Steffen Dietzsch
[Ein Stück deutscher Kulturgeschichte] Chroniken der NFG 1945–1961
Diese neue Chronik ist nicht nur eine archivalisch-empirisch aufwendige, sondern gerade auch hinsichtlich ihrer Textsorte eine philosophisch singuläre Leistung. Sie behandelt Ereignisse, Daten und Personen anders als in einschlägigen Stadt-Chroniken, wo sie als abgeschlossene, fixe, öffentliche Sachverhalte der Zeitlinie entlang präsentiert werden. Lehrke dagegen wählt und sortiert seine zeitgeschichtlichen Partikel gerade nicht historistisch, sondern synkritisch aus. Er orientiert sich mit einem geradezu stereoskopischen Blick (Ernst Jünger) in der Mannigfaltigkeit der urbanen historischen Artefakte. Das ermöglicht ihm eine außerordentliche Tiefenwahrnehmung und eine Empfindung für Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Damit ist diese Chronik mehr als eine res gestae Vimariensis; sie rekonstruiert nicht – protokollmäßig – eine vergangene herrschaftliche oder geistige Agenda, sondern ein Kunstgriff dieser Chronik ist es, das ‚Dazwischen‘ der zusammen erfassten Elemente sichtbar zu machen. Das aber bedeutet, dass Lehrke in seiner bearbeiteten Zeitreihe (1945–1961) vieles als vom Geist seiner Epoche geprägtes identifizieren kann. Er kann dann – und das ist ein methodischer Mehrwert seiner Chronik – jene (einzelnen) Erscheinungen als (allgemeine) Erfahrung ausbuchstabieren. Dabei kommt aber keine eindimensionale, finale historiographische Tendenz zum Ausdruck, etwas als ‚Tragödie der Kultur‘ oder als ein ‚Fortschreiten zum Besseren‘. Vielmehr erkennt man im Blick auf diese fünfzehn Weimarer Nachkriegsjahre ein im Goetheschen Sinn natürliches Leben, nämlich „die ewige Synkrisis und Diakrisis, das Ein- und Ausathmen der Welt, in der wir leben, weben und sind.“ (Farbenlehre, Didaktischer Teil, Aph. 739; WA II,1,296)
Dieser empirisch und begrifflich hoch disponierte Umgang mit (historischen) Erscheinungen offenbart etwas vom philosophischen Hintergrund des Chronisten Lehrke. Er hat sich seit seinen philosophischen Lehrjahren – an der alma mater lipsiensis – mit Kants Metaphysik-Kritik (an blinden Erscheinungen wie leeren Begriffen) vertraut gemacht, – insbesondere hat er philosophiehistorisch geforscht zur Relevanz kantianischer Denkformen im Bereich historischer und sozialer Praxis. Und eine Weiterführung des Begriffsbestands des kantschen Kritizismus wurde von Lehrke besonders bevorzugt, nämlich die durch den Begriff „Feld“ erreichte Möglichkeit, womit man die transzendentale Argumentationsfläche umgrenzen, d.h. konzeptualisieren konnte. Das ist der philosophisch-methodische Hintergrund von Lehrkes Arbeit an der Chronik: ein erhellender Zusammenhang der für-sich-unzusammenhängenden Einzelheiten (Empirica) stellt sich nicht schon im-Einzelnen her, sondern erst durch die sozusagen ‚Gravitation‘ des ‚Dazwischen‘, in dem ‚das Einzelne‘ in seiner Funktion oder als ‚Beiwerk‘ erkennbar wird. Dieses vom ‚Feld‘ her definierte ‚Medium‘ aber ist dann eben ‚das Soziale‘, was hier zum Sprechen gebracht wird. Der Chronist erzeugt, gewissermaßen wie mit ‚unsichtbarer Hand‘, aus jenen Ereignissen, Personen und Fakten ein eindrucksvolles – nahezu ‚pointilistisches‘ – Bild der gesellschaftlichen Kultur der Stadt Weimar zwischen Kriegsende und Mauerbau, koexistierend mit ihren Erneuerungsillusionen, überliefertem Kulturbewußtsein und gesundem Menschenverstand.
