»Tradition, Disruption, Endstation?« – von Anke Engelmann

Person

Anke Engelmann

Ort

Weimar

Thema

Debatten

Autor

Anke Engelmann

Alle Rechte bei der Autorin. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Erstdruck in: nd, 20. Mai 2022.

Das Dilemma der Klas­sik Stif­tung Wei­mar: Sie muss sich mit alten Män­nern wie Goe­the, Schil­ler und Wie­land immer wie­der neu erfinden

 

Wie stark unser Kul­tur­be­griff einem Wan­del unter­wor­fen ist, wurde deut­lich, als die Klas­sik Stif­tung Wei­mar kürz­lich ihr The­men­jahr »Spra­che« eröff­nete. Zum Auf­takt fragte eine Podi­ums­dis­kus­sion: Wel­che Bedeu­tung kann oder soll die Beschäf­ti­gung mit über­lie­fer­ten Tex­ten haben? Wel­che Auf­ga­ben haben Gedächt­nis­in­sti­tu­tio­nen wie die Klas­sik Stif­tung Wei­mar heute? Span­nende Fra­gen, denen sich neben Ulrike Lorenz, Prä­si­den­tin der Klas­sik Stif­tung, der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Jan Phil­ipp Reem­tsma stellte sowie Petra Lutz, die als Pro­jekt­lei­te­rin für die Wei­ma­rer Dich­ter­häu­ser zustän­dig ist. Die Runde mode­rierte Mar­cel Lep­per, der zwei Jahre für die Klas­sik-Stif­tung das Goe­the- und Schil­ler-Archiv lei­tete und kürz­lich zur Carl Fried­rich von Sie­mens Stif­tung gewech­selt ist.

Reem­tsma ist vor allem für Chris­toph Mar­tin Wie­land zustän­dig, denn auch der Weg­be­rei­ter der deut­schen Klas­sik wird gefei­ert. Fast gewinnt man den Ein­druck: weil man es musste. Um den zier­li­chen Dich­ter, der vor 250 Jah­ren als Fürs­ten­er­zie­her an den Hof kam, den Mora­lis­ten und Auf­klä­rer, den Phi­lo­so­phen und viel­sei­ti­gen Dich­ter, kam die Stif­tung nicht herum. Genau so wird er prä­sen­tiert: Als ver­ges­se­ner Klas­si­ker, der der Wie­der­ent­de­ckung bedürfe. Und den man »als Dich­ter und Revo­lu­tio­när«, so die Web­seite der Stif­tung, wie das gesamte The­men­jahr vor allem der Genera­tion U 18 ans Herz legen wolle.

Als auf dem Podium Petra Lutz erläu­terte, wie man die Dich­ter­häu­ser so gestal­ten wolle, dass sie auch Ziel­gruppe U 18 errei­chen, ver­dreh­ten die Bil­dungs­bür­ger im Publi­kum die Augen. Schließ­lich wur­den ihnen, als sie her­an­wuch­sen, ganz selbst­ver­ständ­lich die Mär­chen der Gebrü­der Grimm in der Ori­gi­nal­spra­che zuge­mu­tet. Ein Schatz, in dem sie kram­ten und wühl­ten wie in der Knopf­schach­tel der Groß­mutter und immer neue fun­kelnde Wör­ter und Rede­wen­dun­gen ent­deck­ten. Viel­leicht kann­ten sie nicht alle, aber sie ver­stan­den, dass Wör­ter eine Geschichte haben, dass sie nicht gut oder böse sein kön­nen – son­dern nur die, die sie benutzen.

Wo sind die U‑18-jäh­ri­gen Lese­süch­ti­gen, die in Wer­ken der deut­schen Klas­sik nach Spu­ren von Anti-Hal­tung gegen Auto­ri­tä­ten stö­ber­ten, um sich ihrer eige­nen zu ver­ge­wis­sern, weil (zumin­dest im Osten) gute Gegen­warts­li­te­ra­tur schwer zu ergat­tern war? Die den Sprach­witz bei Wie­land, bei Musäus, bei Tieck ent­deck­ten und ihren eige­nen daran schärf­ten? Die sich Offen­heit und Inter­na­tio­na­lis­mus bei Her­der abschau­ten, die gegen Wider­stände kämpf­ten wie Carl-Phil­ipp Moritz, jugend­li­ches Pathos bei Nova­lis fan­den, auch er ein Stief­kind der Auf­merk­sam­keits-Öko­no­mie, den ein Jah­res­tag für kurze Zeit nach oben gespült hat.

