Sibylle Berg – »Zwischen Apokalypse und Hoffnungsresten«

Personen

Sibylle Berg

Dietmar Jacobsen

Ort

Weimar

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Dietmar Jacobsen

Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.

Sibylle Bergs Romane des letz­ten Vierteljahrhunderts 

Gele­sen von Diet­mar Jacobsen

 

War­nung vor dem Untergang

Der Roman, mit dem die 1962 in Wei­mar gebo­rene Sibylle Berg ins neue Jahr­tau­send ein­stieg, »Ende gut« (2004), war eine End­zeit­ge­schichte, eine apo­ka­lyp­ti­sche tour de force und (Schre­ckens-) Vision der euro­päi­schen Gegen­wart vor dem Hin­ter­grund öko­lo­gi­scher Kata­stro­phen, isla­mis­ti­schen Ter­rors und ame­ri­ka­ni­schen Super­macht­ge­ba­rens. Frei­lich: Die gro­ßen und klei­nen Schre­cken unse­rer Welt gab es bereits in den vor­he­ri­gen Büchern der heute in Zürich leben­den Autorin. Wer immer sich auf Bergs Wel­ten ein­ließ, watete wahr­lich nie im Glück, son­dern fand sich in einer Art Vor­hölle, die die Men­schen sich gegen­sei­tig berei­te­ten ohne Anse­hen von Per­son, Alter und Her­kunft. Allen­falls ein, zwei Aus­er­wählte sta­chen aus dem jewei­li­gen mensch­li­chen Gru­sel­ka­bi­nett her­vor, wur­den aber umso schnel­ler von den all­seits herr­schen­den gna­den­lo­sen Ver­hält­nis­sen wie­der ein­ge­holt, je unbe­ding­ter ihr Aus­bruchs­ver­lan­gen war. Und auch, wenn die frü­hen Bücher von Sibylle Berg neckisch-neu­gie­rig­ma­chende Namen tru­gen wie »Sex II« (1998), »Ame­rika« (1999) und »Gold« (2000), also mit schein­ba­ren Glücks­ver­hei­ßun­gen lock­ten,  meis­tens ging in ihnen  alles – Anstand, Ehr­lich­keit und Exis­tenz – schnell den Bach hinunter .

An die­ser abgrund­dunk­len Kon­tras­tie­rung mensch­li­chen Mit­ein­an­ders hält auch »Ende gut« fest. Nur blickt die­ses Buch etwas wei­ter als ledig­lich hin­ter die Gar­di­nen und in die Köpfe der klein­bür­ger­li­chen Nach­bar­schaft. Weil am Beginn eines neuen Zeit­al­ters, gar eines neuen Jahr­tau­sends, Bilan­zie­run­gen wie Aus­bli­cke durch­aus ange­bracht sind, über­treibt Berg hier ein­mal den aktu­el­len Zustand der Welt, um auf glo­bale Gefähr­dun­gen auf­merk­sam zu machen. Und ihr fällt kein Grund ein, warum gerade die­je­ni­gen geret­tet wer­den soll­ten aus dem all­ge­mei­nen Unter­gang, die ihn selbst von lange her vor­be­rei­tet haben.

Die ca. 40-jäh­rige Hel­din des Romans, abge­klärt und allein, wenig mehr hof­fend und inner­lich ein­ver­stan­den mit den Gewal­ten, die alles Leben um sie her lang­sam auf­zeh­ren, zu müde zur Revolte, aber einen klei­nen Fun­ken von Lebens- und Lie­bes­gier wie eine letzte Hab­se­lig­keit bewah­rend, tau­melt durch die Kulis­sen des wie­der­ver­ei­nig­ten Deutsch­lands zu einer Zeit, die kei­nes­wegs so weit in der Zukunft liegt, wie der Leser es sich gele­gent­lich wohl wün­schen mag. Alle Bedro­hun­gen unse­rer Gegen­wart sind in Bergs Dys­to­pie kon­kre­ter, ja eigent­lich unaus­weich­lich gewor­den. Seu­chen wüten. Extre­mis­ten bom­ben. Ideo­lo­gen ver­ne­beln das Den­ken. Es geht offen­sicht­lich auf das Ende zu und Erlö­sung bleibt aus, weil Liebe fehlt.

