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Ron Winkler
Reihe »Dichters Wort an Dichters Ort« / Thüringer Literaturrat e.V.
Der Sage nach.
Einen Berg gibt es, der beginnt hinter einem Fluss. Beginnt mit seinem Makel: Es ist ein Schadensberg, ein Sturzberg. Ein Restberg, der seinen Kern entblößt, das Herz aus Stein. Mehrfach entglitt ihm die flussseitige Flanke. Bergsturz nennt man den Vorgang, und darüber hinaus (und hinweg) nennt man ihn vor Ort noch Dohlenstein. – In dieser Gegend eine feste Größe: der Berg, den es gibt, der hinter dem Fluss liegt, den es gibt, den er verschoben hat mit seinen Abgängen, dem Bröseln, seinem Stürzen.
Der Fluss hat das mitgemacht, natürlich. Und der Stein auch. Aber die Dohlen haben es vielleicht nicht mitgemacht: dass der Berg von einer Feste zu einer festen Größe wurde, weil er jetzt Ausnahme war, aus der Ordnung, allegorische Präsenz. Ja, ein Wappenberg hätte er verdient zu sein. Das Invalide hatte ihm eine spezielle Validität verschafft.
Als Kind ging ich zu ihm: hin und herauf. Den halben Berg, den malträtierten. Den besonderen, den schönen. Ging über eine Furcht anregende Bohlenbrücke, von der aus das prinzipiell durchschreitbare Flüsschen, das damals schon Saale hieß, wie eine dunkle Gefahr schien. Eine Bedrohung, die sich in Träumen als reißender Strom auftat. Aber die Überwindung des dystopisch gefärbten Flusses mit seinen Industrieschaumkronen war Teil der Befreiung, die der Aufstieg verhieß.
Der Sage nach, so habe ich es mir in den Kopf gesetzt, soll im Inneren des Berges ein Schloss der Entdeckung harren. Eine dem Kind mitgeteilte Sage.
Ich ging als Kind in einem Wir. Allein oder mit Freund den Schuttfächer hinauf: die größte Allee der Stadt, die sich von der anderen Seite an den Fluss gebröselt hatte.
Vermutlich redeten wir nicht viel in unserem Wir. Schauten zur Felswand, sahen die Steine und Täfelchen aus Kalk zu unseren Füßen, schwärmten aus. Schrieben nichts, ersonnen dafür Abenteuer, schwiegen Fantasien. Fokussiert darauf, etwas zu finden, das noch nicht inventarisiert war. Wenn man nur richtig brannte – Darwin und Gendarm –, ließ sich dem Schuttfächer vielleicht ein Schatz entnehmen: eine kleine unverstandene Lebensform, in Stein hineingealtert. Donnerkeile, Bändertierchen, Farnzitate. Oder das reine Weiß eines aufgegebenen Schneckenhauses. Oder eine Ballung Fasergips. Ein Nichts mit momentanem Goldwert. Zarter Prunk volkseigener Landschaft.
Wir sind lange noch nicht oben, doch schauen schon zurück. Ins Dohlensteintal, die nicht abrutschbare Senke. Unter uns die nicht mehr gebrauchte Stadt. Ihre wie wilde Wirrnis. Der Fluss, der sich die größte Freiheit nimmt. Die Hauptkirche mit Dornen auf den Türmen, als wolle man Gott nicht zum Verweilen animieren. Unter uns die Welt der Instruktionen und des Dezimalisierten. Das Sendegebiet mit seinen Sollbruchorten. Die viel zu sehr unübersehbare Schule. Das Sägewerk, mit dem nicht gut Wald herstellen ist. Unter uns das bereits Geschriebene. Wir nicken mir zu bei diesem Gedanken. Und zwischen uns und dem Geflohenen hält der Fluss seine Brühe in Form.
Wir schauen zurück. Das Innere schaut ins Äußere zurück. Das man erobert und verändert, indem man von ihm weggeht. Wie wir von der Stadt. Wie wir auf den Parnass für Anfänger. Wie wir vorbei an einem Felsblock, auf dem einmal stehen wird: Free Gaza! Während in uns junge Geisterdohlen flattern und vor uns das Pathos des Olymps liegt, hinter uns die Ironie.
Wir kommen weiter, drängen, dringen, spielen irgendwelche alten Plots. Mondlandschaft, Weltende, Indianer und Proletariat. Signieren mit unseren Mokassins irgendwelche alten Flechten. Haben vom Tummeln vielleicht Moos hinter den Ohren, wir Lithonauten, ausgerüstet mit Schlagersüßtafel und Plasteflaschentee. Kann gut sein, dass wir im Inneren des Wir ein Einhorn erlegten auf dem Weg, rein sprachlich. Im Schutz der Dohlen, die da fehlen, mit den schönen Augen fehlen, blauen Augen. Die Dohlen, von denen Großvater erzählte, sie könnten unsere Sprache erlegen, uns zu Ohren. Großvater, der rohe Eier trank aus der ferneren Verwandtschaft der Dohlen. Großvater – oh heiliger Willy von Assisi, dessen blaue Augen in der Familie noch nicht wieder zum Vorschein kamen.
Das Ich und das Wir, die sich in meinem Ich mit Betrachtungen versorgten, waren dem Schreiben damals noch so fern wie dem Betrachter die Felswand. Hinter der ein Schloss liegen sollte, unscharf und durch keine Suche kontrollierbar. Vorhanden war vielleicht die Lust auf ein in-der-Schwebe-sein. Dass sich ein Schloss auftäte und zugleich nicht. Dass man den Berg bezwingt und selbst vom Berg bezwungen wird. Dass man die Geheimnisse, die man in den Karstspalten vermutet, selbst hineinmirakelt hat.
Vielleicht sind es immer solche Berge, von denen aus man schreibt. Wo sich das invalide Vorsprachliche zu etwas auftürmt, das ein Ergebnis fordert. Eine Schönheit voller Dohlenkarste, Goldwertträume.
Das Ich geht auf einen Berg und macht sich dabei tatsächlich schmutzig. Holt sich Sand ins Getriebe, Schlösser ins Innere. Schwächt sich so ab, dass das Fremde stark werden kann. Das Fremde, das man als Autor im Wappen trägt. Zusammen mit einer Dohle ohne Stimme, die Wir sagt. Der Sage nach.
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