Treff­lich hätte man dar­über par­lie­ren kön­nen, dar­über, wie man den Medi­en­wech­sel gestal­ten muss, der unser Wis­sen neu sor­tiert und ob und wie mund­ge­recht man die Klas­sik, die inzwi­schen häu­fig mit dem Wort »ver­staubt« attri­bu­iert wird, für die Genera­tion social media auf­be­rei­ten muss. Ler­nen sei immer eine Zumu­tung und Über­for­de­rung, mahnte Reem­tsma. Und wenn die erläu­tern­den Texte in den Museen nicht ver­stan­den wür­den, müsse man sie län­ger machen, nicht kürzer.

Das Gespräch, das auf den ers­ten Blick har­mo­nisch ver­lief, hin­ter­lässt im Nach­gang einen bit­te­ren Geschmack. Kein woh­li­ges Sich-Son­nen im Bil­dungs­bür­ger-Wohl­fühl-Land. Ein­stel­lun­gen kamen zur Spra­che, die ein Licht auf den Kul­tur­be­trieb im All­ge­mei­nen, in Thü­rin­gen und in Wei­mar wer­fen und den Druck deut­lich machen, dem er unter­wor­fen ist. Vor allem in den Aus­füh­run­gen der Stiftungs-Chefin.

Lorenz sprach von »toxi­scher Wachs­tums­lo­gik im Kul­tur­sek­tor«, die man »kri­ti­scher sehen muss«, denn »Wachs­tum führt zu Ver­stei­ne­run­gen«. »Wir müs­sen pro­duk­tiv zer­stö­ren, um etwas ande­res mög­lich zu machen«, for­derte sie, Abschied neh­men »von lieb­ge­wor­de­nen Gewohn­hei­ten«. Denn die Rah­men­be­din­gun­gen wür­den kein Wachs­tum mehr gestat­ten. Des­halb müsse man das kul­tu­relle Erbe mit­ein­an­der in ein sinn­vol­les Spiel brin­gen, das auch dis­rup­tiv sein könne. Die Gesell­schaft wan­dele sich, »wir müs­sen uns par­ti­ell immer wie­der neu erfin­den«, ein Pro­zess, ein Expe­ri­ment, auch »im Hin­blick auf eine Umfor­mu­lie­rung der Dichterhäuser«.

Wachs­tum gleich toxisch. Pro­duk­tiv zer­stö­ren. Dis­rup­tion. Sich immer wie­der neu erfin­den. Lorenz greift Argu­mente aus der Degrowth-Bewe­gung auf und spart nicht an Signal­wör­tern. Doch kann man die Situa­tion in Wirt­schaft und Öko­lo­gie eins zu eins auf den Kul­tur­be­trieb über­tra­gen? Schwach nur klang die Mah­nung Reem­ts­mas: »Wir müs­sen die Lite­ra­tur frei machen von Aktua­li­täts­druck. Sonst wer­den wir wie die Kan­zel­red­ner des 18. und 19. Jahrhunderts.«

In sol­chen Kon­tex­ten hört sich das lite­ra­ri­sche Ver­mächt­nis der Stadt Wei­mar bei­nah wie eine Last an: Goe­the. Schil­ler. Wie­land. Her­der. Jeder Name ein Schlag mit der Faust in die offene Hand. Der Zwang, Altes immer wie­der neu zu prä­sen­tie­ren, kol­li­diert mit dem Anspruch, alles neu zu erfin­den, weil man sich von der ver­staub­ten Lite­ra­tur­wis­sen­schaft ver­ab­schie­den will. Authen­ti­zi­tät heißt der Königs­weg jetzt, mit Anklän­gen an die teil­neh­mende Beob­ach­tung. Warum nicht. Aber: Muss man dazu wirk­lich alles zerschlagen?

