Siegfried Pitschmann – »Verlustanzeige«

Personen

Marie-Elisabeth Lüdde

Siegfried Pitschmann

Orte

Mühlhausen

Suhl

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Ulrich Kaufmann

Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.

Wie­der­ge­le­sen von Ulrich Kaufmann

 

»Leise Töne waren meine Sache«

 

Auf dem Grab­stein Pitsch­manns in Mühl­hau­sen steht zu lesen: »Daniel Sieg­fried Pitsch­mann.« Erst die nach sei­nem Tode 2002 aus dem heu­ti­gen Polen besorgte Geburts­ur­kunde gab end­gül­tig dar­über Aus­kunft, dass der Dich­ter zwei Ruf­na­men hatte. Bri­gitte Rei­mann war wohl die Erste, die spürte, dass der hel­di­sche Name Sieg­fried zu ihrem Part­ner nicht recht pas­sen wollte. Sie und andere Ver­traute und Freunde nann­ten den Erzäh­ler und Hör­spiel­au­tor Daniel.

Marie-Eli­sa­beth Lüdde, einer Ver­trau­ten des Dich­ters aus den letz­ten Lebens­jah­ren, ver­dan­ken wir die­ses erre­gende Buch aus der Edi­tion Muschel­kalk. Sie hat dem scheuen, unter schreck­li­chen Schreib­hem­mun­gen lei­den­den Autor diese Erin­ne­run­gen abver­langt. Tat­säch­lich han­delt es sich um Erin­ne­run­gen, nicht aber um »Erzäh­lun­gen«, wie es auf dem Umschlag des Wart­burg-Ver­la­ges zu lesen ist. Aus den Ton­band­auf­nah­men hat Marie-Eli­sa­beth Lüdde behut­sam einen gut les­ba­ren Text geformt, ohne den Ges­tus des münd­lich Erzähl­ten zu beschädigen.

Der Titel »Ver­lust­an­zeige« ist treff­lich gewählt. »Manch­mal denke ich: Mein Leben ist eine Kette von Ver­lus­ten gewe­sen«, heißt es zu Beginn. Pitsch­mann musste als Kind den Tod der jüngs­ten Schwes­ter ver­kraf­ten, einer sei­ner Brü­der kam nicht aus dem Krieg zurück. Meh­rere Ehen gin­gen in die Brü­che. Pitsch­mann por­trä­tierte »seine« Frauen lie­be­voll, erin­nerte sich ihrer in Dankbarkeit.

Eines aber hat Daniel Sieg­fried Pitsch­mann nie­mals ver­kraf­tet: Zu Beginn der sech­zi­ger Jahre hatte er den umfang­rei­chen Pro­sa­text »Erzie­hung eines Hel­den« geschrie­ben, der auf Erfah­run­gen sei­ner Jahre in Hoyers­werda basierte. Kul­tur­bü­ro­kra­ten kri­ti­sier­ten unter ande­rem die (angeb­lich aus Ame­rika kom­mende) kom­mende »harte Schreib­weise.« Die »Dis­kus­sion« über sein Roman­frag­ment schil­dert der Autor so: »Es war ein ent­setz­li­ches Abschlach­ten, ein Straf­ge­richt. Für mich war in die­ser Stunde alles aus. Etwas in mir zer­brach. Denn ich hatte meine nächste über­schau­bare Lebens­spanne mit der Hoff­nung auf die­ses Buch und mit der Hoff­nung auf mich selbst als Schrift­stel­ler ver­bun­den.«  Was folgte war ein Suizidversuch…

Pitsch­mann, der gelernte Urma­cher und extrem lang­same und gründ­li­che Arbei­ter, hin­ter­lässt aber nicht nur ein bit­te­res Buch. Mit Selbst­iro­nie erin­nert er sich etwa an Gün­ther Cas­par, sei­nen umsich­ti­gen Lek­tor im Auf­bau-Ver­lag. Cas­par über­lie­ferte fol­gende Anek­dote: »Ich hätte ihm mal ein Tele­gramm geschickt: ‚Habe ges­tern ein Komma gesetzt!’ Und zwei Tage spä­ter wäre wie­der ein Tele­gramm gekom­men: ‚Komma wie­der gestri­chen’. Ein­mal sagte er mir, für die ‚Bud­den­brooks’ hätte ich wohl 200 Jahre gebraucht.«

Je mehr Pitsch­mann mit sei­nen Erin­ne­run­gen an die Zäsur 1989 her­an­kam, um so schwe­rer fiel ihm das Erzäh­len. Typisch für die­sen Autor ist, dass er sich am Ende sei­nes Lebens  – trotz erheb­li­cher Behin­de­run­gen, die auch er zu erlei­den hatte – nicht zu einem Wider­stands­kämp­fer sti­li­sierte. Statt­des­sen liest man eher selbst­quä­le­ri­sche Sen­ten­zen. »Ich ver­kroch mich (nach Suhl – U.K.), weil ich über mich nach­den­ken musste, über mei­nen  Bei­trag  zur Macht­er­hal­tung der DDR

Das Thü­rin­ger Abitur­rah­men­thema 2006 im Fach Deutsch  beschäf­tigte sich mit dem Men­schen zwi­schen Anpas­sung und Wider­stand. Pitsch­manns Lebens­bi­lanz hätte Schü­lern und Leh­rern Anlass geben kön­nen, sich ein dif­fe­ren­zier­tes Bild über das Leben in der DDR in sei­nen Mög­lich­kei­ten und engen Gren­zen zu machen.

Das schmale Bänd­chen wird, so ist zu hof­fen, seine Leser fin­den, über Thü­rin­gens Gren­zen hin­aus. Nicht nur die große Fan­ge­meinde der Bri­gitte Rei­mann wird den Text ver­schlin­gen. Bringt er doch man­che Ergän­zung des Bekann­ten. Aber Pitsch­mann setzt auch hier »Kon­tra­punkte«, wie er 1968 einen sei­ner Geschich­ten­bände über­schrieb. Unzäh­lige Male gab er gern Aus­künfte über seine Frau Bri­gitte Rei­mann. Wie Fred Wan­der stand auch er als aus­ge­wie­se­ner Autor plötz­lich im Schat­ten sei­ner Frau. Sieg­fried  Pitsch­mann konnte noch bei den Vor­ar­bei­ten zu dem Spiel­film über die Rei­mann man­chen Tipp geben. Die Pre­miere 2004 erlebte er  nicht mehr.

Pitsch­mann, wir wuss­ten es längst und füh­len uns durch den Erin­ne­rungs­band bestä­tigt, war weit mehr als der Mann an der Seite Bri­gitte Rei­manns. Nicht zufäl­lig steht eben dies am Ende der »Ver­lust­an­zeige«: »Aber ich würde doch gern für mich ste­hen.« Begrei­fen wir die »Erin­ne­run­gen« als Anstoß, die Pro­sa­bände des Daniel Sieg­fried Pitsch­mann  wie­der öfter aus dem Regal zu holen…

 

  • Sieg­fried Pitsch­mann: Ver­lust­an­zeige. Erin­ne­run­gen, auf­ge­zeich­net und bear­bei­tet von Marie-Eli­sa­beth Lüdde, Edi­tion Muschel­kalk, Bd. 13, Wart­burg-Ver­lag, Wei­mar 2005.
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