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Von Goethes Tod bis zur Novemberrevolution
Harry Graf Kessler
Das Tagebuch 1880-1937, Bd. 3, Stuttgart 2004.
Weimar, 24. Januar 1902
Hofball in Weimar. Hübscher Empire Saal mit Kerzen erleuchtet. Die Gesellschaft nicht wesentlich uneleganter als in Berlin, wenigstens côté des dames. Aber ein komisch gespanntes Verhältnis zwischen Palézieux und den Infanterie Leutnants. Überhaupt ragt hier schon das Komiß deutlicher in die Gesellschaft herein als in Berlin. Zwischen Hof und Offizieren heute Abend vier oder fünf »ernsthafte« Rempeleien. Resultat: Palézieux beschwert sich, zwei oder drei Leutnants beschweren sich, der Oberst beschwert sich, Egloffstein hat sich mit einem jüngsten Leutnant gefordert und wieder beigelegt. Charakteristikum der kleinen Stadt und des kleinen Hofs: Alles ist von Intrigen und Aigriertheit untergraben. Grund: Alle Leute haben Nichts zu tun und haben unendlich viel Zeit. Alle Leute fühlen sich zurückgesetzt, schon weil sie an einem kleinen Hof und in einem kleinen Land agieren statt in Berlin. Allen bieten sich die Intrige und der Klatsch als die am leichtesten zu erreichende Beschäftigung. Daher knistert und knattert es immerfort im Untergrund von springenden Minen, oder richtiger von Lustfeuerwerk, mit dem man sich die Zeit vertreibt. Ein Studium hier lehrt Einen die kleinen Seiten der menschlichen Seele besser kennen als irgendwo anders: Reinkulturen des menschlichen Schimmelpilzes. Besondres Charakteristikum: es kommt immer Nichts darauf an, ob eine Intrige so oder so verläuft. In der Welt wird weder im einen noch im andren Falle Etwas Anders. Das wissen die Intriganten; daher größere Gewissenlosigkeit als z.B. in Berlin. Künstlerisch interessant, dieses Kleine überall bis ins Große zurückzuverfolgen, aus dem es durch eine Art von Metamorphose wird. Willenschemie. Die ernsthafte Frage ist, ob sich diese Kleinheitsprodukte wieder zu Etwas Großem verschmelzen lassen, und in welcher Retorte. Der Großherzog mit mir über Malkowskis Angriff auf Van de Velde geringschätzend.
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