Wilfried Lehrke – »Die Weimarer Klassikerstätten als Nationale Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar. Ereignisse und Gestalten. Eine Chronik«

Ort

Weimar

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Steffen Dietzsch

Erstdruck in Palmbaum 2/2019.

Stef­fen Dietzsch

[Ein Stück deut­scher Kul­tur­ge­schichte] Chro­ni­ken der NFG 1945–1961

 

Diese neue Chro­nik ist nicht nur eine archi­va­lisch-empi­risch auf­wen­dige, son­dern gerade auch hin­sicht­lich ihrer Text­sorte eine phi­lo­so­phisch sin­gu­läre Leis­tung. Sie behan­delt Ereig­nisse, Daten und Per­so­nen anders als in ein­schlä­gi­gen Stadt-Chro­ni­ken, wo sie als abge­schlos­sene, fixe, öffent­li­che Sach­ver­halte der Zeit­li­nie ent­lang prä­sen­tiert wer­den. Lehrke dage­gen wählt und sor­tiert seine zeit­ge­schicht­li­chen Par­ti­kel gerade nicht his­to­ris­tisch, son­dern syn­kri­tisch aus. Er ori­en­tiert sich mit einem gera­dezu ste­reo­sko­pi­schen Blick (Ernst Jün­ger) in der Man­nig­fal­tig­keit der urba­nen his­to­ri­schen Arte­fakte. Das ermög­licht ihm eine außer­or­dent­li­che Tie­fen­wahr­neh­mung und eine Emp­fin­dung für Gleich­zei­tig­keit des Ungleich­zei­ti­gen. Damit ist diese Chro­nik mehr als eine res gestae Vima­ri­en­sis; sie rekon­stru­iert nicht – pro­to­koll­mä­ßig – eine ver­gan­gene herr­schaft­li­che oder geis­tige Agenda, son­dern ein Kunst­griff die­ser Chro­nik ist es, das ‚Dazwi­schen‘ der zusam­men erfass­ten Ele­mente sicht­bar zu machen. Das aber bedeu­tet, dass Lehrke in sei­ner bear­bei­te­ten Zeit­reihe (1945–1961) vie­les als vom Geist sei­ner Epo­che gepräg­tes iden­ti­fi­zie­ren kann. Er kann dann – und das ist ein metho­di­scher Mehr­wert sei­ner Chro­nik – jene (ein­zel­nen) Erschei­nun­gen als (all­ge­meine) Erfah­rung aus­buch­sta­bie­ren. Dabei kommt aber keine ein­di­men­sio­nale, finale his­to­rio­gra­phi­sche Ten­denz zum Aus­druck, etwas als ‚Tra­gö­die der Kul­tur‘ oder als ein ‚Fort­schrei­ten zum Bes­se­ren‘. Viel­mehr erkennt man im Blick auf diese fünf­zehn Wei­ma­rer Nach­kriegs­jahre ein im Goe­the­schen Sinn natür­li­ches Leben, näm­lich „die ewige Syn­k­ri­sis und Dia­kri­sis, das Ein- und Aus­ath­men der Welt, in der wir leben, weben und sind.“ (Far­ben­lehre, Didak­ti­scher Teil, Aph. 739; WA II,1,296)

