Ulrich Kaufmann – »Ein Kranich lahm, zugleich Poet. Nachdenken über Jakob Michael Reinhold Lenz«

Personen

Jakob Michael Reinhold Lenz

Ulrich Kaufmann

Ort

Großkochberg

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Heidemarie Förster-Stahl

Erstdruck in: Palmbaum 1-2019.

Hei­de­ma­rie Förster-Stahl

Nach­den­ken über Lenz

 

1985 erschien Vögel, die ver­kün­den Land. Das Leben des Jakob Michael Rein­hold Lenz von Sig­rid Damm. Ihr, die mit sorg­fäl­ti­gen Recher­chen und hoher Sen­si­bi­li­tät den liv­län­di­schen Dich­ter aus dem Schat­ten Goe­thes her­aus­tre­ten ließ, ist das neu­este Buch von Ulrich Kauf­mann gewidmet.

Der Titel zitiert das Gedicht »Pla­cet«, mit dem sich der fünf­und­zwan­zig­jäh­rige Lenz in Wei­mar 1776 auf der Suche nach einem – sei­nem – Platz im Leben vor­stellte. Nur ein hal­bes Jahr dau­erte der Auf­ent­halt in Thü­rin­gen, und er nahm ein bit­te­res Ende. Lenz war viel zu undi­plo­ma­tisch, um sich den Regeln des Lebens im Umkreis eines Hofes zu beque­men. Bis heute wird gerät­selt, wel­che »Ese­ley« (Goe­the) schuld war, dass der genia­lisch-naive Poet Wei­mar Anfang Dezem­ber schon wie­der ver­las­sen musste. Ulrich Kauf­mann, seit Jahr­zehn­ten mit Lenz befasst, kennt natür­lich die ver­schie­de­nen Theo­rien zu die­sem Thema, legt sich aber weise nicht fest – der Bruch zwi­schen den seit Straß­bur­ger Zei­ten befreun­de­ten Dich­tern Goe­the und Lenz bleibt ein Geheim­nis. Doch beginnt hier der unauf­hör­li­che Abstieg des Jün­ge­ren in Krank­heit und Ver­las­sen­sein bis zu sei­nem elen­den Tod auf Mos­kaus Stra­ßen 1792.

Eine Bio­gra­phie ist Kauf­manns Buch nicht, es gibt bereits ein­schlä­gige Arbei­ten. Viel­mehr beleuch­tet der Autor bis­her darin ver­nach­läs­sigte Aspekte. Wie begeg­nete ihm die Wei­ma­rer bei­spiels­weise Anna Ama­lia? Wel­che Berüh­rungs­punkte gab es mit Schil­ler? Sie tra­fen sich nie, waren beide aber unwei­ger­lich durch die geis­ti­gen Strö­mun­gen der Zeit geprägt und nutz­ten glei­che Quel­len. Dass Lenz‘ gro­ßes Gedicht Die Liebe auf dem Lande über­haupt die ihm gebüh­rende Beach­tung fand , ist Schil­ler zu ver­dan­ken – Goe­the hatte das Manu­skript einst als Geschenk des Freun­des erhal­ten und nun an den Her­aus­ge­ber des Musen­al­ma­nachs wei­ter­ge­ge­ben. Schil­ler ver­öf­fent­lichte es 1798 (neben dem Dra­mo­lett Tan­ta­lus) und weckte damit Inter­esse für den schon sechs Jahre toten, unglück­li­chen Dichter.

Ulrich Kauf­mann druckt Die Liebe auf dem Lande in vol­ler Länge ab und lässt eine geist­rei­che Ana­lyse fol­gen. Es ist ein beson­de­res Ver­dienst sei­nes Buches, Lenz‘ Lyrik Gerech­tig­keit wider­fah­ren zu las­sen – denn man erin­nert sich heut­zu­tage eher an den Dra­ma­ti­ker. Nach­dem Georg Büch­ner in einer meis­ter­haf­ten Erzäh­lung die Gestalt des von schi­zo­phre­nen Schü­ben gepei­nig­ten Poe­ten unsterb­lich gemacht hatte, bezo­gen Spä­tere aus sei­nen ver­streut über­lie­fer­ten Wer­ken wie aus der Ahnung sei­ner qual­vol­len Lebens­um­stände man­che Inspi­ra­tion. Kauf­mann nennt ein Kapi­tel sei­ner Arbeit »Lyri­sche Por­träts zu Lenz« und führt Peter Huchel, Johan­nes Bob­row­ski, Harald Ger­lach, Ulla Hahn, Nor­bert Weiß und Jens-Fietje Dwars als Zeu­gen einer ein­drück­li­chen lite­ra­ri­schen Nach­wir­kung an.

