Werner Weimar-Mazur – »Ukrajina-Zyklus«

Person

Werner Weimar-Mazur

Ort

Weimar

Thema

Stimmen gegen den Krieg

Autor

Werner Weimar-Mazur

Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

die wan­der­be­we­gun­gen des todes

stim­men wandern
und die tiere ihnen voraus

die auf einer bahre getragene
stimme des todes
durch das tor betrat sie die stadt
ging bet­teln in den straßen
bis die men­schen ihr gaben
alles geld allen reich­tum alles glück der welt

aus dem land der löwen
zogen löwen­men­schen nach norden
in kalk­stein­höh­len in einem kal­ten land
zu den bären und tigern
den rehen hir­schen und eisvögeln
jag­ten sie den schnee

in die wei­che haut des todes
sin­ken stimmen

****

erst kom­men die ver­step­pun­gen dann die verwüstungen

die spie­len­den augen der kinder
das gras war schon fort

das zit­tern in der stimme kommt
von den einschlägen
erklärt er uns
in der stadt wächst die angst

flucht­ge­dan­ken nur wenige
wol­len blei­ben und sterben

es ist ein biss­chen wie früher
im winterkrieg
nur dass der schnee lang­sam taut
die angrei­fer ein­mal brü­der und schwes­tern waren

der wald bie­tet keine
ver­ste­cke mehr

sagt er uns und wen­det den blick
zu boden
der ein­mal mut­ter­erde hieß
und alle ernährte

wir könn­ten sin­gen schlägt er uns vor
aber das hilft nicht gegen sterben

und auf ein­mal sin­gen wir
vom him­mel über den kornfeldern
von den kosaken
die ihre mäd­chen verließen

fal­ken flo­gen über die dörfer
und schlu­gen tauben

schöne hin­ter den ber­gen hin­ter dem meer
leuch­tet die freiheit
und die augen der kin­der spie­len weiter
mit dem lange ver­schwun­de­nen gras

****

die augen des despoten

gespie­gelte land­schaf­ten gespie­gelte städte
echo­räume für die stimmen
und die toten

eine liste von namen
keine grä­ber keine grabsteine

und die augen haben arme
hand
langer

an die ver­las­se­nen strände
spült sein letz­ter speichel
den lei­chen­ge­ruch der geschichte

den ent­kom­me­nen
bleibt ein­zig die atemlosigkeit

****

Київ – Kyjiw

das letzte grün des abend­him­mels durchschritt
den schall­ke­gel des sirenengeheuls
auf den stra­ßen die men­schen rannten
hinterher
war nur noch stille

und stim­men aus dem off hoben an
zu grü­nen gesängen
bis weit in die nacht
schüsse rake­ten­ein­schläge in die vie­len zuhause
erst am mor­gen erstar­ben die stimmen

ares per­sön­lich war vorgerückt
zu wüten
der krieg ist der vater aller dinge heißt es
und er zeugte kin­der mit häss­li­chen antlitzen
die den frat­zen von des­po­ten glichen

die stadt war ausgelaufen
ihr blut rann durch die straßen
schwappte über die ränder
durch die tore hin­aus auf die felder
legte sich ein meer aus schat­ten übers land

Ще не вмерла Україна
noch ist die Ukraine nicht gestorben
ich gehe allein über eine straße aus zeit
lemu­ren dre­hen die sand­uh­ren um
welt verrieselt

****

Україна – Ukrajina

das buch des lebens ist leer geschrieben
jetzt beginnt das buch des todes

wir haben die trau­rig­keit erkannt
sie kam nicht in einem gedicht
wir haben die trauer erkannt
sie kam in einem krieg
gegen ende des winters
es wollte bald früh­ling werden
das eis der flüsse und auf den bergen
begann zu schmelzen
die bären hiel­ten noch winterschlaf
nur einer erwachte vor der zeit

begann vor der zeit sich neuen speck anzufressen
fraß menschen
er fand sie im süd­li­chen land gegen das meer
er wütete in den städten
und auf dem fla­chen land

und für die trau­rig­keit und die trauer
fehl­ten auf ein­mal die worte
es gab keine gedichte mehr
kein lachen
spie­gelte sich im kla­ren schmelz­was­ser der bäche

ich höre jetzt auf zu schreiben
höre auf zu singen
beginne
zu schreiben
zu singen

****

die far­ben des korns und des him­mels ver­blas­sen nicht

wir hat­ten worte als währung
und bezahl­ten mit versen
unsere gär­ten blüh­ten und tru­gen reich­lich früchte
auf der schwar­zen erde
wuchs etwas wie vertrauen
die züge und busse hol­ten die menschen
fort vom fla­chen land in die städte
weit weg in fremde fla­che länder
wo sie gemüse ern­te­ten für ihre neuen herren
die worte und verse ver­schwan­den für geld
singe Halyna singe noch einmal
das lied der sümpfe Polissja
der wil­den pferde die am fluss­ufer grasten
auf den hügeln wiegte sich das licht im wind

eines tages
wer­den die pan­zer ver­schwun­den sein
die rake­ten verstummt
der schutt in den städ­ten fortgeräumt
und neue leben wie­der aufgebaut

bis dahin fül­len wir unsere lee­ren kammern
mit tränen
alle flüsse flie­ßen in ein schwar­zes meer
und mit ihnen unsere schwarze erde

 

(geschrie­ben vom 24. Februar bis zum 2. März 2022)

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