wird schon noch an mich denken!« Und daran hatte er nicht unrecht. War er vielleicht von Anfang an gar nicht im Zweifel gewesen und hatte sich mit seiner Landkarte nur ein Ansehen geben wollen? So viel ist sicher, daß ich falsch ging.
Fürs erste jubelte ich zwar auf. »Beatus qui solus,« sagen die Pastoren, wenn sie ohne Kollegen sind, und diese Seligkeit verstand ich jetzt vollkommen. Singend und pfeifend schritt ich wacker aus, in der Hoffnung, bald auf ein Dorf, ein Haus oder einen Menschen zu stoßen, um mich zu orientieren; ein Stündchen umgelaufen, sollte mich nicht dauern. Als aber Stunde auf Stunde verging, die Sonne mir auf Kopf und Ranzen brannte, Hunger und Durst mich anfielen, die Füße schwer wurden und ich immer nichts als Wildnis sah, da schwand allgemach der Jubel, und ich fing an, besorgt zu werden. Doch machte ich damals eine wichtige Erfindung, die mir auf allen meinen späteren Fußreisen, wenn ich müde wurde, sehr zustatten kam. Ich marschierte nämlich im Dreivierteltakt, was wenigstens die Empfindung wesentlicher Beschleunigung gibt.
›Literaturland Thüringen‹ ist eine gemeinsame Initiative von
Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen · Thüringer Literaturrat e. V. · MDR-Figaro · MDR Thüringen – Das Radio
Gestaltung und Umsetzung XPDT : Marken & Kommunikation © 2011-2024 [XPDT.DE]
© Thüringer Literaturrat e.V. [http://www.thueringer-literaturrat.de]
URL dieser Seite: [https://www.literaturland-thueringen.de/artikel/wilhelm-von-kuegelgen-in-thueringen/von-ronneburg-nach-lichtenau/]