Stefan Petermann – »Wenigstens, Januar – März 2022«

Person

Stefan Petermann

Ort

Weimar

Thema

Stimmen gegen den Krieg

Autor

Stefan Petermann

Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

17. Januar
Gesprä­che über den Auf­marsch der rus­si­schen Armee an der ukrai­ni­schen Grenze. Kei­ner erwar­tet einen Angriff oder ähn­li­ches. Aber die hun­dert­tau­send Sol­da­ten ste­hen den­noch dort, wozu, wenn nicht?

24. Januar
Ein Mari­ne­ge­ne­ral, der erklärt, dass Russ­land die Ukraine nicht angrei­fen werde und man Putin Respekt erwei­sen solle, tritt ab. Dabei spricht er mit sei­ner Aus­sage die offi­zi­elle Spra­che; die Ukraine nicht zu unterstützen.

9. Februar
Putins Yacht, die seit Sep­tem­ber in einer Ham­bur­ger Werft über­holt wurde, hat, so wird es geschrie­ben, über­stürzt den Hafen ver­las­sen und soll Kurs auf Kali­nin­grad genom­men haben. Ein Hinweis?

12. Februar
Die Dis­kus­sion über einen mög­li­chen Angriff Russ­lands auf die Ukraine ähnelt nun der Dis­kus­sion über Coro­na­maß­nah­men, was Inten­si­tät der Dis­kus­sion angeht, auch Abso­lut­heit der Mei­nun­gen. Die Krise in Ost­eu­ropa erhält einen eige­nen New­sti­cker, so, wie es ihn für die Pan­de­mie seit zwei Jah­ren gibt.

15. Februar
Die USA kün­digte an, dass Putin ges­tern habe angrei­fen wol­len. Er greift nicht an. Eine selbst­zer­stö­rende Prognose?

19. Februar
Wei­ter­hin unwirk­lich, am Vor­abend eines Krie­ges zu sein: Men­schen wer­den eva­ku­iert, Bot­schaf­ten ver­legt, Flug­li­nien set­zen Flüge aus, Gefechte »flam­men auf«. In der Summe eine ein­deu­tige Dyna­mik, die Hoff­nung, ein Irrtum.

22. Februar
Putin lässt seine Sol­da­ten in die Ost­ukraine ein­mar­schie­ren, wie eine vul­gäre Tat aus einem ande­ren Jahr­hun­dert. Und doch geschieht es. Nie­der­ge­schla­gen­heit, weil der Krieg unab­wend­bar schien und scheint. Die Puz­zle­stü­cke aus den letz­ten Mona­ten fal­len zusam­men. Den­noch fällt es schwer, das Unver­meid­li­che aus­zu­spre­chen, das Schlimmste anzu­neh­men, weil es unvor­stell­bar scheint, Krieg in der Ukraine. Live­ge­ti­cker­ter Deter­mi­nis­mus, das Weg­rut­schen der Gegen­wart in Echt­zeit, die eigene Ohn­macht alle fünf Sekun­den aktua­li­siert. Nun die Sol­da­ten, die beschos­se­nen Kraft­werke, ukrai­ni­sche Müt­ter, die ihren Kin­dern Zet­tel auf die Klei­dung hef­ten, auf denen die Blut­gruppe geschrie­ben steht.

24. Februar
Inva­sion der Ukraine. Pan­zer, Rake­ten, Lan­de­trupps. Putin, der in einer Rede sagt: »Wer auch immer ver­sucht, uns zu hin­dern … sollte wis­sen, dass Russ­lands Reak­tion schnell sein und zu Kon­se­quen­zen füh­ren wird, die Sie in Ihrer Geschichte noch nie gese­hen haben.« Polen öff­net die Gren­zen für die erwar­te­ten flüch­ten­den Men­schen, Ungarn schließt sie. Trump nennt Putin ein Genie. Bis Mit­tag Radio hören. Dann abschal­ten. Wie­der ein­schal­ten, hören, schauen, kli­cken. Irreal ist ein Wort, das ich oft ver­wende, irre, unwirk­lich. Große Trau­rig­keit, weil klar ist, wie viel Leid aus die­sem Tag ent­ste­hen wird. Noch eine Rea­li­tät, die sich auf­tut, ein Abgrund.