Schön ist das wahr­lich nicht. Aber wahr könnte es wer­den, denn alles, was Sibylle Berg in ihre fata­lis­ti­sche Roman­welt ein­baut – bis hin zum Atom­krieg – ist in sei­ner fata­len Ten­denz in unse­rer Gegen­wart ange­legt. Ein­ge­streut in ihren Text, damit er sich nicht im Spe­ku­lie­ren ver­liert, hat die Autorin übri­gens so genannte »Info­hau­fen«, die das Erfun­dene in Rich­tung auf das Vor­ge­fun­dene öff­nen, Inseln eines wenig beru­hi­gen­den Fak­ti­schen inmit­ten all des fik­tio­na­len Grauens.

Doch es gibt in »Ende gut« auch einen Flucht­punkt. Denn nach einer lan­gen Odys­see durch das kol­la­bie­rende Deutsch­land fin­det Bergs Prot­ago­nis­tin in einem stum­men (!) Mann end­lich den Gefähr­ten, auf den sie ihr gan­zes bis­he­ri­ges Leben lang ver­geb­lich gewar­tet hatte. Es geht nicht um Liebe in die­ser Bezie­hung – des­halb wohl ist sie auch halt­ba­rer -, son­dern um Sicher- und Gebor­gen­heit. Auf einem fin­ni­schen Insel­chen fin­det sich sogar ein neuer Lebens­raum, den man nicht mehr erobern muss, wie es der her­ge­brachte Stil der Gat­tung zu sein scheint, son­dern ein­fach nur still und unauf­fäl­lig bezie­hen kann. Platz zum War­ten auf das Ende, das pri­vate und das der vom Men­schen gemach­ten Welt. Ein – für Sibylle Berg mehr als unge­wöhn­li­ches – Happy-End? Wohl weni­ger. Aber der Roman endet mit dem Wort »gut« – und das ist ja schon etwas.

Flucht aus Weimar

Alles andere als gut sieht es auch im Leben von Max und Anna aus, den bei­den jugend­li­chen Hel­den aus Bergs nächs­tem Buch »Habe ich dir eigent­lich schon erzählt …« (2006). Die bei­den 14-Jäh­ri­gen leben in der DDR, genauer gesagt in einem Wei­mar, wie es die Erin­ne­rung an ihre eigene Kind­heit und Jugend der Autorin dik­tiert: eine kleine, enge, graue, pro­vin­zi­elle, Krea­ti­vi­tät behin­dernde Stadt in einem lang­wei­li­gen Land, einem win­zig klei­nen Teil Euro­pas, der sich vor sei­nen Nach­barn hin­ter Sta­chel­draht ver­steckt. Zwar gibt man hier vor, das Erbe nur der aller­bes­ten Tra­di­tio­nen der Deut­schen ange­tre­ten zu haben, doch Selbst­ver­trauen ist lei­der Man­gel­ware. Und im Namen einer Idee, an die nie­mand mehr so rich­tig glaubt, bespit­zeln sich viele Ein­woh­ner des Lan­des sogar gegenseitig.

»Habe ich dir eigent­lich schon erzählt …« ist ein Buch für Jugend­li­che unse­rer Tage. Viel­leicht tut sich Sibylle Berg genau die­ser Adres­sa­ten wegen ein­mal nicht so schwer mit dem Thema »Liebe«. Denn natür­lich kom­men ihre zwei Hel­den zusam­men und machen sich gemein­sam auf die Flucht aus den unleb­ba­ren Zustän­den, die sie in Wei­mar umge­ben, als wür­den sie in eiser­nen Ket­ten lie­gen. Und weil Anna und Max jung genug sind, um sich stau­nend und mit allen Sin­nen der sich ihnen plötz­lich eröff­nen­den Gefühls­welt hin­zu­ge­ben, bekommt auch ihre unschul­dige Liebe, die jeden der bei­den im jeweils ande­ren sich selbst erken­nen lässt, etwas Zukunfts­träch­ti­ges und lässt sie gemein­sam viele schwie­rige Situa­tio­nen, die sich ihnen auf der Flucht nach Rumä­nien, von wo aus sie ille­gal in das Land ihrer Träume, die Tür­kei, zu gelan­gen hof­fen, überwinden.

