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Von Goethes Tod bis zur Novemberrevolution
Rainer Maria Rilke
Rainer Maria Rilke - Helene von Nostitz. Briefwechsel. Hg. von Oswalt von Nostitz, Frankfurt am Main 1976.
Grand Hotel Continental München, 14. Sept. 1911
Meine liebe gnädigste Frau,
eine Strömung, stellen Sie sich vor, von Geschäften hat mich vor der Zeit von Leipzig fortgetragen und, ach, aus Auerbachs Umgebung weit hinaus: Ihr Brief erreichte mich eben noch in Berlin, ein paar Stunden darauf reiste ich weiter und nun spar ich mir schnell den Augenblick aus, Ihnen zu danken. Es ist mir ein liebes herzliches Bewußtsein, bei Ihnen fast erwartet gewesen zu sein und auch die Möglichkeit, es unter Umständen nicht sein zu können, ist so guter und glücklicher Natur, daß ich aus Teil und Gegenteil gleichmäßig Freude ziehe.
In Lautschin ist, kurz nach meinem Fortgehen von dort, auch ein liebes willkommenes Enkelkind zur Sommerwelt gekommen, und ich hatte das Gefühl, als ob diese lange, in sich versicherte Jahreszeit als Vorbereitung und Vorgefühl jenes Ereignisses ganz besonders freundlich und angemessen sei.
Wir fuhren dann mitten aus Böhmen im Auto bis Leipzig, ja weiter bis Weimar, das ich noch ganz im Lichte meines damaligen bei-Ihnen-Seins wiedersah; zwar fand ich es nicht so unbedingt schön –, in seinem alten Wesen vielmehr erhalten als existierend und vom unnachgiebigen Sommer recht mitgenommen, – aber umso eher kam ich diesmal, da das Gefühl nicht Alles blieb, zu allerhand Kenntnis und Einsicht, eine und die andere Figur erschien mir hell an der Goethe zugekehrten Seite, im Archiv las ich einen herrlichen Brief Bettinens und fand jenes Blatt, auf das Goethe in so wundervoll plötzlicher Strömung: Alles kündet dich an geschrieben hat. Überdies sah ich Tiefurt, das bescheidene, – und sah Belvedere wieder und empfand auf das Unmittelbarste im Witttumspalais was noch an Nachklang gemeinsamer Lesestunden um den großen Abendtisch der Herzogin Anna Amalia verschwingen mag. Dort widerfuhr mir ein kleines Erlebnis, als wir oben in den blauen Salon (neben dem Ballsaal) eintraten, entfernte ich mich von der am Eingang vor einem Bild sich zusammenhaltenden Gruppe von Leuten und hatte die Überraschung, aus einem der verhängten, gedämpft scheinenden Fenster einen großen schönen dunkeln Schmetterling irgendwie bedeutsam und ausdrücklich auf mich zukommen zu sehen (ich wandte mich unwillkürlich um, niemand hatte ihn bemerkt); er bewegte sich langsam und gefällig an der Stille hin, wendete sich, zögerte in einer sonnigen Stelle der Luft und zog dann, so recht allein und hinreichend, mitten durch die offene Flügeltür in den schönen Tanzsaal ein, (schwer in seinem Leichtsein wie der Blick eines dunkeln Auges) bog nach einiger Zeit dort entschlossen ab, verschwand nach links –, und war, als wir in einer Weile alle dort herumtraten, nirgends zu sehen. Das alles ging so seltsam ausführlich vor sich, verging in seinem bißchen Zeit so langsam, daß es ebenso zeitlos wie vertraulich war, lieblich-ernst, voll besonderer Mittheilung –, ich wollt es Ihnen erzählen, vielleicht läßt sich Weimar drinnen erkennen und grüßt Sie so.
Eben sah ich Hofmannsthal, in der alten Pinakothek, in einem Saal unbeschreiblich schöner Greco-Bilder, von deren großer und entschiedener Gegenwart man so eingenommen war, daß man sich mehr versprach, sich wiederzusehen als daß man sich wirklich sah. Von hier aus, in einigen Tagen, treibt’s mich, vielleicht noch über einen kleinen Umweg, auf Paris zu und erst dort wird sich entwickeln wie und wohin; denn das Bleiben scheint mir fürs nächste noch nicht recht wahrscheinlich, ich habe noch viel zu viel Bedürfnis nach Ländlichkeit in mir, um mich schon städtisch einzuwintern.
Finden Sie in diesen Zeilen recht viel von der treuen Zugetanheit, die ich Ihnen so gern selbst erinnert hätte, die Sie Beide sicher aber auch so glauben
Ihrem Rilke
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