25. Februar
Was für unzu­rei­chende Worte kann ich fin­den ange­sichts der Nach­rich­ten aus der Ukraine – Häu­ser­kampf in Kiew, selbst­ge­bas­telte Molo­tow­cock­tails gegen rus­si­sche Pan­zer, Väter, die sich wei­nend von ihren Kin­dern ver­ab­schie­den, 20.000 Maschi­nen­ge­wehre, die Zivi­lis­ten aus­ge­hän­digt wer­den, erhöhte Strah­lungs­werte im erober­ten Tscher­no­byl, Metro­sta­tio­nen, in denen Men­schen Zuflucht suchen, Rake­ten­sperr­feuer, Deutsch­land, das 5.000 Helme Rich­tung Osten schickt.

26. Februar
Nach dem Auf­ste­hen zuerst prü­fen, ob Kiew noch in den Hän­den der Ukraine ist. In einem Video fährt ein Ukrai­ner an einem lie­gen­ge­blie­be­nen rus­si­schen Pan­zer vor­bei, ruft: Kann ich euch zurück nach Russ­land mit­neh­men? Die rus­si­schen Sol­da­ten lachen. Ähn­li­che Videos kur­sie­ren, ukrai­ni­sche Trak­to­ren, die rus­si­sche Pan­zer abschlep­pen. Humor im Krieg, irri­tie­rend, auch tröstlich.

27. Februar
Auf dem Spiel­platz spricht ein Vater am Smart­phone laut­stark über die Ukraine. Ich bin unan­ge­nehm berührt. Er sagt sein Wis­sen auf, ein ähn­li­ches Wis­sen, wie das, über das ich ver­füge, ein Mut­ma­ßen, ein Nach­er­zäh­len von Tik­Tok-Videos. Was der Vater sagt, sagt er mit Über­zeu­gung. Dabei wis­sen wir alle nichts. Wir ken­nen Mel­dun­gen. Eine Mel­dung, dass Putin seine Atom­waf­fen in Bereit­schaft ver­setzt haben soll. Am Nach­mit­tag eine Rede des Kanz­lers. 100 Mrd. für die Bun­des­wehr, nicht Geld allein, vor allem Sym­bol. Am spä­ten Abend ein lan­ges Tele­fo­nat, in dem wir die Wahr­schein­lich­keit eines Atom­krie­ges erör­tern. Voll­kom­men irreal. Die letz­ten Tage haben einen wahn­sin­ni­gen Mög­lich­keits­raum eröff­net. Danach in der Arte-Media­thek die Serie Die­ner des Vol­kes sehen, in der Wolo­dymyr Selen­skyj als Geschichts­leh­rer zum ukrai­ni­schen Prä­si­den­ten gewählt wird.

28. Februar
Lese in einem Text von Yuval Noah Harari: Gor­bat­schow habe die Rus­sen und Ukrai­ner zu Geschwis­tern gemacht, Putin mache sie zu Fein­den. Außer­dem: Eine Nation werde nicht mit Pan­zern gebaut, son­dern mit Geschich­ten. Wel­che Geschich­ten drin­gen durch zu mir? Geschich­ten vom ukrai­ni­schen Prä­si­den­ten mit Smart­phone, Men­schen, die sich Pan­zern in den Weg stel­len, die »Rus­sian war­s­hip, go fuck yourself«-Soldaten vor der Schlan­gen­in­sel. In deut­schen Fern­seh­stu­dios mode­rier­tes Spre­chen über den Krieg. Als könnte man über Krieg sprechen.