Dass Lehrke gerade Weimar vor die ‚Zeitmauer‘ (Ernst Jünger) bringt, hat mit der besonderen Rolle dieser Stadt in deutscher Geschichte und Gegenwart zu tun. Anne Germaine de Staël hatte erstmals (1813) europaweit verbreitet, dass mit Weimar „Deutschland eine literarisch-gelehrte Hauptstadt“ aufzuweisen hätte; und früher schon nannte Christoph Martin Wieland sie einmal „unser unendlich kleines Rom.“ – Weimar ist ein Ort von exemplarisch symbolischer Prägnanz für Deutschland und deshalb besonders interessant für, wie hier, eine historisch-philosophische Anamnese. Ist doch der geistig-kulturelle Zustand dieser Polis ein Symptom fürs Ganze überhaupt.
Und so erhebt sich mit dem ersten Band der Chronik Weimars und seiner Klassikstätten die Frage: wieweit eigentlich reichte ihre geistige Verwahrlosung nach dem „dirty dozen“ der Hitlerei?
Zunächst wird neben den politischen und institutionellen Umwälzungen unter der Ägide der sowjetischen Militäradministration, z.B. Enteignungen des Betriebs, Wohn- und Landeigentums, einer neue Erinnerungskultur, d.h. Umbenennungen (Nr. 35), Abrisse, Konfiskationen und neuer Kultur-Kanon (Nr. 1193), auch der Neuaufbau der zerstörten Theater- und literarischer Gedenkstätten organisiert, sowie die Rückgewinnung der Hoheit und Autonomie literarischer und künstlerischer Institutionen, Stiftungen und Gesellschaften angestrebt; so in der Shakespeare- (Nr. 1365), Goethe-(Nr. 1252) und Dantegesellschaft (Nr. 1242) – eines ihrer Vorstandmitglieder, Ulrich v. Hassel, war ein Märtyrer des Widerstands (Nr. 162). Das alles wurde unter großen ideologischen Widerständen und Schwierigkeiten in die Wege geleitet. Es wird schließlich (8. Februar 1946) der neue Kulturbund auch für Thüringen gegründet, Ricarda Huch wird im März 1946 dessen Ehrenvorsitzende (Nr. 205). Eine namhafte Verstärkung kultureller Bildung in Weimar war mit der Neugründung des ‚Deutsches-Theater-Institut‘, Juli 1947 (Nr. 470) angeschoben.
Am ersten Jahrestag der Befreiung des KZ Buchenwald (11. April 1946) läuten die Glocken in allen Kirchen Weimars, ein öffentliches Gedenken findet auf dem Hauptfriedhof statt und abends bringt in der Weimarhalle Hermann Abendroth mit der Staatskapelle Beethovens ‚Fidelio‘ zu Gehör (Nr. 241). – Ein Jahr später wird ein von Hermann Henselmann entworfenes Buchenwalddenkmal auf dem Goetheplatz enthüllt (Nr. 501).
Sehr schnell wurde in den ersten Jahren nach Kriegsende klar, dass es für die Sowjetische Besatzungszone keinen eigenen deutschen Weg zum Sozialismus geben könne: am 24. September 1948 widerruft Anton Ackermann sein Konzept vom Februar 1946, das einen demokratischen, in der Tradition der deutschen Arbeiterbewegung wurzelnden neuen antikapitalistischen Staat konstruieren wollte (Nr. 819).