Ein «Mär­chen für alle« hat Sibylle Berg das schmale Buch genannt. Und ein Mär­chen mit glück­li­chem Aus­gang ist es auch. Nicht jedes erzählte Detail darf man glau­ben. Nicht auf jeder Seite über­zeugt der Text. Ein­ge­fleischte Berg-Leser wer­den sich von sei­nem Anfang ange­zo­gen füh­len, Leser, denen Sibylle Berg mit die­sem Roman zum ers­ten Mal begeg­net, eher von sei­nem Schluss. Kri­ti­sche Leser wer­den ver­mer­ken, dass es der Autorin nicht immer gelingt, das Rede­wech­sel­spiel zweier 14-Jäh­ri­ger adäquat  des Alters in Szene zu set­zen. Man­ches , was die bei­den äußern, klingt wirk­lich zu alt­klug. Aber ansons­ten ist da viel in die­sem Buch, womit Sibylle Berg in den Roma­nen davor eher geizte: Mensch­lich­keit und Über­le­bens­wil­len, Fan­ta­sie und Freund­lich­keit, Hoff­nung und eben Liebe.

Kein Glück. Nirgends

Nach­dem  »Habe ich dir eigent­lich erzählt …«  end­lich ein­mal ein Berg-Text war, den man mit einem Lächeln im Gesicht ver­las­sen konnte, ste­hen bereits in ihrem nächs­ten, ein gutes Jahr spä­ter ver­öf­fent­lich­ten  Roman »Die Fahrt« (2007) wie­der Men­schen »… unkla­ren Alters mit einer gro­ßen Lebens­mü­dig­keit« im Mit­tel­punkt. In 79 kur­zen Kapi­teln nimmt uns Sibylle Berg mit in das Leben von 36 Haupt­per­so­nen  an unter­schied­lichs­ten Schau­plät­zen auf der gan­zen Welt. Man begeg­net Fre­de­rick und Fatma, Svenja und Sus­anti, Mr Ling (ohne Punkt hin­ter dem Mr) und Frau Katz, Nus­rat und Parul und so wei­ter und so fort. Nicht nur, weil einige die­ser Figu­ren in meh­re­ren Kapi­teln auf­tau­chen – Spit­zen­rei­ter sind die Damen Pia, Helena und Miki mit 8 bzw. 9 Auf­trit­ten -, son­dern auch, weil sich Lebens­wege kreu­zen, die glei­chen Situa­tio­nen aus dem Fokus mal der einen, mal der ande­ren Per­son erzählt wer­den, darf sich das Ganze Roman nen­nen, auch wenn es den tra­di­tio­nel­len Rah­men die­ses erzäh­le­ri­schen Gen­res um eini­ges sprengt.

Man könnte sogar von einem »Rei­se­ro­man« – bes­ser viel­leicht noch: »Rei­se­patch­work« ‑spre­chen, denn die meis­ten von Sibylle Bergs Hel­din­nen und Hel­den sind per­ma­nent auf Achse. Tau­chen mal in Europa auf, mal in Asien. Füh­len sich in Thai­land ebenso fehl am Platz wie in den New Yor­ker Hamp­tons. Bekom­men keine Luft in Bom­bay, kei­nen Mann in Bish­kek und kei­nen Fuß auf den Boden des ame­ri­ka­ni­schen Traums in Venice Beach, Flo­rida. Kurz und gut: »Die Fahrt« ist voll von Figu­ren, wie ihre Autorin sie immer wie­der in ihren Büchern auf­tre­ten lässt: Sucher, die nichts fin­den, trost­lose »Erwach­se­nen­ma­schi­nen«, Tou­ris­ten unter­wegs zu sich selbst ohne je anzukommen.

Mit sei­nem ers­ten und dem abschlie­ßen­den Kapi­tel umrahmt der Roman die vie­len klei­nen Bin­nen­ge­schich­ten, aus denen er besteht. »Die Fahrt« beginnt in Reykja­vik und dort geht sie auch zu Ende. Trau­ert in kapi­tel 1 der Islän­der Gun­ner Gustaf­son um seine Frau Gabri­ella, so hat er sein Haus 350 Sei­ten spä­ter an Frank und Ruth ver­mie­tet, die sich nach vie­len indi­vi­du­el­len Irr­we­gen getrof­fen und beschlos­sen haben, fortan ihr klei­nes Glück abseits der gro­ßen Städte, der vie­len Men­schen und all jener Ideen zu fin­den, die sie nur ein­sa­mer, nicht zufrie­de­ner gemacht haben. Doch Frank ist krank und stirbt in Ruths Armen, bevor sich bewahr­hei­ten kann, was bei­den wie die späte Summe aus all ihren Erfah­run­gen erschien – dass es zum Glück nichts Gro­ßes braucht, nichts von außen an den Men­schen Her­an­ge­tra­ge­nes, son­dern nur die har­mo­ni­sche Zwei­sam­keit, das Sich-mit­ein­an­der-Wohl­füh­len zweier Men­schen, für die alles andere dann in weite Ferne rückt.

