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Von Goethes Tod bis zur Novemberrevolution
Gabriele Reuter
Gabriele Reuter: Vom Kinde zum Menschen. Die Geschichte meiner Jugend, Berlin 1921.
Hätte Herr von Loën noch gelebt, wäre Weimar sicher eher mit den Worten des großen Norwegers bekannt gemacht worden. Sein Nachfolger, Herr von Vigneau war weniger geneigt, neue fremdartige Erscheinungen in seinen Kreis zu ziehen. Schon war in Berlin die literarische Welt in heftigster Erregung im Kampfe für und wider Ibsen. Die »Gespenster« und »Nora« bildeten den Stoff zu den wildesten Weltanschauungsdebatten – und wir in Weimar hatten zu Beginn des Jahres 1889 immer noch nichts von Henrik Ibsens Dramen gesehen. Das war ein armseliger Zustand. Frau von Meyendorf, die geistvolle Russin und Freundin Liszts, sprach dem Großherzog zuerst von der Notwendigkeit, nicht allzusehr in Kulturfragen hinter Berlin zurückzubleiben, und regte eine Aufführung der »Frau vom Meere« an. Der Befehl von oben erging, ihm mußte sich auch Herr von Vigneau beugen, und er erwarb für Deutschland das Recht der Erstaufführung der »Frau vom Meere«. Wie er geäußert haben soll, mit der Absicht, dem weimarischen Publikum ein für allemal den unheimlichen Neuling und geistigen Revolutionär zu verleiden. Wir hatten eine recht gute Aufführung, Hidegard Jenicke war vorzüglich, denn sie legte in die Darstellung der sehnsuchtsvollen Frau ihr ganzes reiches Menschentum und alle Wünsche in die Freiheit und Weite hinaus, die auch ihr ungestümes Herz durchrauschen mochten. Der Erfolg war stark und ehrlich. Man war gefangen von dem Menschenfischer – gerade dieses Drama konnte man verstehen in einer Stadt, wo viel Geistiges sich nach Befreiung sehnte, und doch von Liebespflichten gehalten in ernster Selbstverantwortung freiwillig in der Enge aushielt. In mir rührte es alle tiefsten und geheimsten Kämpfe auf.
Trotz des Publikumserfolges hatte ich das Gefühl, bei der Animosität der Intendanz gegen Ibsen, werde er kaum von dem schönen Erfolg erfahren. Und so war es auch in der Tat. Ich sah den Dichter vor mir, wir er ein Jahr zuvor, beim Münchener Schriftstellertage, am Nebentisch gesessen und ich mich in die Beobachtung seines merkwürdigen Kopfes hatte vertiefen dürfen. Und ich wagte es und schrieb ihm, der zu derselben Zeit der Erstaufführung seines Werkes in Christiania beigewohnt hatte. Ich sagte ihm gleich zu Anfang meines Briefes, daß ich bisher weder ein Stück von ihm gesehen noch etwas von ihm gelesen habe; danach möge er mein Urteil bewerten. Möglichst sachlich schilderte ich die Leistungen der Schauspieler, meinen eigenen Eindruck und den Erfolg beim Publikum. Ich erhielt in der eigenartig abgezirkelten Handschrift Ibsens sehr schnell einen freundlichen, doch konventionellen Dank.
Das Stück wurde wiederholt und fiel dann in die Versenkung. Einige Wochen später kam meine gute Freundin Jenicke in vollster Aufregung zu mir gestürzt.
»Stellen Sie sich vor, Ibsen hat die Absicht, von Berlin aus nach Weimar zu kommen. Und der Intendant will ihm zu Ehren ‚Die Maus‘ von Paillcron geben, weil er nicht geneigt ist, das Repertoir zu ändern! Weimar ist ewiger Lächerlichkeit verfallen, wenn man an dem Tage, an dem Ibsen in Weimar weilt, ‚Die Maus‘ von Paillcron gibt!«
Ich mußte jetzt schon bei dieser Vorstellung lachen.
»Nein, das geht wirklich nicht!«
»Wir müssen uns an den Großherzog wenden«, sagte die Jenicke. »Aber Sie begreifen, ich kann nichts tun hinter dem Rücken des Intendanten!«
»Und ich kenne weder Frau von Meyendorf noch sonst jemand, der das Ohr des Großherzogs besitzt … Halt – mir fällt etwas ein! Es gibt eine alte Dame – die ist in ihrer Jugend Blütentagen vom Großherzog Carl Alexander geliebt worden – in allen Ehren natürlich, sie hat ihm ein paarmal Briefe an Fädchen aus ihrem Fenster gelassen und er hat sie aufgefangen – außerdem haben sie beide als Kinder bei Goethe zusammen Ostereier gesucht« Sie wissen, wie treu unser alter Herr an seinen Jugenderinnerungen hängt. Er besucht die alte Dame noch immer und hat ihr oft versichert, wenn sie ihm je einen Wunsch aussprechen würde, könnte sie einer Erfüllung sicher sein! Die alte Dame muß heran und ihren Wunsch aussprechen« Es ist wie im Märchen!«
Ich stülpte meinen Hut auf und rannte voller Eifer in die Schillerstraße, wo die Gymnasiasten mit den kleinen Pensionsbackfischen zu poussieren pflegten, wo auch die grauhaarige Dame sicher einmal auf und ab gewandelt war und den schüchtern-vornehmen Gruß des jungen Fürstensohnes in Empfang genommen hatte.