In den folgenden zwölf Jahren, in den Bänden 2–4 dokumentiert, zeigt sich im Mikrokosmos ‚Weimar‘, wie obrigkeitlich mit ganz unterschiedlichen administrativen, politischen, juristischen und pädagogischen Mitteln versucht wurde, so etwas wie eine geistig-kulturelle Hegemonie sozialistischer Alltagskultur zu etablieren. Das pendelte sich aber sehr schnell auf relativ niedrigem Niveau ein (dabei bleibt es … bis zum Ende); exemplarisch: Im Dezember 1952 weist das „Volkspolizei-Kreisamt ‚letztmalig‘ [!] auf die Pflicht zur Führung eines Hausbuchs“ hin (Nr. 1928). Im Oktober 1954 berichtet ein Weimarer Germanist nach einer Tagung in Nürnberg von der „Gedankenarmut“, „inneren Hohlheit“ und „Unfähigkeit zum dialektischen Denken“ bei den Kollegen der westlichen Welt (Nr. 2667); am 4. Juni 1959 gastiert der ‚Wolga-Volkschor‘ aus Kuibyschew (Nr. 4165) und am 3. Dezember 1959 wird dem Leiter des Goethe-Schiller-Archivs, Dr. Karl-Heinz Hahn, attestiert, in seinen wissenschaftlichen Arbeiten „einen eindeutig ‚historisch-marxistischen‘ Standpunkt vermissen zu lassen.“ (Nr. 4324)
Die Auswahl und die ‚Übergänge‘ der Daten ist motiviert von einer besonderen, nur dem Chronisten eigenen Methode als sozusagen Kollateraleigenschaft seines Denkens: eine spöttische Denkungsart, die man als aristokratische Ironie bezeichnen kann und die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie die Komik-der-Dinge-selber in ihren höchst unterschiedlichen – auch grotesken – öffentlichen Gestalten zur Anschauung bringt; – draußen tragen Schüler ihnen vorgeschriebene Losungen zum 1. Mai herum (Nr. 4142), drinnen kann man Musik von Saint-Saëns (Nr. 4002) hören.
Die kulturhistorisch markante Wahrnehmung in allen vier Bänden ist die auf der Ebene der Zivilgesellschaft erkennbare dichte alltägliche Gegenwärtigkeit eines Nation wie Ethnien übergreifenden literarischen, musikalischen, künstlerischen und religiösen Kulturnetzwerkes in der Stadt. Verknüpft ist das mit den literarischen wie musikalischen Leistungen seit Barock, Aufklärung, Klassik und Romantik in der Stadt. Die ausdauernd und vielfältig gepflegte weltbürgerliche kulturelle Überlieferung in Museen, Bibliotheken, Bühnen, Kirchen, Hörsälen, Salons und Caféhäusern blieb so fast allen Anmutungen politischen, kulturrevolutionären Ansturms gegenüber immun, – sei es sozialistisch-kommunistischer Observanz oder auch modischer Moderne. – Seit 1949 (hier mit Thomas Mann) gab es periodisch verschiedentliche Goetheversammlungen, bis zu seinem frühen Tod (Februar 1949) unermüdlich moderiert von Hans Wahl (seit 1918 Leiter des Goethe-Nationalmuseums und seit 1928 Chef des Goethe-Schiller-Archivs). Im Oktober 1949 wird die erste Nachkriegsinszenierung von Faust II auf die Bühne gebracht (Nr. 1082). – Weimar wurde, wie die Chronik minutiös notiert, über die Jahre zum Weltzentrum der Klassikforschung überhaupt. Auch das Nietzsche-Archiv wird der Forschung erhalten (Nrn. 1085, 4746), russische Musik wird entdeckt, sowjetische Musiker und Dramatik werden aufgeführt (Nr. 481), anlässlich seines Todes wird (Sept. 1957) über Curzio Malaparte diskutiert (Nr. 3621), im Sophienhaus tagt (Okt. 1958) die Evangelische Akademie Thüringen zum Thema „Christus befreit – bindet die Kirche?“
Mit diesem Einblick in fünfzehn Jahre politischen und kulturellen Alltags in Weimar hat Wilfried Lehrke – aus dem Geist praktischer Philosophie – einen singulären, speziell erinnerungspolitischen Beitrag zur deutschen Kulturgeschichte im Zeitalter des Kalten Krieges vorgelegt.
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