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Von Goethes Tod bis zur Novemberrevolution
Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes, Berlin 1870.
Der regelmäßige Pulsschlag jenes Junggesellenlebens mit dem Vater ward meinerseits durch eine Exkursion ins Thüringer Land unterbrochen. Die Reise ging nach Hummelshain. Was mich dazu veranlaßt, habe ich vergessen, wie ich mich denn überhaupt gar keines Anfangs dieser Sache mehr zu entsinnen weiß, desto lebhafter freilich der mancherlei eindrücklichen Begebenheiten ihres Fortgangs.
Die erste Erinnerung findet mich bereits in der Postkutsche auf dem Wege zwischen Leipzig und Altenburg. Der sechssitzige Wagen war nur schwach besetzt: außer mir zwei Juden und ein junges Mädchen. Die beiden ersten, gesprächige und anscheinend wohlhabende Handelsleute, hätte Falstaff schwerlich unterlassen, trotz ihrer Ringe, Uhrketten und gewaltigen Vatermörder einem Zwillingspaar von Pavianen zu vergleichen. Das junge Mädchen schien mir auch kein Engel. Ziemlich finster und etwas pockennarbig, saß sie mir gegenüber in der Ecke, hielt ihr Bündelchen auf dem Schoße und nahm nicht den geringsten Anteil am Gespräche. Trotz ihrer sauberen Kleidung hielt ich sie für irgendeine dienstbare Person und beachtete sie wenig.
Desto größere Aufmerksamkeit aber schenkte ihr der neben ihr sitzende Orientale, welcher durch die abschreckende Kälte, die sie ihm entgegensetzte, nichts weniger als entmutigt schien. Er wandte kaum den Blick von ihr und war ununterbrochen bemüht, sie ins Gespräch zu ziehen, ohne jedoch mehr aus ihr herauszubringen als ein fast widerwilliges »Ja« oder »Nein«. Immer zudringlicher ward der Jude und rückte ihr mit hereinbrechender Dämmerung so nahe, daß seine Ecke völlig frei ward.
Die damaligen Postwagen saßen auf der Achse, die Wege waren nicht zum besten, und es gab daher bisweilen Stöße, daß die Passagiere, von ihren Sitzen fliegend, gegeneinanderprallten. Eine derartige momentane Verwirrung benutzte jener, seinen Arm um die erschrockene Nachbarin zu schlingen, und versichernd, daß sie hier weniger von Stößen leiden würde, versuchte er sie auf seinen Schoß zu ziehen. Da sie sich jedoch mit Entrüstung sträubte, legte ich mich ins Mittel und bot ihr einen Platzwechsel an, der sogleich vollzogen wurde. So saß sie nun in meiner Ecke, ich beim Juden.
Der fuhr auf: ob das mein Platz sei? Ich sagte: »Ja!« und überdem sei ich entschlossen, von jetzt an in anständiger Gesellschaft zu reisen. Der Lümmel murmelte noch etwas in den Bart, und die Unterhaltung erlitt eine kleine Unterbrechung. Bald fingen jedoch die beiden sich jetzt gegenübersitzenden Landsleute untereinander ein halblautes Gespräch »von’s Geschäft« an, während meine Schutzbefohlene sich in ihr Tuch gewickelt hatte und zu schlafen schien, ich aber meinen Gedanken Audienz erteilte. Diese Gedanken waren von der angenehmsten Art: sollte ich doch morgen mittag schon in Hummelshain eintreten, die teueren Verwandten ans Herz zu schließen. Es bemächtigte sich meiner eine so freudige Unruhe, daß ich am liebsten aus dem Wagen gesprungen wäre, um nebenherzutraben.
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