Ja – sie versicherte mir nochmals, den Wunsch habe sie niemals ausgesprochen, denn die Freundschaft des alten Herrn sei ihr lieber gewesen als alle erfüllten Wünsche. Als ich ihr aber die schreckliche Sachlage mit der »Maus« und »Ibsen« schilderte, war sie gleich bereit, sich für Weimars Ehre einzusetzen. Wir verfaßten gemeinsam den Brief an den Großherzog, sie unterschrieb und sandte ihn ins Schloß.
Ibsen kam – und auf dem Theaterzettel stand: die »Frau vom Meere«. – Wir triumphierten. Übrigens wird man wohl auch von anderer Seite das Unziemliche dieser »Maus« eingesehen haben.
Am Abend nach der Vorstellung sollte bei einem norwegischen Ehepaar, Jugendbekannten des Dichters, ein Empfang stattfinden. Ich kannte die Leute persönlich nicht, doch da sie möglichst viele Verehrer ihres großen Landsmannes versammeln wollten, wurde ich durch Vermittlung der Jenicke aufgefordert, zu erscheinen – selbstverständlich durfte die alte Dame nicht fehlen.
Die Aufführung war nicht so gut gewesen wie die erste. In dem Wunsche, ihr Bestes für den Dichter zu geben, hatten die Schauspieler alle ein wenig im Spiel übertrieben, wodurch die verscheierte, verträumte, abseitige Stimmung, die über der ersten Aufführung ruhte, empfindlich gestört wurde. Doch als ich kam, die Jenicke abzuholen und sie so strahlend vor Glück sah, dem Verehrten persönlich gegenübertreten zu dürfen, wagte ich nicht, ihr das zu sagen. Sie trug einen großen Strauß rosa und weißer Hyazinthen, den sie mit einem breiten rosa Band umschlungen hatte, auf das ihr eine junge Verehrerin kleine Landschaften vom Meeresufer gemalt hatte. Daß sie sich dieses Bandes entäußerte, war eine mädchenhafte Huldigung, deren Wert Ibsen wohl kaum zu schätzen wußte.
Ich war durch Freunde in der Garderobe etwas länger zurückgehalten worden und betrat den Empfangsraum bei den Norwegern erst, als Darstellerin und Dichter sich schon begrüßt hatten.
Inmitten eines Halbkreises der hohen würdigen, weimarischen Geistesspitzen, dem schönen Sänger Herrn von Milde, dem Dichter Ölschläger mit dem prachtvollen Vollbart, dem schlanken, ein wenig nach vorn geneigten geistreichen Bibliothekar Herrn von Bojanowsky und einigen eleganten Herren vom Hofe stand die stämmige Gestalt Henrik Ibsens, im schwarzen Rock, mit der strengen, gewaltigen Stirne, dem gesträubten Haar, dem fein-verkniffenen Munde und dem Schifferbart, im Arme, verlegen und ungeschickt, als trüge er ein Taufkind, den weiß und rosa Hyazinthenstrauß haltend, dessen rosenrote Schärpe samt ihren Meereslandschaften lang an ihm herunterwallte. Die alte Dame, die sich harmlos als eine der wichtigsten Personen des Abends fühlte, befand sich neben dem Dichter. Sie trug ein altmodisches Seidenkleid, eine Spitzenbarbe über den falschen, immer zerzausten Scheiteln und sprach, da sie ziemlich taub war, mit lauter Stimme auf Ibsen ein, der ihren Wortschwall geduldig und ohne etwas zu erwidern über sich ergehen ließ.
Und nun kam ich auch noch dazu und stellte mich ihm als die Briefschreiberin vor. Sein Gesicht erhellte sich freundlich. »O –» sagte er mit seiner hohen, feinen Stimme, die so seltsam überraschend wirkte, »Sie haben mir diesen Brief geschrieben? Ich danke Ihnen. Es war ein sehr merkwürdiger Brief! Sehr merkwürdig für eine Frau – man hatte den Eindruck: es muß sich alles so verhalten haben!«
Die alte Dame äußerte ihre Zweifel, ob ein junger Mensch wie ich wohl die Tiefe dieser Dichtung erfassen könnte?