Nur die wenigs­ten von Bergs Figu­ren erhal­ten die Chance, zu sol­chen Erkennt­nis­sen durch­zu­drin­gen. Die Welt der vie­len ande­ren dreht sich im Kreis und sie dre­hen sich mit. Het­zen von Ort zu Ort, um über­all das­selbe zu fin­den. Fra­gen sich in der Fremde, warum sie die Hei­mat ver­las­sen haben, und in der Hei­mat, wel­che Fremde vol­ler uto­pi­scher Ver­spre­chen sie als nächs­tes pro­bie­ren soll­ten. Nir­gendwo gefällt es ihnen. Über­all kon­sta­tie­ren sie Umwelt­zer­stö­rung, Chaos und Schmutz – Schmutz, der wie eine alles gleich­ma­chende Kruste die Erde bedeckt.

Sibylle Berg gebär­det sich als zor­nige Pro­phe­tin in die­sem Roman. Kaum etwas besteht vor ihrem Blick auf unse­ren Pla­ne­ten. Alle Wege, die sich ihren Figu­ren eröff­nen, füh­ren letzt­end­lich in zuge­müllte Sack­gas­sen. Was immer man auch pro­biert – es miss­lingt. Nicht ein­mal einem Tsu­nami halb­wegs heil ent­kom­men zu sein, ist Grund für Freude – das nächste Unglück lau­ert bereits um die Ecke. Aber sind all die halb­ver­rück­ten Sinn­su­cher nicht selbst schuld? All  die Ruck­sack­tou­ris­ten und Kib­buz-Jün­ger in bereits fort­ge­schrit­te­nem Alter? Die Lika­tier zu Füs­sen ebenso wie die Anhän­ger des uralten ame­ri­ka­ni­schen Traums oder jenes neue­ren Ver­spre­chens, auf­grund des­sen man sich in die Maschen des welt­wei­ten Net­zes wirft? Gehör­ten denen nicht zuerst die Levi­ten gelesen?

Sicher­lich betreibt die Autorin auch stille Zivi­li­sa­ti­ons­kri­tik. Wo die Gewin­ner der Glo­ba­li­sie­rung und ihre Ver­lie­rer zu suchen sind, ist ihr schon klar – da, wo sie das aus­sichts­lose Leben Letz­te­rer beschreibt, wirkt ihr Buch im Übri­gen am authen­tischs­ten und inten­sivs­ten. Aber sie hütet sich, mit Lösun­gen hau­sie­ren zu gehen. Allzu viel wurde auf die­sem Markt schon feil­ge­bo­ten und nichts davon hat sich wirk­lich bewährt. Es gibt eine Art Glück, sehr fra­gil, immer gefähr­det. Aber schon, wenn man den Weg zu ihm hin­aus­po­saunt in die Welt, hört es auf zu existieren.

Nach dem – fast happy enden­den – Mär­chen Habe ich dir eigent­lich schon erzählt … (2006) kehrt Sibylle Berg mit ihrem bis dato umfang­reichs­ten Roman nicht nur zu ihren ästhe­ti­schen Wur­zeln zurück, son­dern auch zu alten Über­zeu­gun­gen: Kein Glück. Nir­gends. Noch wei­ter hat sie ihre geo­gra­fi­schen Hori­zonte hin­aus­ge­scho­ben, in »Die Fahrt« umfasst ihr Blick prak­tisch die gesamte Welt. Doch über­all sieht es fins­ter aus – mit Aus­nahme eines win­zig klei­nen Punk­tes, wo »nur vier Stun­den ein schwa­ches Licht« leuch­tet. Nur sehen es die meis­ten nicht.

Leben mit einem Mann ohne Eigenschaften

Nach­dem man glück­li­che Paare in den Büchern Sibylle Bergs lange ver­geb­lich suchte (Aber wer suchte die schon bei die­ser Autorin?) – in der Regel leb­ten und lieb­ten, hoff­ten und harr­ten, sehn­ten und beweg­ten sich ihre Hel­den immer anein­an­der vor­bei -, erschien 12 Jahre nach ihrem lite­ra­ri­schen Debüt plötz­lich ein Bezie­hungs­ro­man aus Bergs Feder: »Der Mann schläft« (2009).  Es ist die Geschichte einer Ich-Erzäh­le­rin, der aus hei­te­rem Him­mel ein männ­li­cher Gefährte in den Schoß fällt, der weder Vor- noch Nach­na­men trägt, nicht schön ist, aber auch nicht häß­lich, kaum dem ent­spricht, »was man gemein­hin als Kleinod bezeich­nete«, aber flei­ßig Bezie­hungs­punkte sam­melt, indem er der ein­sa­men Schrei­be­rin von Gebrauchs­an­lei­tun­gen (!) das Gefühl gibt, sie sei nichts als lie­bens­wert. Im Übri­gen ver­bringt er viel Zeit im Bett – und das gewöhn­lich schla­fen­der­weise, wie der Buch­ti­tel ja bereits andeutet.