1. März
Rake­ten auf den Frei­heits­platz in Char­kiw, Selen­skyj erklärt, dass spä­ter ein­mal alle Plätze in der Ukraine so hei­ßen wer­den. In Kiew wird der Fern­seh­turm beschos­sen, Rake­ten fal­len auf Babyn Jar, eine Holo­caust-Gedenk­stätte. Ein 60km lan­ger rus­si­scher Mili­tär­kon­voi unter­wegs Rich­tung Kiew. Ein rus­si­scher Diri­gent mit engen Ver­bin­dun­gen zu Putin wird in Mün­chen ent­las­sen. Ein Restau­rant ver­bie­tet Men­schen mit rus­si­schem Pass den Zutritt. Ich schreibe nicht rus­si­scher Krieg, son­dern Putins Krieg. Um die Bin­dung des Schreck­li­chen an ein Volk zu ver­mei­den. Doch wo beginnt Schuld? Was ist mit denen, die Putin gewählt haben? Die jetzt nicht auf die Straße gehen? Wie leicht ist das für mich zu sagen, wie wenig weiß ich über all das Bescheid?
Gesprä­che über die Frie­dens­be­we­gung und die Wahr­neh­mung einer ato­ma­ren Bedro­hung. Auch im Unter­schied zu mei­ner Wahr­neh­mung, der ich bewusst als ers­tes poli­ti­sches Ereig­nis den Mau­er­fall erlebte, eine Ent­span­nung anstatt einer Zuspit­zung. Eben­falls Gesprä­che über die beson­dere Bezie­hung der DDR zur Sowjet­union und wie diese Zeit bei vie­len bis heute den Blick auf Russ­land lenkt, wie schwer es sein kann, ange­sichts des von Russ­land begon­ne­nen Krie­ges eine neue Bewer­tung vor­zu­neh­men, die Erin­ne­run­gen, die Rei­sen, das Erlebte mit der Aggres­sion, dem Krieg, dem Leid in Ein­klang zu bringen.

2. März
Videos von Ukrai­ne­rin­nen, die die ein­zige Straße zu einem Atom­kraft­werk vor rus­si­schen Pan­zern schüt­zen. Das ein­ge­kes­selte Mariu­pol. Das Video von dem sehr jun­gen rus­si­schen Sol­da­ten, den Ukrai­ne­rin­nen Tee geben und das Smart­phone hal­ten, damit er mit sei­ner Mut­ter spre­chen kann. In Wei­mar wird der Sowje­ti­sche Fried­hof für ver­stor­bene Ange­hö­rige der Roten Armee mit den Far­ben der ukrai­ni­schen Fahne besprayt. Der unmit­tel­bare Schock des Kriegs­be­ginns ist vor­bei. Eine Art Gewöh­nung tritt ein, Gewöh­nung an die zer­schos­se­nen Häu­ser. Das Schreck­li­che ist gesche­hen, geschieht wei­ter­hin, nun braucht es beson­ders Schreck­li­ches, um aus dem Strom der Kriegs­in­for­ma­tio­nen auf­zu­schre­cken. Die Dis­kus­sio­nen, die hier geführt wer­den, haben weni­ger mit dem Krieg zu tun als mit den Fol­gen für »uns«. Die Takes sind: Jetzt kom­men die guten Flücht­linge. Wehr­pflicht, pro/kontra. Nach sie­ben Tagen schon die­ser Zustand.

3. März
Heute weni­ger Berichte von der Front (wie irreal wei­ter­hin, von einer Front zu schrei­ben). Dafür Bil­der von Geflüch­te­ten; auf den Bahn­hö­fen ste­hen die Ein­hei­mi­schen mit Schil­dern, auf denen sie die Ankom­men­den ein­la­den, ihnen ein Dach anbie­ten. Eben­falls eine ent­ge­gen­ge­setzte Bewe­gung. Män­ner, die Rich­tung Ukraine zie­hen. Frei­wil­lige machen sich auf den Weg in den Krieg. Es wird nor­mal, Män­ner in Uni­form zu sehen. Ist das die Zukunft, diese mora­lisch legi­ti­mierte Mili­ta­ri­sie­rung? Den Pazi­fis­mus ange­sichts rol­len­der Pan­zer not­ge­drun­gen und ver­zwei­felt auszusetzen?
Mehr Bli­cke rich­ten sich auf Russ­land. Eine Über­le­bende der Lenin­gra­der Blo­ckade pro­tes­tiert gegen den Krieg, wird fest­ge­nom­men. Apple setzt den Ver­kauf sei­ner Pro­dukte aus, ein Russe zer­schlägt dar­auf­hin in einem Video sei­nen iPad. Das Wort »Krieg« wird ver­bo­ten, ersetzt wer­den soll es mit »Mili­tä­ri­sche Ope­ra­tion«. Mili­tä­ri­sche Ope­ra­tion und Frie­den kur­siert als Meme. Wer in Russ­land gegen den Krieg pro­tes­tiert, dem dro­hen fünf­zehn Jahre Haft. Macron, Prä­si­dent eines Lan­des, das bis 2020 Waf­fen­sys­teme an Putin lie­ferte, spricht mit Putin, sagt hin­ter­her: Das Schlimmste kommt erst noch.