Aber unter »Ver­su­che zur Lenz-Rezep­tion« fin­det sich im Anschluss ein Kapi­tel, das noch auf andere Reso­nanz ver­weist: Es gab Expe­ri­mente wie die Per­for­mance »Camera obscura :: Lenz« zum Wei­ma­rer Kunst­fest 2017 oder die Tri­lo­gie »Hot –Som­mer 76 – Lenz« im Rah­men des Faust-Pro­jek­tes zum Kunst­fest 1994, die Schrift­stel­ler Hen­ning Boe­tius und Vol­ker Ebers­bach näher­ten sich dem Thema novel­lis­tisch, Marc Buhl ver­fasste den Kri­mi­nal­ro­man »Der rote Domino«. Am 24. Mai- 1992, zum 200. Todes­tag des Dich­ters, wurde im Fern­se­hen Egon Gün­thers Spiel­film »Lenz« aus­ge­strahlt. Der junge Jörg Schütt­auf war in der Titel­rolle eine dar­stel­le­ri­sche Offen­ba­rung, und dass Kauf­mann daran erin­nert, ist ein wei­te­rer Plus­punkt für sein Buch.

Dank sei­ner über­sicht­li­chen Struk­tur liest es sich gut. Aber auch die strenge Fach­wis­sen­schaft darf zufrie­den sein: Jedes Zitat ist kor­rekt belegt, alle benutzte Lite­ra­tur nach­ge­wie­sen – und zwar nicht am Buchende, son­dern am Schluss des jewei­li­gen Kapi­tels. Das erspart läs­ti­ges Blät­tern und Suchen. Fak­si­mi­les, Foto­gra­fien, Gra­fi­ken, Pla­kat­ab­bil­dun­gen illus­trie­ren den Band. Dabei ist dem Autor ein klei­ner Irr­tum unter­lau­fen: Auf S. 55 wird der zier­li­che Damen­schreib­tisch im Roten Salon von Schloss Koch­berg ver­mu­tet als Platz, an dem Lenz sein Abschieds­ge­dicht für Char­lotte von Stein geschrie­ben haben könne. So ver­füh­re­risch die Vor­stel­lung ist – man muss sich davon tren­nen. Denn das Möbel­stück war ein Geschenk Goe­thes an Char­lotte zu ihrem Namens­tag im Juli 1779, stand zunächst in ihrer Wei­ma­rer Stadt­woh­nung und kam erst viel spä­ter nach Koch­berg. Der weit­aus schlich­tere Schreib­tisch, auf des­sen Platte Goe­the drei­mal seine Besu­che mit Tinte bezeugte (6. Dec. 75, 4. Oct. 80, 5. Nov. 80), steht seit 1757 im Schloss. Char­lot­tes spä­tere Schwie­ger­mut­ter hatte ihn bei einem Rudol­städ­ter Tisch­ler­meis­ter anfer­ti­gen las­sen, und einige Jahr­zehnte wur­den Goe­thes Briefe an die Haus­her­rin darin auf­be­wahrt; der Raum hieß in der Stein­schen Fami­li­en­tra­di­tion fortan das »Goe­the­zim­mer«. – Dass Lenz an die­sem Schreib­tisch saß, ist wahrscheinlich.

Einige Flüch­tig­keits-Druck­feh­ler nimmt man gelas­sen hin, denn damit macht das Buch keine Aus­nahme; in die­ser Hin­sicht makel­lose Ver­öf­fent­li­chun­gen fin­den sich kaum noch. Dem quar­tus-Ver­lag ist jeden­falls wie­der eine sehr ver­dienst­volle Berei­che­rung der Lite­ra­tur aus thü­rin­gi­scher Quelle gelungen.

 

  • Ulrich Kauf­mann – »Ein Kra­nich lahm, zugleich Poet. Nach­den­ken über Jakob Michael Rein­hold Lenz«, Band 42 der Reihe PALMBAUM Texte. Kul­tur­ge­schichte, quar­tus-Ver­lag, Bucha bei Jena 2018, 228 Seiten.
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