Die­ser empi­risch und begriff­lich hoch dis­po­nierte Umgang mit (his­to­ri­schen) Erschei­nun­gen offen­bart etwas vom phi­lo­so­phi­schen Hin­ter­grund des Chro­nis­ten Lehrke. Er hat sich seit sei­nen phi­lo­so­phi­schen Lehr­jah­ren – an der alma mater lip­sien­sis – mit Kants Meta­phy­sik-Kri­tik (an blin­den Erschei­nun­gen wie lee­ren Begrif­fen) ver­traut gemacht, – ins­be­son­dere hat er phi­lo­so­phie­his­to­risch geforscht zur Rele­vanz kan­tia­ni­scher Denk­for­men im Bereich his­to­ri­scher und sozia­ler Pra­xis. Und eine Wei­ter­füh­rung des Begriffs­be­stands des kant­schen Kri­ti­zis­mus wurde von Lehrke beson­ders bevor­zugt, näm­lich die durch den Begriff „Feld“ erreichte Mög­lich­keit, womit man die tran­szen­den­tale Argu­men­ta­ti­ons­flä­che umgren­zen, d.h. kon­zep­tua­li­sie­ren konnte. Das ist der phi­lo­so­phisch-metho­di­sche Hin­ter­grund von Lehr­kes Arbeit an der Chro­nik: ein erhel­len­der Zusam­men­hang der für-sich-unzu­sam­men­hän­gen­den Ein­zel­hei­ten (Empi­rica) stellt sich nicht schon im-Ein­zel­nen her, son­dern erst durch die sozu­sa­gen ‚Gra­vi­ta­tion‘ des ‚Dazwi­schen‘, in dem ‚das Ein­zelne‘ in sei­ner Funk­tion oder als ‚Bei­werk‘ erkenn­bar wird. Die­ses vom ‚Feld‘ her defi­nierte ‚Medium‘ aber ist dann eben ‚das Soziale‘, was hier zum Spre­chen gebracht wird. Der Chro­nist erzeugt, gewis­ser­ma­ßen wie mit ‚unsicht­ba­rer Hand‘, aus jenen Ereig­nis­sen, Per­so­nen und Fak­ten ein ein­drucks­vol­les – nahezu ‚poin­ti­lis­ti­sches‘ – Bild der gesell­schaft­li­chen Kul­tur der Stadt Wei­mar zwi­schen Kriegs­ende und Mau­er­bau, koexis­tie­rend mit ihren Erneue­rungsil­lu­sio­nen, über­lie­fer­tem Kul­tur­be­wußt­sein und gesun­dem Menschenverstand.

Dass Lehrke gerade Wei­mar vor die ‚Zeit­mauer‘ (Ernst Jün­ger) bringt, hat mit der beson­de­ren Rolle die­ser Stadt in deut­scher Geschichte und Gegen­wart zu tun. Anne Ger­maine de Staël hatte erst­mals (1813) euro­pa­weit ver­brei­tet, dass mit Wei­mar „Deutsch­land eine lite­ra­risch-gelehrte Haupt­stadt“ auf­zu­wei­sen hätte; und frü­her schon nannte Chris­toph Mar­tin Wie­land sie ein­mal „unser unend­lich klei­nes Rom.“ – Wei­mar ist ein Ort von exem­pla­risch sym­bo­li­scher Prä­gnanz für Deutsch­land und des­halb beson­ders inter­es­sant für, wie hier, eine his­to­risch-phi­lo­so­phi­sche Ana­mnese. Ist doch der geis­tig-kul­tu­relle Zustand die­ser Polis ein Sym­ptom fürs Ganze überhaupt.

Und so erhebt sich mit dem ers­ten Band der Chro­nik Wei­mars und sei­ner Klas­sik­stät­ten die Frage: wie­weit eigent­lich reichte ihre geis­tige Ver­wahr­lo­sung nach dem „dirty dozen“ der Hitlerei?

Zunächst wird neben den poli­ti­schen und insti­tu­tio­nel­len Umwäl­zun­gen unter der Ägide der sowje­ti­schen Mili­tär­ad­mi­nis­tra­tion, z.B. Ent­eig­nun­gen des Betriebs, Wohn- und Land­ei­gen­tums, einer neue Erin­ne­rungs­kul­tur, d.h. Umbe­nen­nun­gen (Nr. 35), Abrisse, Kon­fis­ka­tio­nen und neuer Kul­tur-Kanon (Nr. 1193), auch der Neu­auf­bau der zer­stör­ten Thea­ter- und lite­ra­ri­scher Gedenk­stät­ten orga­ni­siert, sowie die Rück­ge­win­nung der Hoheit und Auto­no­mie lite­ra­ri­scher und künst­le­ri­scher Insti­tu­tio­nen, Stif­tun­gen und Gesell­schaf­ten ange­strebt; so in der Shake­speare- (Nr. 1365), Goe­the-(Nr. 1252) und Dan­te­ge­sell­schaft (Nr. 1242) – eines ihrer Vor­stand­mit­glie­der, Ulrich v. Has­sel, war ein Mär­ty­rer des Wider­stands (Nr. 162). Das alles wurde unter gro­ßen ideo­lo­gi­schen Wider­stän­den und Schwie­rig­kei­ten in die Wege gelei­tet. Es wird schließ­lich (8. Februar 1946) der neue Kul­tur­bund auch für Thü­rin­gen gegrün­det, Ricarda Huch wird im März 1946 des­sen Ehren­vor­sit­zende (Nr. 205). Eine nam­hafte Ver­stär­kung kul­tu­rel­ler Bil­dung in Wei­mar war mit der Neu­grün­dung des ‚Deut­sches-Thea­ter-Insti­tut‘, Juli 1947 (Nr. 470) angeschoben.

