Reinhard Lettau – »Alle Geschichten«

Personen

Reinhard Lettau

Jürgen K. Hultenreich

Ort

Bischleben

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.

Rein­hard Lett­aus schräg von oben nach unten gerich­te­ter Blick

Gele­sen von Jür­gen K. Hultenreich

 

Auch wenn wir von dem Deutsch­ame­ri­ka­ner Rein­hard Lettau nur ein schma­les Werk vor­lie­gen haben – es speiste sich aus spru­deln­der, ideo­lo­gie­be­frei­ter Quelle und ist chro­no­lo­gisch ver­sam­melt in dem Buch Alle Geschich­ten. Mit 67 Jah­ren starb er, der im Leben ohne Angst war, an einer Lun­gen­ent­zün­dung in Karls­ruhe und liegt direkt neben dem Ent­de­cker der Angst, E.T.A. Hoff­mann, in Ber­lin Kreuz­berg begra­ben. Selt­same Pointe. Zum Brül­len komisch Lett­aus sar­kas­ti­sche Bemer­kung aus Zur Frage der Him­mels­rich­tung: „In Thü­rin­gen ste­hen die Sachen da, wo sie gebraucht wer­den. Was man nicht sieht, ist nicht da. Was man nicht braucht, gibt es nicht.“ Dar­über ver­gisst man seine poli­ti­sche Auf­ge­regt­heit, die mich heute eher lächeln lässt. Frei­lich war sie damals dem Zeit­geist geschul­det. Von den bei­den Mar­cu­ses hatte er sich für den eng­ho­si­gen Her­bert ent­schie­den. Lud­wig wäre befrei­en­der gewe­sen. Aber das sagt sich so leicht für einen rück­läu­fig Deter­mi­nier­ten. Immer­hin konnte man Lettau mit rech­ten oder lin­ken Hohl­for­meln vom Tisch jagen.

Das Schöne bei die­sem 1929 in Erfurt gebo­re­nen, 1947 aus der Ost­zone geflüch­te­ten radi­kal­de­mo­kra­ti­schen Alt-68er und Dich­ter ist, dass er Gespro­che­nes und Geschrie­be­nes nie so rich­tig zu ver­ei­nen ver­mochte. 1960, mit ame­ri­ka­ni­schem Pass ver­se­hen, pro­mo­vierte er und bekam die Dok­tor­ur­kunde durch John F. Ken­nedy über­reicht. Tippte der spä­tere Pro­fes­sor für Ver­glei­chende Lite­ra­tur­wis­sen­schaft in San Diego auf sei­ner Schreib­ma­schine, dann ver­gaß er die mit eli­tä­rer Arro­ganz und Har­vard-Kra­watte vor­ge­tra­ge­nen poli­ti­schen Obses­sio­nen oder bezog sie als prä­zise, bal­last­freie Gro­teske in den Text mit ein. Lett­aus Geschich­ten gestat­ten kei­nem Pro­blem ein Ent­kom­men aus der Skur­ri­li­tät. Nicht nur prü­gelnde Poli­zis­ten in Ber­ke­ley wur­den so zu Faschis­ten erklärt, son­dern ebenso die ihn im Arbeits­zim­mer blen­dende kali­for­ni­sche Sonne, auf­dring­li­che Flie­gen im han­no­ver­schen Wend­land oder Ber­li­ner Gast­wirte, die nach Mit­ter­nacht keine Beef­steaks auf­ti­schen woll­ten. Gast­ge­be­rin­nen, die Wein ohne Käse zu ser­vie­ren wag­ten, waren nichts ande­res als „BDM-Mäd­chen“. Den Mit­tel­punkt unse­rer Welt setzte er nicht dort, wo es am hells­ten und lau­tes­ten ist, son­dern da, wo kein ande­rer ihn ver­mu­ten würde: Erfurt in Thüringen.

Aber nie nahm Lettau sich oder eine Ange­le­gen­heit so ernst, wie es Autoren tun, die ihre Tiefe unab­läs­sig her­vor­zu­brin­gen bemüht sind. Tiefe muss tief blei­ben und von dort wir­ken. Durch das nach oben Gespülte wer­den tief ange­legte Bücher nicht bloß flach, sie wir­ken irgend­wie unan­stän­dig. Das wis­sen z. B. noch die Fran­zo­sen, ihre sprich­wört­li­che äußere Leich­tig­keit ent­stammt mora­li­scher Kraft. Das spöt­ti­sche Hin­weg­glei­ten der Eng­län­der über Tiefs­tes bedeu­tet in Wahr­heit Sub­stan­zer­kennt­nis. Auch Goe­the ist dafür ein Bei­spiel. Wäh­rend einer Kutsch­fahrt wollte ein Mit­rei­sen­der ihn in tiefe Gesprä­che ver­wi­ckeln. Doch der Geheim­rat redete nur über den Kar­tof­fel­an­bau, sodass der Gast spä­ter ver­brei­ten durfte, Goe­the sei das Gegen­teil eines Den­kers. Jedes Gewicht, das den Autor Lettau nach unten zu zie­hen ver­suchte, fand in ihm sein Gegen­ge­wicht. Lett­aus Werk scheint – höchs­tes Kom­pli­ment – zu schweben.

In sei­nem letz­ten und nur 52 Sei­ten umfas­sen­den Roman Flucht vor Gäs­ten geht es um eine „Welt, aus der die gemüt­li­chen Feinde, auf die Ver­lass war, ver­schwan­den“. Bei den dar­über ent­täusch­ten Nach­barn „wächst der Hun­ger nach Streit“ jetzt „in der Nähe“. Gelas­sen reflek­tiert der Erzäh­ler diese Unge­reimt­hei­ten: „Nun zie­hen sie herum auf der Suche nach bes­se­ren Fein­den und tref­fen auf mich. Aber ich bin vor­be­rei­tet.“ Allein die Hunde sind noch zu Mensch­li­chem fähig. „End­lich ver­lie­ßen wir die fremde, trau­rige Gegend“, heißt es zum Schluss.

Was der nir­gendwo sich zu Hause füh­lende Lettau in fünf­und­drei­ßig Jah­ren schrieb, lesen wir an einem Tag. Um uns am Abend zu wun­dern, dass wir so fröh­lich sind.

  • Rein­hard Lettau: Alle Geschich­ten, Carl Han­ser Ver­lag Mün­chen, Wien 1998.
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