Von Altenburg nach Hummelshain – Wilhelm von Kügelgens Jugenderinnerungen
5 : Nach Lichtenau

Person

Wilhelm von Kügelgen

Ort

Lichtenau

Thema

Von Goethes Tod bis zur Novemberrevolution

Autor

Wilhelm von Kügelgen

Jugenderinnerungen eines alten Mannes, Berlin 1870.

Schon warf die Sonne ihre längs­ten Schat­ten, und ich war so müde, daß ich mich kaum noch schlep­pen konnte – da, meinte ich, wäre es end­lich an der Zeit gewe­sen, anzu­kom­men und sich in den Armen lie­ben­der Ver­wand­ten aus­zu­pfle­gen. Aber trotz aller Not­wen­dig­keit und alles Wei­ter­schrei­tens wollte sich von der bekann­ten Hum­mels­hai­ner Gegend doch nichts zei­gen, noch irgend etwas ande­res, woran ich mich hätte zurecht­fra­gen oder ‑fin­den kön­nen. Da ging mir denn ein Licht auf über meine Sün­den, und ich bereute alles mit­ein­an­der: daß ich in Alten­burg die Post, in Ron­ne­burg das Mäd­chen und in der Wild­nis den Schnupf­tuch­mann ver­las­sen hatte, ja es hätte mir fast leid tun kön­nen, daß ich über­haupt die Reise angetreten.

Aber – ist das nicht ein lie­bes Männ­lein, was mir da ent­ge­gen­kommt? Wahr­haf­tig, das erste zwei­bei­nige Wesen, das mir heute begeg­net, seit mei­ner Tren­nung vom Geo­gra­phen. Das Ding kommt immer näher! Zwar sieht’s einer rinds­le­der­nen Mumie so ähn­lich wie ein Ei dem ande­ren – in mei­nen Augen ist’s aber doch ein Engel Got­tes, der Ret­tung bringt.

»Gott grüße, Vater! Wie weit ist’s noch nach Hummelshain?«

Das Männ­lein machte Halt: »Nach Hum­mels­hain? Na, wo kommt Er denn her?«

»Das ist egal, Väter­chen; aber ich will nach Hum­mels­hain. Seid so gut und sagt mir, wie weit ich noch habe.«

Der sah mich grin­send an und sagte: »Je nun, mit zwei gesun­den Füßen kann’s einer in sechs Stun­den allen­falls erlaufen.«

Das war ein Don­ner­schlag. Sechs Stun­den! Gerade so weit war’s vor sechs Stun­den auch gewe­sen, und jetzt waren Zeit und Kraft verbraucht.

Ich fragte nun wei­ter, ob nicht viel­leicht ein ande­rer Ort in der Nähe sei. Aber der Kerl wandte mir den Rücken und ging sei­nes Weges, brum­mend, ich würde das wohl selbst am bes­ten wis­sen. Es war nichts wei­ter mit ihm anzu­fan­gen, und blieb nur übrig, von neuem auf den müden Bei­nen Platz zu neh­men und sie zum Wei­ter­hin­ken anzu­spor­nen. Fiel ich nicht um, so schloß ich, müsse der Weg mich doch irgend­wo­hin füh­ren, und wenn es denn auch nicht Hum­mels­hain wäre, so würde es jede Schütte Stroh unter Dach und Fache auch tun. Ich war in mei­nen Wün­schen so beschei­den gewor­den, daß ich nur noch nach Ruhe ver­langte: alles andere sollte mir gleich sein.

Aber siehe da! Keine tau­send Schritte, so lich­tete sich die Hol­zung, und in nächs­ter Nähe vor mir zeigte sich ein Schloß mit einer Gruppe Häu­ser. Hum­mels­hain war’s frei­lich nicht, wahr­schein­lich Lich­tenau, aber immer­hin ein sehr erwünsch­tes Obdach für die Nacht. Ich beflü­gelte meine Schritte, so gut ich konnte, indem ich jetzt sechs Vier­tel zählte, und trat bald in eine freund­li­che Gast­stube ein, wo ich zu mei­ner Über­ra­schung hörte, daß Hum­mels­hain ganz nahe, etwa nur eine kleine Meile von hier sei. Ich werde clairvoyant

Unge­wiß­heit und Zwei­fel ermü­den mehr als wirk­li­che Stra­pa­zen. Da ich nun wußte, wo ich war, und ein nahes Ziel vor Augen hatte, kehr­ten auch die Kräfte wie­der, und ich wollte auf der Stelle wei­ter. Doch riet der Wirt, einen Boten mit­zu­neh­men, wenigs­tens bis zu einer gewis­sen Stelle, von wo aus man nicht mehr irren könne, und ver­sprach mir, einen auf­zu­trei­ben. Bis er erschien, erquickte ich mich mit But­ter­brot und Bier; dann bra­chen wir sel­ban­der auf. Mein Füh­rer war ein lan­ger, schlot­te­ri­ger Kerl mit her­ab­hän­gen­dem Hosen­bo­den und ver­sof­fe­nem Ant­litz. Vor allen Din­gen hatte er einen Schnaps auf den Weg ver­langt, den ich ihm auch ange­dei­hen ließ, indem ich mir zugleich selbst ein Glas davon in jeden Stie­fel goß – ein herr­li­ches Mit­tel, um ganz erschöpfte Kräfte noch für kurze Zeit zu spannen.

 Von Altenburg nach Hummelshain – Wilhelm von Kügelgens Jugenderinnerungen:

  1. Mit der Post von Leipzig nach Altenburg
  2. Nachts von Altenburg nach Ronneburg
  3. Nach Hummelshain, nach Hummelshain
  4. Im Gasthaus zur nassen Malzbrühe
  5. Nach Lichtenau
  6. Nachtquartier im Unterholz
  7. Quer durch den Wald nach Hummelshain
  8. Hummelshain im angenehmsten Rosenlicht
Diesen Artikel teilen:

Literaturland Thüringen‹ ist eine gemeinsame Initiative von
Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen · Thüringer Literaturrat e. V. · MDR-Figaro · MDR Thüringen – Das Radio

Gestaltung und Umsetzung XPDT : Marken & Kommunikation © 2011-2024 [XPDT.DE]
© Thüringer Literaturrat e.V. [http://www.thueringer-literaturrat.de]

URL dieser Seite: [https://www.literaturland-thueringen.de/artikel/wilhelm-von-kuegelgen-in-thueringen/nach-lichtenau/]