4. März
Rus­si­sche Sol­da­ten beschie­ßen das größte Atom­kraft­werk Euro­pas. Wei­ter­hin das Feuer über Mariu­pol. Das Foto von 18jährigen ukrai­ni­schen Jungs, die nach drei Tagen »Trai­ning« in den Kampf geschickt wer­den, Gewehre über ihren Schul­tern. In Metro­sta­tio­nen bauen Kin­der Pis­to­len aus LEGO. Bil­der von Vätern, die ihre Kin­der und Frauen zum Bahn­hof brin­gen und in Zügen Rich­tung Wes­ten ver­ab­schie­den. Ein Vater steht mit einem Spiel­zeug­kran­ken­wa­gen in der Hand, sein Sohn hat es ihm gege­ben, es soll ihn hei­len, wenn er ver­letzt wird. Das alles ist nicht zu ertra­gen. Ich flüchte in soge­nannte geo­stra­te­gi­sche Betrach­tun­gen des Krie­ges, ver­su­che zu ergrün­den, wie Putin »tickt«, irgend­wie ratio­nal zu sein.

5. März
Rus­si­sche Kampf­flie­ger, die bei freier Sicht in Wohn­häu­ser schie­ßen. Putin, der mit Ste­war­des­sen spricht und dabei angeb­lich vor einem Green­screen sit­zen soll. Putin, der angeb­lich Mos­kau ver­las­sen haben soll. Rus­sen, die aus Russ­land flie­hen, weil sie die Mobil­ma­chung fürch­ten. Jour­na­lis­tin­nen, die die Bericht­erstat­tung aus Russ­land auf­grund der neuen Gesetze abbre­chen. Der ukrai­ni­sche Prä­si­dent, der auf einer Lein­wand über­tra­gen vor 100.000 Men­schen in Prag und Tif­lis spricht. Bel­grad, wo Pro-Putin demons­triert wird.
Heute in Wei­mar eine Demons­tra­tion gegen den Krieg, orga­ni­siert von Kin­dern. Viele Men­schen auf dem Bahn­hofs­vor­platz, das Lau­fen zum DNT. Viel Blau-Gelb, viele Frie­dens­tau­ben. Es hat etwas Anrüh­ren­des und unend­lich Trau­ri­ges, wenn Kin­der Schil­der hoch­hal­ten, auf denen steht »Frie­den« oder »der böse Mann soll auf­hö­ren böse zu sein«. Weil es so ein­fach ist und zugleich nicht, naiv und nicht, hilf­los und nicht, wich­tig ist es und die Eltern haben die Worte auf­ge­schrie­ben und erklärt, es geht darum, unter vie­len zu sein, die das Glei­che wol­len, Frie­den. Frie­den wol­len, immer, jeder, jede, gerade jetzt, was sonst. Und was noch? Reicht es, Frie­den zu wol­len? Wie erklärt man Krieg? Den Kin­dern? Sich selbst?

6. März
Fami­lien erschos­sen bei der zuge­si­cher­ten Flucht. Ein Foto, wie Flüch­tende unter einer zer­stör­ten Brü­cke bei Kiew gedrängt ste­hen, war­ten, dass sie in einer Feu­er­pause wei­ter gewun­ken wer­den. In Russ­land durch­su­chen Poli­zis­ten Han­dys von Pas­san­ten. Z als rus­si­sches Sym­bol des Krie­ges, wie ein Haken­kreuz, Schwarz­ge­klei­dete mit dem Z, stamp­fend, wütend, die Gesich­ter hass­ver­zerrt, krebs­kranke Kin­der vor einem rus­si­schen Hos­piz, die das Z in einer Men­schen­kette for­men müs­sen. Was voll­kom­men unter­ge­gan­gen ist in den letz­ten Tagen: der ver­hee­rende Kli­ma­schutz­be­richt der UN.