Das muss ein in den Berg­schen Fata­lis­mus und den sich dar­aus ent­wi­ckeln­den Schreib­fu­ror ver­lieb­ter Leser erst ein­mal schlu­cken. Doch nach­dem man sich ein paar Dut­zend Sei­ten lang ver­wun­dert die Augen gerie­ben hat ob die­ser schein­bar radi­kal neuen Sicht auf die Dinge des Lebens, errei­chen  einen schon bald beru­hi­gende Signale. Denn gut geht auch diese so har­mo­nisch begin­nende Geschichte nicht aus. Obwohl es auf einer der zwei Zeit­ebe­nen, die Sibylle Berg gekonnt auf­ein­an­der zulau­fen lässt, bis die erin­nerte Ver­gan­gen­heit mit dem letz­ten Kapi­tel die erzäh­le­ri­sche Gegen­wart erreicht, ziem­lich men­schelt, wird nur allzu bald klar, dass das Aben­teuer »Paar­be­zie­hung« zu dem Zeit­punkt, da es erzäh­le­risch reani­miert wird, schon längst vor­bei ist. Von einem Gang vor die Tür wäh­rend eines gemein­sa­men Asi­en­ur­laubs kehrt »der Mann« nicht mehr zurück.

Vor­her frei­lich ent­wi­ckelt sich fast so etwas wie eine ideale Zwei­er­be­zie­hung. Fernab jeder puber­tä­ren Auf­ge­regt­heit und auch nahezu jen­seits aller hirn­ver­ne­beln­den Nur-Sexua­li­tät tref­fen da zwei vom Leben bis­her nicht eben mit Samt­hand­schu­hen ange­fasste Men­schen auf­ein­an­der. Und es scheint zu funk­tio­nie­ren. Fast von allein. Oft ohne Worte. Und leise amü­siert ange­sichts der mit ver­ba­len Nich­tig­kei­ten und hoh­len Bezie­hungs­ri­tua­len sich ringsum wei­ter abspie­len­den mensch­li­chen Komö­die unse­rer Tage, die die Erzäh­le­rin desto gelas­se­ner zu ertra­gen scheint,  je enger sie sich in ihr spä­tes Glück einspinnt.

Bergs ers­tes Buch nach ihrem Ver­lags­wech­sel  vom Köl­ner ver­lag Kie­pen­heuer & Witsch nach Mün­chen zum Han­ser Ver­lag ist rou­ti­niert erzählt und hat für sein Thema die adäquate Form gefun­den. Den­noch über­zeugt es über weite Stre­cken nicht. Das könnte auch daran lie­gen, dass sein – kei­nes­wegs iro­nisch gespie­gel­ter – Gegen­stand es in die Nach­bar­schaft von Tex­ten rückt, mit denen auf einem Reg­al­brett zu ste­hen eine Zumu­tung für die Autorin dar­stel­len dürfte. Liebe macht blind, sagt man. Im Falle von »Der Mann schläft« tut sie ein Übri­ges: Sie ent­schärft eine Prosa, an der wir bis­her immer gerade ihre kom­pro­miss­lose Unver­söhn­lich­keit bewun­dert haben.

Gegen gute Men­schen ist kein Kraut gewachsen

Mit »Vie­len Dank für das Leben« (2012) kehrte Berg drei Jahre spä­ter der roman­ti­schen Zwei­er­be­zie­hung den Rücken zu. Schluss war (end­lich) wie­der mit veliebt tuen­den Schnarch­sä­cken wie dem namen­lo­sen Hel­den aus »Der Mann schläft«, der sich meis­tens in der Hori­zon­ta­len auf­hielt und mas­ku­li­nes Impo­nier­ge­habe nicht zu ken­nen schien. Unter Ein­satz ihrer gan­zen Schwarz­seh­kunst und mit einer Haupt­fi­gur, wie sie von allen momen­tan auf  Deutsch Schrei­ben­den wohl nur Sibylle Berg hat ein­fal­len kön­nen, kehrte sie zu ihren Wur­zeln zurück.