Jede Genera­tion will die alten Zöpfe abschnei­den. Das ist not­wen­dig, es setzt einen Kreis­lauf der Erneue­rung in Gang und krem­pelt nicht nur die Insti­tu­tio­nen um, son­dern wirft rele­vante Fra­gen auf, ver­schiebt die Prio­ri­tä­ten der poli­ti­schen Agenda und ver­än­dert das Mit­ein­an­der und die Kom­mu­ni­ka­tion bis ins zutiefst Pri­vate. In die­sem Pro­zess wird auch das Wis­sen, das zur Ver­fü­gung steht, ebenso neu bewer­tet wie die Art sei­ner Ver­mitt­lung. Idea­ler­weise geht die­ser Wan­del nicht von den Insti­tu­tio­nen aus, son­dern der Druck kommt von außen, von unten.

Was aber, wenn nicht die Kin­der rebel­lie­ren, son­dern die Eltern?

So etwas pas­siert, wenn Eltern nicht erwach­sen wer­den. Die Kin­der sind für die Erneue­rung zustän­dig, die Älte­ren fürs Bewah­ren. Bei­des muss aus­ge­wo­gen mit­ein­an­der agie­ren. Seit eini­ger Zeit jedoch erle­ben wir eine Abwer­tung von Erfah­rung. Die Alten flie­gen (wie die Ost­deut­schen) unter dem Radar der woke-Bewe­gung. Dass diese Bevöl­ke­rungs­grup­pen dis­kri­mi­niert wer­den, merkt man spä­tes­tens, wenn man sich mit Mitte Fünf­zig einen neuen Job suchen muss. Auch bei den Jun­gen bin­det der Zwang, sich stän­dig neu zu erfin­den, Kraft und Res­sour­cen und höhlt den pri­va­ten Raum aus, in dem man sich erho­len muss.

Dazu gesellt sich ein grund­le­gen­des Miss­trauen gegen Spe­zia­lis­ten. In unse­rer hoch­spe­zia­li­sier­ten Gesell­schaft ist Wis­sen ein Kapi­tal, es zu erwer­ben dau­ert lange und kos­tet viel Geld. Nie­mand kann alles kön­nen, doch man­cher scheint das zu glau­ben. Ein Buch schrei­ben und es lay­ou­ten, die Gesetze der Spra­che auf den Kopf stel­len: Das Lai­en­tum schwappt vor allem in die Sek­to­ren, die nicht so stark regle­men­tiert sind, wo Krea­ti­vi­tät und Spiel ein Refu­gium haben: in die Kunst. Es prä­sen­tiert sich vol­ler Selbst­be­wusst­sein, über­schreit die Pro­fis, die zwei­feln und mehr Zeit fordern.

Die­ser zutiefst demo­kra­ti­sche Vor­gang ähnelt dem, was die Stadt­so­zio­lo­gie »Gen­tri­fi­zie­rung« nennt. Frei­räume, in die­sem Fall Kunst und Kul­tur, wer­den in eine Ver­wer­tungs­lo­gik ein­ge­bun­den. Wie stark die Gesell­schaft in ihren Rand­be­rei­chen bereits auf Nut­zen und Effek­ti­vi­tät fixiert ist, zeigte sich in der Pan­de­mie-Zeit: Die Kul­tur wurde zuerst dicht­ge­macht und zuletzt wie­der geöff­net. Dabei ist die Kunst wie ein Unbe­wuss­tes der Gesell­schaft eine wich­tige Res­source für Resi­li­enz. Sie hilft, Angst zu bewäl­ti­gen und mit Ver­än­de­run­gen umzu­ge­hen. Gnade uns Gott, wenn die­ser Sumpf von Wild­wuchs und Anar­chie tro­cken­ge­legt wird.

Lorenz teilte aus gegen das Bil­dungs­bür­ger­tum, das sein Halb­wis­sen aus dem »Zita­ten­schatz der Welt­li­te­ra­tur« des Ober­leh­rers Georg Büch­mann geschöpft habe, und ver­gaß dabei, dass die per­ma­nente Anpas­sung ans Mit­tel­maß genau die­ses Halb­wis­sen erzeugt. Zer­rei­ßen nicht dis­rup­tive Ansätze die Tra­di­ti­ons­li­nien, an denen wir uns grund­le­gend in der Welt ver­or­ten, auch und gerade in der Aus­ein­an­der­set­zung mit ihnen? »Wir sind nicht Goe­the. Wir sind die Ecker­män­ner die­ser Welt«, so Lorenz, und die Bil­dungs­bür­ger schüt­tel­ten sacht den Kopf. »Ich schon«, flüs­terte einer. »Ich bin Goethe.«

 

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