Am ers­ten Jah­res­tag der Befrei­ung des KZ Buchen­wald (11. April 1946) läu­ten die Glo­cken in allen Kir­chen Wei­mars, ein öffent­li­ches Geden­ken fin­det auf dem Haupt­fried­hof statt und abends bringt in der Wei­ma­r­halle Her­mann Abend­roth mit der Staats­ka­pelle Beet­ho­vens ‚Fide­lio‘ zu Gehör (Nr. 241). – Ein Jahr spä­ter wird ein von Her­mann Hen­sel­mann ent­wor­fe­nes Buchen­wald­denk­mal auf dem Goe­the­platz ent­hüllt (Nr. 501).

Sehr schnell wurde in den ers­ten Jah­ren nach Kriegs­ende klar, dass es für die Sowje­ti­sche Besat­zungs­zone kei­nen eige­nen deut­schen Weg zum Sozia­lis­mus geben könne: am 24. Sep­tem­ber 1948 wider­ruft Anton Acker­mann sein Kon­zept vom Februar 1946, das einen demo­kra­ti­schen, in der Tra­di­tion der deut­schen Arbei­ter­be­we­gung wur­zeln­den neuen anti­ka­pi­ta­lis­ti­schen Staat kon­stru­ie­ren wollte (Nr. 819).

In den fol­gen­den zwölf Jah­ren, in den Bän­den 2–4 doku­men­tiert, zeigt sich im Mikro­kos­mos ‚Wei­mar‘, wie obrig­keit­lich mit ganz unter­schied­li­chen admi­nis­tra­ti­ven, poli­ti­schen, juris­ti­schen und päd­ago­gi­schen Mit­teln ver­sucht wurde, so etwas wie eine geis­tig-kul­tu­relle Hege­mo­nie sozia­lis­ti­scher All­tags­kul­tur zu eta­blie­ren. Das pen­delte sich aber sehr schnell auf rela­tiv nied­ri­gem Niveau ein (dabei bleibt es … bis zum Ende); exem­pla­risch: Im Dezem­ber 1952 weist das „Volks­po­li­zei-Kreis­amt ‚letzt­ma­lig‘ [!] auf die Pflicht zur Füh­rung eines Haus­buchs“ hin (Nr. 1928). Im Okto­ber 1954 berich­tet ein Wei­ma­rer Ger­ma­nist nach einer Tagung in Nürn­berg von der „Gedan­ken­ar­mut“, „inne­ren Hohl­heit“ und „Unfä­hig­keit zum dia­lek­ti­schen Den­ken“ bei den Kol­le­gen der west­li­chen Welt (Nr. 2667); am 4. Juni 1959 gas­tiert der ‚Wolga-Volks­chor‘ aus Kui­by­schew (Nr. 4165) und am 3. Dezem­ber 1959 wird dem Lei­ter des Goe­the-Schil­ler-Archivs, Dr. Karl-Heinz Hahn, attes­tiert, in sei­nen wis­sen­schaft­li­chen Arbei­ten „einen ein­deu­tig ‚his­to­risch-mar­xis­ti­schen‘ Stand­punkt ver­mis­sen zu las­sen.“ (Nr. 4324)

Die Aus­wahl und die ‚Über­gänge‘ der Daten ist moti­viert von einer beson­de­ren, nur dem Chro­nis­ten eige­nen Methode als sozu­sa­gen Kol­la­te­ral­ei­gen­schaft sei­nes Den­kens: eine spöt­ti­sche Den­kungs­art, die man als aris­to­kra­ti­sche Iro­nie bezeich­nen kann und die dadurch gekenn­zeich­net ist, dass sie die Komik-der-Dinge-sel­ber in ihren höchst unter­schied­li­chen – auch gro­tes­ken – öffent­li­chen Gestal­ten zur Anschau­ung bringt; – drau­ßen tra­gen Schü­ler ihnen vor­ge­schrie­bene Losun­gen zum 1. Mai herum (Nr. 4142), drin­nen kann man Musik von Saint-Saëns (Nr. 4002) hören.