Da lächelte mir Ibsen recht vertraulich zu – und es war, als ob ein Sonnenstrahl über eine Granitwand glitte – und antwortete leise, zu mir hin:
»Sie hat mich schon verstanden. Sie hat mich gut verstanden!«
Und dann lebhafter:
»Ich habe Sie schon einmal gesehen? In München?«
»Ja – in München, auf dem Schriftstellertag – aber es ist schon über ein Jahr her – daß sie das noch wissen, Herr Doktor?«
Er lächelte wieder und sagte: »Ich habe mich damals nach Ihnen erkundigt und hörte, Sie seien eine Wiener Schauspielerin – und Sie sind doch augenscheinlich etwas ganz anderes!«
»Ach ja – etwas ganz anderes«, wiederholte ich mit einem innerlichen Seufzer, der ein kleines Lachen wurde, und bemerkte: an meinem Tische habe eine Wiener Schauspielerin gesessen, dadurch erklärte sich das Mißverständnis. Meine eigenen Versuche auf dem Felde der Literatur verschwieg ich klüglich und zog mich zurück, denn ich war ja ein ganz unbedeutendes, älteres junges Mädchen, und man schien es schon von seiten der würdigen Männer mit Verwunderung und Mißbilligung zu betrachten, daß der große Gast sich so lange mit mir unterhielt.
Im Verlaufe des Abends suchte ich mich soviel wie möglich in Ibsens Nähe aufzuhalten und lauschte auf all die Phrasen, die ihm zu Ehren, den man bis dahin so scharf verurteilte, heute geformt wurden. Einen Schauspieler hörte ich sagen, ob der Meister mit seiner Auffassung der Rolle einverstanden sei? Er bekam die Antwort: »Ich habe mir etwas ganz anderes gedacht – aber es war interessant zu sehen, was Sie aus dem Charakter gemacht haben.«
Interessant war es auch, wie er einmal mit wenigen kurzen Worten das landläufige Rezitieren von Gedichten verurteilte. »Gedichte müssen gesprochen werden – nicht deklamiert.« Einen Rat, den ich unseren vielen jungen Rezitatorinnen weitergebe.
Während man sich an einem aufgestellten Büfett stärkte und nachdem Sekt gereicht worden war, begann der norwegische Gastgeber eine Rede zu halten, die vielleicht scherzhaft sein sollte, aber ein wenig entgleiste. Er begann: in Berlin werde jetzt ein großer Walfisch gezeigt, den der Volkswitz »den Mann vom Meere« genannt habe. Auch wir hätten heute einen großen Gast aus dem Norden unter uns – drum: Ein Hoch dem Mann vom Meere!
»Also als ein großer Walfisch soll ich leben!« antwortete der Dichter gutlaunig, und man stieß an, lachend, um über die wunderliche Wendung fortzukommen.
Ibsen hatte schon ein Diner beim Großherzog und die Theateraufführung hinter sich. Während sich die norwegische Sängerin, die früher eine Zeitlang bei Behmers gewohnt hatte, im Nebenzimmer hören ließ, saß er auf einem Sofa, drehte die Daumen immer langsam umeinander und – schlief ein. Es sollte ihm keine lange Ruhe gewährt werden, die alte Dame saß neben ihm und schrie ihm plötzlich in die Ohren: »Herr Doktor – ein Gedicht von Ihnen!« Er schrak auf, blickte mich hilflos an und sagte verwirrt: »Von mir? Das erinnere ich mich nicht.!« »Es ist ein altes norwegisches Volkslied«, bemerkte ich, die das Lied von der Sängerin oft gehört hatte. Als sie ein neues begann, fragte er scheinbar ernsthaft: »Ist das auch von mir?« Die Norwegerin kam herein, setzte sich dem Dichter gegenüber, wartete bescheiden und doch gespannt auf ein Wort der Anerkennung. Er drehte die Daumen weiter umeinander, peinliches Schweigen. Eine Dame in hellila Seide nahm sich der Sache an und überschüttete die Künstlerin mit Schmeicheleien, bat sie um Fortsetzung.
Da öffnete Ibsen plötzlich die Augen, reckte sich auf und rief laut: »Auch noch deklamieren? Bitte – nur nicht!«
Seine Landsmännin hatte den Humor, herzlich zu lachen. Er entschuldigte sich auch sofort: »Mein liebes Kind – Sie können ja singen, soviel Sie wollen – ich meine – nur nichts von mir!«
Er mochte genug haben! Wer in diesem ganzen Kreise wußte in Wahrheit etwas von seinen gigantischen Novellen – wer kannte nur seine Hauptwerke? Vielleicht die Norweger – sonst niemand.
Als er dann in den Wagen stieg, liefen wir, die Sängerin und ich, hinunter auf die Straße, ihn noch einmal zu sehen – doch er schaute nicht rechts, nicht links.
»Der kleine, große Mann,« sagte sie bewegt, »wir wollen alle so viel von ihm – und er wollte so gar nichts von uns …«
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