Die Haupt­fi­gur in »Vie­len Dank für das Leben« trägt  den Namen Toto, was ein biss­chen nach ita­lie­ni­schem Neo­rea­lis­mus und ein biss­chen nach das Leben über­trei­ben­der Clow­ne­rie klingt. Von bei­dem hat die Geschichte, die im kal­ten Som­mer des Jah­res 1966 in der DDR beginnt, tat­säch­lich etwas. Wie bereits in »Habe ich dir eigent­lich schon erzählt« malt Sibylle Berg die Welt, in die sie selbt hin­ein­ge­bo­ren wurde, grau in grau. Es riecht durch­drin­gend nach Kohl und mit dem leicht zugäng­li­chen Anti­de­pres­si­vum Alko­hol hel­fen sich viele der auf­tre­ten­den Figu­ren dar­über hin­weg, dass der Traum von einem neuen, bes­se­ren Leben und die in des­sen Namen gebaute Wirk­lich­keit immer wei­ter aus­ein­an­der­drif­ten: »Der  glück­li­che Volks­kör­per wollte sich nicht einstellen …«.

Aber auch Bergs Held Toto ist alles andere als voll­kom­men. Als Herm­aphro­dit ver­bringt er die ers­ten Jahr­zehnte sei­nes Lebens als Mann, spä­ter, wenn es ihn – mehr aus Zufall denn gewollt – in den west­li­chen Teil Deutsch­lands ver­schla­gen hat – wagt er den Neu­an­fang als Frau. Doch das ändert nichts daran, dass Toto, wo immer er/sie auch auf­taucht, ein Fremd­kör­per ist, zuver­läs­sig gehasst von all jenen, denen er/sie eigent­lich nur Gutes tun will.

»Vie­len Dank für das Leben« bedient sich der rei­chen For­men­spra­che, die Sibylle Berg in den vor­her­ge­hen­den zwei Jahr­zehn­ten für sich ent­wi­ckelt hat und die ihre Bücher wie­der­erkenn­bar macht. Kurz­bio­gra­fien von Neben­fi­gu­ren wer­den schlag­licht­ar­tig in den Text ein­ge­blen­det, der die Welt  aus stän­dig wech­seln­den Per­spek­ti­ven ein­fängt. Und bereits die Kapi­tel­über­schrif­ten – mehr als die Hälfte der Buch­ab­schnitte trägt schlicht die Titel­zeile »Und wei­ter.« – ver­mit­teln das Gefühl einer Hoff­nungs­lo­sig­keit, der nicht zu ent­kom­men ist. Um Plau­si­bi­li­tät schert sich Sibylle Berg bei all dem wenig, ver­mei­det weder Kli­schee noch Kol­por­tage, trägt dick auf, um nur ja kei­nen Zwei­fel daran auf­kom­men zu las­sen, was sie von den gro­ßen Plä­nen zur Ver­bes­se­rung der Mensch­heit hält, die immer wie­der auf Null zurück­ge­setzt wer­den, um beim nächs­ten Anlauf erneut und noch gran­dio­ser zu scheitern.

Nein, gegen die Men­schen, so erfährt man, ist kein Kraut gewach­sen. Oder mit den Wor­ten der Autorin selbst: «Dege­ne­riert mögen sie sein, von Tumo­ren zer­setzt, doch die ster­ben nicht aus, die gewöh­nen sich an alles. Die Menschen.«

Was macht das Leben span­nend auf der Zielgeraden?

Bergs Hel­den in ihrem bis dato letz­ten Roman »Der Tag, an dem meine Frau einen Mann fand« (2015 ) hei­ßen Ras­mus und Chloe. Zwan­zig Jahre sind der Thea­ter­re­gis­seur, mit dem es lang­sam bergab geht, und die Anti­qua­rin mit­ein­an­der ver­hei­ra­tet und eigent­lich scheint alles in bes­ter Ord­nung zu sein. Doch wäh­rend eines Auf­ent­halts in einem Land der Drit­ten Welt – Ras­mus will hier Thea­ter mit jugend­li­chen Lai­en­schau­spie­lern machen – beginnt Chloe, über ihre Ehe nach­zu­den­ken. Im Grunde scheint die Sache noch zu funk­tio­nie­ren wie eh und je – allein der Sex ist nicht mehr ganz so pri­ckelnd, wie er am Anfang war. Aber ist das so wich­tig, wenn man sich liebt? Kühlt nicht jede Bezie­hung irgend­wann ein­mal ab? Und sollte man nicht eher dank­bar sein, wenn die Hor­mone einen nicht mehr in jede Venus­falle locken?