7. März
Ein ukrai­ni­sches Mäd­chen singt in einem Bun­ker Let it Go. Rus­si­sche Sol­da­ten beschie­ßen eine Brot­fa­brik. Russ­land bie­tet Flucht­kor­ri­dore an, die nach Russ­land oder Weiß­russ­land führen.

8. März
In Mariu­pol mel­det die Stadt­ver­wal­tung, dass ein sechs­jäh­ri­ges Mäd­chen unter den Trüm­mern eines zer­stör­ten Hau­ses ver­durs­tet sei. Ein ukrai­ni­sches Blas­quar­tett spielt vor einer Stra­ßen­bar­ri­kade Don’t Worry Be Happy. Der Putin Pub in Jeru­sa­lem benennt sich um in Zelen­sky Pub. Der Patri­arch der ortho­do­xen Kir­che Russ­lands sagt, dass die Gay-Pride-Para­den in der Ukraine Grund für die Inva­sion seien. In Deutsch­land wird gewarnt, dass Gewalt­tä­ter die ankom­men­den Frauen und Kin­der in ihre Woh­nun­gen neh­men könnten.
Gespräch über die ver­min­ten Flucht­kor­ri­dore. Ist es mög­lich, dass die Ukrai­ner die Minen leg­ten, bevor der Weg Flucht­weg wurde, um die Rus­sen zu tref­fen? Oder die Rus­sen ver­min­ten, um Zivi­lis­ten zu töten? Was ist gesche­hen, wie ist es gesche­hen, was ist Ver­se­hen, was Miss­ver­ständ­nis, was ziel­ge­rich­tete Des­in­for­ma­tion? Ich lese haupt­säch­lich von der ukrai­ni­schen Seite, sehe dort die Bil­der der zer­stör­ten rus­si­schen Pan­zer, die gefei­er­ten Erfolge, die Trak­to­ren, die Armee­fahr­zeuge abschlep­pen. Das ist, was ich sehen möchte. Was auch sonst? Wieso sollte mich die rus­si­sche Seite inter­es­sie­ren? Wieso sollte ich objek­tiv sein wol­len? Objek­tiv? Wie soll das mög­lich sein? Objek­tiv ist: Putin greift die Ukraine an. Alles, was in die­sem Krieg geschieht, ist Folge die­ser Tat. Das ist der ein­zig objek­tive Blick.

9. März
In Mariu­pol wird ein Kran­ken­haus ange­grif­fen, eine Schwan­gere läuft mit blu­ten­dem Gesicht aus dem Gebäude, eine andere Schwan­gere liegt blu­tend auf einer Trage. Die Strom­lei­tun­gen bei Tscher­no­byl zer­stört. Das schwarz­weiße Bild eines Bahn­steigs in der Ost­ukraine, voll­kom­men über­füllt mit Men­schen, die Dis­kus­sion, ob das Schwarz­weiße die Situa­tion unnö­tig dra­ma­ti­siert. Ein Mann steht vor sei­nem zer­bomb­ten Haus, sagt, dass unter den Trüm­mern seine Frau und seine 12jährige Toch­ter lie­gen, zer­quetscht, die Toch­ter im Roll­stuhl, sie hat es nicht recht­zei­tig hin­aus­ge­schafft … ich weiß nicht, wes­halb ich jeden Tag diese furcht­ba­ren Auf­zäh­lun­gen notiere. Das Leid ist fern, es geschieht nicht mir. So viel Leid zugleich in der Ferne. Wie wähle ich aus, was mich beschäf­tigt, berührt, ent­setzt? Bekannte sagen: Über die ver­hun­gern­den Kin­der in Jemen spre­chen wir nicht. Sie haben recht. Den­noch notiere ich über die Ukraine, nicht den Jemen.
Andere Bekannte, die »die andere Seite« hören wol­len, nicht nur, was die »Main­stream-Medien« über den Krieg berich­ten, auf Arti­kel ver­wei­sen, die besa­gen, dass die rus­si­sche Armee keine Zivi­lis­ten angreife, der Wes­ten Russ­land in eine Falle gelockt und zu die­sem Krieg gedrängt habe und mit sei­nen Waf­fen­lie­fe­run­gen auf­hö­ren solle, wei­ter an der »Spi­rale der Gewalt« zu dre­hen. In sol­chen Gesprä­chen über den Krieg wird der Wunsch nach einer alter­na­ti­ven Bericht­erstat­tung deut­lich, der Wunsch, Erzäh­lun­gen zu fin­den, die den Mehr­heits­be­rich­ten wider­spre­chen. Ich ver­wende zu viele Gedan­ken daran, wie sich gegen ein sol­ches Spre­chen anspre­chen lässt, viel­leicht, weil die Hilf­lo­sig­keit, die Wut so irgendwo hin­flie­ßen kann. Wenn ein Krieg beginnt, wird übli­cher­weise zitiert: Im Krieg stirbt die Wahr­heit zuerst. Dabei gibt es immer eine Wahr­heit. Und immer ist sie schon vor­her gestor­ben. Beson­ders in die­sem Krieg.

