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Jan Volker Röhnert
Erstdruck: Thüringer Anthologie, 14.05.2016.
Dorthin – will ich; und ich traue
Mir fortan und meinem Griff.
Offen liegt das Meer, ins Blaue
Treibt mein Genueser Schiff.
Alles glänzt mir neu und neuer,
Mittag schläft auf Raum und Zeit –:
Nur dein Auge – ungeheuer
Blickt mich’s an, Unendlichkeit!
aus: Kritische Studienausgabe. Hg. v. Giorgio Colli /
Mazzino Montinari. Bd. 3. Morgenröte. Idyllen aus Messina.
Die fröhliche Wissenschaft. München 1999, S. 649.
»Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?« Ein Jahrhundert nach Goethes Sehnsuchtslied musste Friedrich Nietzsche kommen, um der Melancholie des »Dahin, dahin / möcht ich mit dir, Geliebter, ziehn«, den Imperativ »Dorthin – will ich« entgegenzusetzen. Sein Süden ist ein radikal auf eine Region geschrumpftes, diese aber wie unter der Lupe vergrößerndes Italien, auf das der Philosoph seine genial kurzsichtigen Augen senkt: Es bleibt auf den nordwestlichen Küstenstreifen beschränkt – das, was Gottfried Benn später den »ligurischen Komplex« nennen sollte. Im Mittelpunkt: die Hafenmetropole Genova mit ihrem säkularen Heiligen Cristoforo Colombo, dessen Namen heute der internationale Flughafen dort trägt. Vor Nietzsche hatten bereits Hölderlin und Platen in Gedichten den Mythos des Genueser Amerika-Entdeckers aufgegriffen, doch erst beim Pfarrerssohn aus Röcken verschmilzt das Bild des visionären Seefahrers mit dem des absolut modernen Visionärs, der zu uferlosen Meeren des Gedankens aufgebrochen ist. Die Gefahr zu scheitern wird angesichts des schlingernden Rauschs der Imagination ebenso in Kauf genommen wie Giacomo Leopardi in »L’Infinito« und Arthur Rimbaud in »Das trunkene Schiff« die Katastrophe als Konsequenz der Allmachtsphantasie willkommen geheißen hatten. Leopardis »infinito« ist zumindest das Schlusswort von Nietzsches ligurischer Epiphanie. Als ich 1998 ein Auslandssemester in Genuas Altstadt in der Nähe der Salita delle Battistine zubrachte, wo Nietzsche die Winter zwischen 1880 und 1883 über lebte, wusste ich von alldem kaum etwas. Man muss die Zahnradbahn zum felsigen Stadtrand hinaufgefahren sein, den oft beschworenen amphitheatralischen Blick genossen haben, vom nahen Camogli über den Monte Portofino bis Santa Margherita Ligure gegangen sein, dem Hafen das Fremde, das hier an Land gespült wird, mit allen Sinnen abgelauscht, geschmeckt, geschnüffelt haben, um zu spüren, dass an dieser Küste eine Unendlichkeit verborgen liegt, die nicht nur ins Zentrum der Fröhlichen Wissenschaft und den Beginn des Zarathustra, sondern zugleich ins Herz einer mediterranen Kultur führt, deren endlose Fülle zu preisen ein Leben nicht reicht. Als Nietzsche den Sommer 1882 mit Lou Andreas-Salomé im lieblichen Tautenburg zubrachte, wird er ihr die Ohren vollgeschwärmt haben. Anders sind die abgründigen Verse kaum zu verstehen, die er ihr zum Abschied ins Poesiealbum schrieb: »Freundin – sprach Columbus – traue / Keinem Genuesen mehr! / Immer starrt er in das Blaue, / Fernstes zieht ihn allzusehr!«
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