Aber wer denkt schon so ratio­nal, wenn er Mitte 40 ist, anfängt, Spie­gel zu mei­den, auf­ge­hört hat, seine Geburts­tage zu fei­ern, und sich ohne­hin von den Kran­ken­kas­sen ver­ra­ten fühlt: »Es wird schlech­ter, egal, was uns die Kran­ken­kas­sen erzäh­len von einem erfüll­ten Alter. Es wird schlech­ter, anstren­gen­der, die Augen ver­sa­gen, das Gehör fällt aus, die Osteo­po­rose nagt. Die Men­schen sind für die soge­nannte zweite Lebens­hälfte nicht gemacht. Wie sehr auch alle bekräf­ti­gen, wie groß­ar­tig das Leben sei mit die­sem ent­span­nen­den Wis­sen, über das sie im Alter ver­fü­gen, die Wahr­heit ist: Kei­ner braucht alte Men­schen mit ihren Weis­hei­ten. Die Jun­gen wün­schen sich nur, dass die Alten ver­schwin­den, und damit haben sie recht.«

Nicht unbe­dingt poli­tisch kor­rekt, wie Chloe denkt. Aber das ken­nen die Leser ja von den Hel­din­nen Bergs und viel­leicht liest man diese Autorin auch gerade des­halb so gern, weil sie kein Blatt vor den Mund nimmt, gerne auch ein­mal über­treibt und Rea­les in Gro­tesk-Sur­rea­les kip­pen lässt. Schön fühlt sich das »War­ten auf den Tod«, als das Bergs Hel­din ihr Leben begreift, jeden­falls nicht an, wenn beide Part­ner nur noch mehr oder weni­ger still vor sich hin mas­tur­bie­ren und ihr über­ra­gen­des, von gegen­sei­ti­gem Ver­ste­hen getra­ge­nes Mit­ein­an­der letz­ten Endes schuld daran zu sein scheint, dass man eigent­lich nie »sexu­ell die Sau raus­las­sen« kann.

Da kommt Benny gerade recht. Der Mas­seur aus dem Mor­gen­land mit sei­nem per­fek­ten Kör­per gibt Chloe all das, wonach sie sich gesehnt hat. Zwar lässt er intel­lek­tu­ell ein paar Wün­sche offen, doch die kann sie sich ja spä­ter von ihrem Mann erfül­len las­sen. Im Moment jeden­falls ist sie kom­plett über­wäl­tigt von die­ser viel­leicht letz­ten Lei­den­schaft ihres Lebens, wen­det ihrem schal gewor­de­nem Ehe­glück den Rücken zu und kann von Benny auch dann nicht las­sen, nach­dem sie mit Ras­mus wie­der in Deutsch­land ist. Also wird der Lover nach­ge­holt und es beginnt eine merk­wür­dige Ménage a trois, in der der Ehe­mann schließ­lich der­je­nige ist, der dem wil­den Trei­ben der bei­den ande­ren vom Nach­bar­zim­mer aus zuhö­ren muss.

»Der Tag, an dem meine Frau einen Mann fand« ist ein Roman, der viele The­men und  Motive, die man aus der Roman­welt Sibylle Bergs bereits kennt, noch ein­mal bün­delt. Wit­zig, ele­gant, ein biss­chen por­no­gra­fisch, ein biss­chen pro­vo­kant, nichts­des­to­trotz wun­der­bar les­bar und zum Nach­den­ken anre­gend. Keine Welt­erklä­rung aus dem Geiste des Nihi­lis­mus wie sein Vor­gän­ger »Vie­len Dank für das Leben« – aber streit­bar und weise. Als moder­ner Ehe­rat­ge­ber frei­lich taugt das Buch weni­ger. Denn wel­che Erkennt­nis soll man aus der Geschichte schon zie­hen? Geht es doch Chloe mit ihrem neuen Lover nicht anders als mit allen ande­ren vor­her – am Ende steht die Ent­täu­schung: »Nun geh schon, denke ich, geh schon […] Die Haus­tür schlägt hin­ter ihm zu. Ich beginne auf­zu­räu­men. In zwei Wochen darf Ras­mus nach Hause.«

Von Bay­reuth bis Bang­kok – ein etwas ande­rer Blick auf die Welt

»Wun­der­bare Jahre« hat Sibylle Berg ihr bis dato letz­tes Buch über­schrie­ben. Es ist kein Roman, son­dern eine Samm­lung von Rei­se­re­por­ta­gen, bei denen es sich haupt­säch­lich um über­ar­bei­tete Kolum­nen der Autorin aus den letz­ten zwei Jahr­zehn­ten han­delt. Allein von nai­ver, tou­ris­ti­scher Welt­be­sich­ti­gung mit wegen all des Exo­ti­schen weit auf­ge­ris­se­nen Augen kann hier bei­leibe nicht die Rede sein. Man zögert sogar, Bergs Texte mit her­kömm­li­chen Rei­se­be­rich­ten gleich­zu­set­zen, weil einem unterm Strich die Lust aufs Rei­sen mehr genom­men denn gemacht wird.