10. März
Die rus­si­sche Armee erklärt, dass sich im bom­bar­dier­ten Kran­ken­haus in Mariu­pol das rechts­ex­treme Regi­ment Asow auf­ge­hal­ten haben soll. Des­halb der Angriff. Auf Insta­gram wird eine der foto­gra­fier­ten Hoch­schwan­ge­ren – ihr Name ist Mari­anna – beschimpft. Sie wird Schau­spie­le­rin genannt. Rus­si­sche Berichte, dass die Ukrai­ner in Labo­ren bio­lo­gi­sche und che­mi­sche Waf­fen entwickeln.

11. März
Wei­ter­hin Dis­kus­sio­nen über die Echt­heit des Angriffs auf das Kran­ken­haus in Mariu­pol. Die rus­si­schen Bots bei Twit­ter explo­die­ren mit der Erzäh­lung eines Fakes. Wie wahr­schein­lich, dass die Ukrai­ner eine sol­che Täu­schung insze­nie­ren? Wie wahr­schein­lich, dass die rus­si­sche Armee bom­bar­diert? Was glaube ich? Muss ich glau­ben? Muss ich zehn Tage recher­chie­ren, um die Geschichte als wahr oder unwahr zu klä­ren? Was bleibt davon im Kopf? Reicht es zu den­ken: Im Krieg lügen immer alle und man dürfe nichts glau­ben? Wem wäre mit die­ser Schluss­fol­ge­rung geholfen?

12. März
Wie kann es sein, dass Städte, die vor sieb­zehn Tagen Städte waren, heute Sym­bole der Zer­stö­rung sind, des Furcht­ba­ren, der Grau­sam­keit, Char­kiw, Mariu­pol, zwei Wochen lie­gen dazwi­schen. In Russ­land wird eine Frau abge­führt, die ein wei­ßes Blatt Papier hoch­hält. Ein Anti­kriegs­pla­kat besteht aus acht Ster­nen, sie erset­zen нет войны, kein Krieg. Mari­anna aus Mariu­pol bringt nach dem Angriff auf das Kran­ken­haus eine Toch­ter zur Welt, nennt sie Vik­to­ria, nach der Göt­tin des Sieges.

13. März
Mitt­ler­weile schaue ich mor­gens nicht mehr zuerst, ob Kiew noch ukrai­nisch ist. Das Mäd­chen, das Let It Go im Bun­ker gesun­gen hat, ist in Polen angekommen.

14. März
Die Hoch­schwan­gere aus dem bom­bar­dier­ten Kran­ken­haus in Mariu­pol, lila Pull­over, auf einer Trage zwi­schen den Trüm­mern nach drau­ßen geret­tet, hält sich ihren Bauch, Blut an ihrem Bauch. Ihr Kind wird in einem ande­ren Kran­ken­haus mit Kai­ser­schnitt auf die Welt gebracht, keine Lebens­zei­chen. »Tötet mich«, ruft sie den Ärz­ten zu. Kurz dar­auf stirbt sie an ihren Ver­let­zun­gen, den Quet­schun­gen. Ihr Mann, der Vater holt die bei­den Leich­name. Das Kran­ken­haus erklärt: Damit seien die bei­den wenigs­tens dem Schick­sal vie­ler ande­rer Todes­op­fer ent­kom­men, in einem der Mas­sen­grä­ber zu lan­den. Wenigs­tens steht dort, wenigstens.

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