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Peter Ludwig Gülke
»Dichters Wort an Dichters Ort« / Thüringer Literaturrat e.V.
Meine Wahl der erbetenen Ortsbeschreibung drängt sich so sehr auf, daß ich sie rechtfertigen muß; auf Weimarer Parkwegen liegt, in den Bäumen hängt viel eigene Biographie.
In den Kriegsjahren bin ich dort mit meiner Großmutter herumgelaufen. Sie war fast blind und taub, wohnte oberhalb des Gartenhauses und hat mir oft Briefe diktiert. Und sie konnte viel erzählen, u.a. von zwei traurigen Onkeln, den Goethe-Enkeln, die sie als Großnichte von Christiane Vulpius oft erlebt hat. Das meiste habe ich vergessen, vielleicht, weil es einen scharfen Einschnitt gab: Im Februar 45 ist sie von Bomben zerfetzt worden; gefunden haben wir, lange in Trümmern grabend, von ihr fast nichts.
Nach dem Krieg erlebten wir fast regelmäßig das Totengeleit des russischen Militärs – Soldaten zur Melodie »Unsterbliche Opfer« langsam hinter einem Wagen schreitend, auf dem der Tote im offenen Sarg lag. Bei Dunkelheit war‘s im Park manchmal gefährlich, weil geflohene Soldaten sich versteckt hielten und an Zivilkleidung interessiert waren. Jahrelang haben altgediente Studienräte, vordem kleine Pg’s, nun aus der Schule geflogen und bei der Parkwirtschaft untergekrochen, Büsche gestutzt und Bäume gefällt; andere zogen als Stadtführer Besuchergruppen hinter sich her. Der Schulweg führte vom »Horn« die »Euphrosyne« hinunter, am Christine-Becker-Denkmal vorbei, auf dessen Rückseite der Kaiserliebling Ernst von Wildenbruch aussichtslos im Wettbewerb mit Goethe (auf der Vorderseite) steht, über die Naturbrücke an der Ilm entlang, bei Puschkin vorbei über die Schillerstraße. Ein stadtbekannter, mit Gamaschen, Pumphosen, betresstem Jäckchen, Jabot oder Schillerkragen und Barett kostümierter Herr, der im Kopf nicht ganz richtig war und sich als Schiller redivivus aufspielte, machte die Wege unsicher und las hübschen Schulmädchen aus der Hand – Honorar ein Kuß auf die unrasierte Wange. Im Winter fanden wochenlang Rodelorgien statt, links vom Gartenhaus halsbrecherisch, rechts vom Pogwischhaus ungefährlich. Ein sehr alter, populärer Musikprofessor, der an alttestamentarische Propheten erinnerte und aus seiner Verachtung der neuen Obrigkeit kein Hehl machte, beschwor mich auf einem Spaziergang beim Schlangenstein, von der Musik zu lassen; es reiche nicht, er sage es zu meinem Besten rechtzeitig.
Vor dem Gartenhaus haben wir Heu gemacht, im Mai/Juni Nachtigallen schlagen hören. Die Abende begünstigten zweisame Spaziergänge und Studentenverlöbnisse: »Und dem Liebenden gönnet, daß ihm begegne sein Glück«, bittet Goethe die Nymphen auf der Tafel unterhalb des Römischen Hauses. Die Rundbank gegenüber dem Haus der Frau von Stein war ein Vorzugsort studentischer Pausengespräche, oft fröhlich subversiver, die auch nicht abbrachen, wenn wir Kollegen mit langen Ohren dabei wußten. Viel später, inzwischen in Amt und Würden, bin ich nach einem Stasi-Verhör durch den dunklen Park geschlichen und konnte etwas zu sehr mit der armen Christel von Laßberg fühlen, deren Leiche man im Januar 1778 aus der Ilm gezogen hat.
James Joyce, danach gefragt, weshalb er nie nach Dublin zurückgekommen sei, hat geantwortet, er sei doch nie weggegangen! Die Erfahrung, daß man über Heimat besser Bescheid weiß, wenn sie fern, möglicherweise verloren ist, habe ich gründlicher machen müssen: Er hätte jederzeit zurückgekonnt – ich, zum republikflüchtigen Verbrecher geworden, hingegen nicht. Daß jenes Staatswesen zerbröseln würde, konnte keiner ahnen, die Verhältnisse schienen lebenslänglich verordnet. Hierdurch am ehesten weiß ich mich gerechtfertigt, vom Park zu handeln: Er stand mir vor Augen, es durchfuhr mich, wenn ein Telefongespräch von drüben gelang und ich die Schloßuhr im Hintergrund schlagen hörte. An der Elbe bei Hitzacker sitzend habe ich auszurechnen versucht, vor wie viel Tagen vorbeifließendes Wasser übers Wehr hinter der Schaukelbrücke gerauscht sei.
Nun, nach etlichen Umwegen und Arbeitsorten zurückgekehrt, zähle ich zu den treuesten Parkgängern, bei jedem Wetter, zu jeder Tages- oder Nachtzeit kann man mich dort treffen. Jedesmal finde ich einen anderen und doch denselben Park vor und sage dem Herrn im Gartenhaus, wenn ich nächtens vorbeikomme und mit ihm allein bin, eines oder mehrere seiner Gedichte vor, versuche, mich mit ihm identisch zu machen, wenigstens hierin: »Und ich geh‘ meinen alten Gang / Meine liebe Wiese lang, /Tauche mich in die Sonne früh, / Bad‹ ab im Monde des Tages Müh«.
Haben Bäume, Fluß und Mond, der Busch und Tal mit Nebelglanz füllt, ihm nicht manches Gedicht zugesprochen, mußte er nur hinhören und, wie es keiner sonst konnte, schnell aufschreiben? So zu fragen kann ihm nicht ferngelegen haben, da er den Fluß bat, seinem »Sang Melodien« zuzuflüstern. Das sollte man nicht als metaphorischen Übersprung, als schöne Rätselrede abtun. Hat er nicht, wie er den Park und seine Stimmungen auch zeichnend ergründen wollte, am Fluß und mit ihm sich selbst flüstern hören? »Wollen wir uns finden«, so Hugo von Hofmannsthal, »so dürfen wir nicht in unser Inneres hinabsteigen: draußen sind wir zu finden, draußen«. In diesem Sinne wachsen Ilm, Bäume, Wiesen und Gedichte auch dem Spaziergänger von heute in einem Akkord zusammen; nicht zu vergessen: Inschriften.
Eine der schönsten ist am Sockel der Wieland-Büste in Tiefurt allzu sehr versteckt; vielleicht findet sie eines Tages den Weg hierher, Plätze gibt’s genug: »Wenn zu den Reihen der Nymphen, versammelt in heiliger Mondnacht, / Sich die Grazien heimlich herab vom Olympus gesellen: / Dort belauscht sie der Dichter und hört die schönen Gesänge…« Drei Zeilen weiter nennt er den Dichter »wachenden Träumer« und versteckt in der angedeuteten contradictio in adiecto die nur in deren Früchten, in Dichtung beweisbare Wahrheit, daß es Wirklichkeiten gibt, denen wir am ehesten beikommen, wenn wir uns ahnend herantasten, vor begrifflich sauberen, von keiner Emotion getrübten Scheidungen also stehenbleiben. »Schauen, Wissen, Ahnen, Glauben und wie die Fühlhörner alle heißen…, müssen denn doch eigentlich zusammenwirken« – schon wieder redet der Alte! Im Park kann man’s lernen.
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