Vom Bay­reu­ther Fest­spiel­haus bis in die Kabine eines jener Oze­an­rie­sen, deren Motore­mis­sio­nen »denen von 350.000 Autos ent­spre­chen«, beglei­tet der Leser die Autorin, kehrt mit ihr an ihren Geburts­ort Wei­mar zurück, frei­lich nur, um die thü­rin­gi­sche Klein­stadt nach kur­zer Zeit flucht­ar­tig wie­der zu ver­las­sen, sieht sich nach Paki­stan, Süd­afrika und Thai­land – nach  Ita­lien gar zwei­mal – ver­setzt, doch all das ohne die im Rei­se­li­te­ra­tur­genre sonst übli­che Begeis­te­rung für Land und Leute. Statt­des­sen domi­nie­ren Bestür­zung bis Ent­set­zen. Manch­mal for­mu­liert Berg ihr Unbe­ha­gen auch ganz direkt mit der ihr eige­nen Mischung aus fre­chem Witz, poli­ti­scher Unkor­rekt­heit und Lust an der Provokation.Und sie ver­schließt die Augen nicht, wenn ihr als Rei­sen­der Armut, Elend und Trost­lo­sig­keit begegnet.

Man kann »Wun­der­bare Jahre« von vorn lesen oder von hin­ten, in einem Zug oder häpp­chen­weise. Man kann das Buch – übri­gens groß­ar­tig bebil­dert von Isa­bel Kreitz – nach der Lek­türe im Regal ver­schwin­den las­sen, aber auch mit auf seine nächste Reise neh­men, damit sich die eige­nen Ein­drü­cke an denen der Autorin rei­ben könen. Tut man Letz­te­res, wird man Sehens­wür­dig­kei­ten, Orte und Men­schen zwei­fel­los ein wenig anders erle­ben, weil Sibylle Bergs Texte hin­ter die pla­ka­tive Ober­flä­che des Exo­ti­schen genauso drin­gen wie hin­ter die Ober­fläch­lich­keit jener Rei­sen­den, auf deren Agenda »Spaß« steht und sonst nichts.

»Es gibt einen Kon­sens mit­tel­stän­di­scher Bil­dungs­bür­ger­träume, zu dem zäh­len der Besuch der Chi­ne­si­schen Mauer, ein­mal Nibe­lun­gen in Bay­reuth, die Liebe zu Frank­reich und eine Reise mit dem Ori­ent-Express. Danach kann man ster­ben», heißt es an einer Stelle. Sibylle Berg hat das alles schon durch. Gestor­ben ist sie trotz­dem nicht. Denn wenn ihr unsere heu­tige Welt auch über­wie­gend als ein kal­ter Ort erscheint und die Men­schen darin haupt­säch­lich nur noch an sich selbst inter­es­siert zu sein schei­nen – die Neu­gier auf das, was jen­seits ihrer eige­nen vier Wände pas­siert, hat die Autorin den­noch  nicht verloren.

 

  • Sibylle Berg: Ende gut. Roman. Köln: Kie­pen­heuer & Witsch 2004.
  • Sibylle Berg: Habe ich dir eigent­lich schon erzählt .… Ein Mär­chen für alle. Köln: Kiepenheuer&Witsch 2006.
  • Sibylle Berg: Die Fahrt. Roman. Köln: Ver­lag Kie­pen­heuer & Witsch 2007.
  • Sibylle Berg: Der Mann schläft. Roman. Mün­chen: Carl Han­ser Ver­lag 2009.
  • Sibylle Berg: Der Tag, an dem meine Frau einen Mann fand. Roman. Mün­chen: Carl Han­ser Ver­lag 2015.
  • Sibylle Berg: Wun­der­bare Jahre. Als wir noch die Welt bereis­ten. Mit Bil­dern von Isa­bel Kreitz. Mün­chen: Carl Han­ser Ver­lag 2016.
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