Die kul­tur­his­to­risch mar­kante Wahr­neh­mung in allen vier Bän­den ist die auf der Ebene der Zivil­ge­sell­schaft erkenn­bare dichte all­täg­li­che Gegen­wär­tig­keit eines Nation wie Eth­nien über­grei­fen­den lite­ra­ri­schen, musi­ka­li­schen, künst­le­ri­schen und reli­giö­sen Kul­tur­netz­wer­kes in der Stadt. Ver­knüpft ist das mit den lite­ra­ri­schen wie musi­ka­li­schen Leis­tun­gen seit Barock, Auf­klä­rung, Klas­sik und Roman­tik in der Stadt. Die aus­dau­ernd und viel­fäl­tig gepflegte welt­bür­ger­li­che kul­tu­relle Über­lie­fe­rung in Museen, Biblio­the­ken, Büh­nen, Kir­chen, Hör­sä­len, Salons und Café­häu­sern blieb so fast allen Anmu­tun­gen poli­ti­schen, kul­tur­re­vo­lu­tio­nä­ren Ansturms gegen­über immun, – sei es sozia­lis­tisch-kom­mu­nis­ti­scher Obser­vanz oder auch modi­scher Moderne. – Seit 1949 (hier mit Tho­mas Mann) gab es peri­odisch ver­schie­dent­li­che Goe­the­ver­samm­lun­gen, bis zu sei­nem frü­hen Tod (Februar 1949) uner­müd­lich mode­riert von Hans Wahl (seit 1918 Lei­ter des Goe­the-Natio­nal­mu­se­ums und seit 1928 Chef des Goe­the-Schil­ler-Archivs). Im Okto­ber 1949 wird die erste Nach­kriegs­in­sze­nie­rung von Faust II auf die Bühne gebracht (Nr. 1082). – Wei­mar wurde, wie die Chro­nik minu­tiös notiert, über die Jahre zum Welt­zen­trum der Klas­sik­for­schung über­haupt. Auch das Nietz­sche-Archiv wird der For­schung erhal­ten (Nrn. 1085, 4746), rus­si­sche Musik wird ent­deckt, sowje­ti­sche Musi­ker und Dra­ma­tik wer­den auf­ge­führt (Nr. 481), anläss­lich sei­nes Todes wird (Sept. 1957) über Cur­zio Mala­parte dis­ku­tiert (Nr. 3621), im Sophi­en­haus tagt (Okt. 1958) die Evan­ge­li­sche Aka­de­mie Thü­rin­gen zum Thema „Chris­tus befreit – bin­det die Kirche?“

Mit die­sem Ein­blick in fünf­zehn Jahre poli­ti­schen und kul­tu­rel­len All­tags in Wei­mar hat Wil­fried Lehrke – aus dem Geist prak­ti­scher Phi­lo­so­phie – einen sin­gu­lä­ren, spe­zi­ell erin­ne­rungs­po­li­ti­schen Bei­trag zur deut­schen Kul­tur­ge­schichte im Zeit­al­ter des Kal­ten Krie­ges vorgelegt.

  • Wil­fried Lehrke: Die Wei­ma­rer Klas­si­ker­stät­ten als Natio­nale For­schungs- und Gedenk­stät­ten der klas­si­schen deut­schen Lite­ra­tur in Wei­mar. Ereig­nisse und Gestal­ten. Eine Chro­nik, Bucha b. Jena: quar­tus-Ver­lag, Bd. 1 (1945–1949), 2014, 216 S.; Bd. 2 (1950–1953), 2016, 256 S.; Bd. 3 (1954–1957), 2017, 276 S.; Bd. 4 (1958–1961), 2019, 264 S.
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