…nur Berge u Blicke u. greuliche Einwohner… – Gottfried Benn in Friedrichroda
1 : Rückzug und »innere Sabotage«

Person

Gottfried Benn

Ort

Friedrichroda

Autor

Romina Nikolić / Jan Volker Röhnert

Die Exkursion entstand im Rahmen eines Projekts der Literarischen Gesellschaft Thüringen e.V.

Als Benn 1935 sei­nen Ein­tritt in die Wehr­macht gegen­über Oelze als »aris­to­kra­ti­sche Form der Emi­grie­rung« bezeich­nete – ihm war die Appro­ba­tion als Arzt ent­zo­gen wor­den, als ehe­ma­li­gem Expres­sio­nis­ten und Freund »ent­ar­te­ter Künst­ler« lagen Dro­hun­gen gegen ihn in der Luft, denen er sich durch die Flucht nach vorn zu ent­zie­hen hoffte –, wusste er noch nicht, wor­auf er sich ein­ge­las­sen hatte. In Fried­rich­roda zieht er vor sei­nem Brief­part­ner eine erste Bilanz sei­ner Zeit beim Heer, die ernüch­ter­ter nicht aus­fal­len könnte. Illu­sio­nen über die Kriegs­ver­bre­chen, die Roh­heit und Bar­ba­rei jener Wehr­macht, der er sel­ber ange­hört, macht er sich bereits zu die­sem Zeit­punkt keine mehr. Am 4. Juli heißt es mit abgrün­di­gem Zynis­mus an Oelze:

Das Kur Laz. als sol­ches ist, was Sau­ber­keit u. Kom­fort angeht, ganz ordent­lich, aber das Leben in ihm ist mili­tä­risch u. das gerade ver­trage ich momen­tan nicht. Und dann die Mit­in­sas­sen, die Her­ren O..ziere! Ich gewinne erneut ein tie­fes Ver­ständ­nis für das Geheim­nis unse­rer Siege, – Siege: die Ver­nich­tung als Mas­stab u. die Zahl der Lei­chen als Erfolg. Hin­ter dem allen steht weni­ger Mord­gier, als eine unend­li­che Bequem­lich­keit u. Dumm­heit. Und dann wirkt wohl bei kei­nem andern Volk der Erde die Fami­lie u. alles, was dazu gehört, so arm­se­lig u. kläg­lich machend, so genüg­sam u. beschei­den, mit einem Wort so demo­ra­li­sie­rend wie das beim deut­schen der Fall ist. Die Rück­sicht »auf die Fami­lie« recht­fer­tigt jede Feig­heit, jedes Zurück­blei­ben, jede intel­lec­tu­elle Bastardierung.

Benn hatte Oelze just am 21. Juni, einen Tag vor dem Über­fall auf die Sowjet­union, über sei­nen Kur­auf­ent­halt, der am 24. Begin­nen sollte, in Kennt­nis gesetzt – kaum Zufall bei jeman­dem, des­sen Büro am Bend­ler­block in unmit­tel­ba­rer Nähe der Hee­res­lei­tung unter­ge­bracht war. Benn macht kei­nen Hehl aus der tie­fen Ent­frem­dung von der Armee, in der er sich ver­ste­cken zu kön­nen geglaubt hatte. Er muss fest­stel­len, dass es für ihn kei­nen Ort mehr gibt, der Gleich­schal­tung zu ent­ge­hen: Aller­dings hatte ich nicht gedacht, dass es bei der Wehr­macht abso­lut nicht auf Leis­tung, Bega­bung, Grips ankommt, auch noch nicht ein­mal auf die sub­al­ter­nen mili­tä­ri­schen Tugen­den: Pflicht­treue, Fleiss, Pünkt­lich­keit, – son­dern nur auf das Dienst­al­ter, fer­ner auf Stre­be­rei u. Durch­schnitt­lich­k­leit u. Nig­ger­tum. Das war mir über­ra­schen­des Erleb­nis. Die ein­zige Mög­lich­keit, sich die­sem Sys­tem auf Zeit zu ent­zie­hen, sieht er der »inne­ren Sabo­tage«, dem Ruin sei­ner Gesund­heit, über deren Ver­fall er sich als Arzt im Kla­ren ist: Nun ist mir alles gleich­gil­tig gewor­den. Es erscheint mir auch zwei­fel­haft, ob ich mich noch werde rege­ne­rie­ren kön­nen, die Erschöp­fung ist zu tief, ich habe eine regel­rechte kli­ni­sche Depres­sion, wohl auf arte­rios­clero­ti­scher Grund­lage; ich bin mir völ­lig klar dar­über, dass ich im Aus­gang mei­nes Lebens stehe […].

 …nur Berge u Blicke u. greuliche Einwohner… – Gottfried Benn in Friedrichroda:

  1. Rückzug und »innere Sabotage«
  2. Allgegenwart des Krieges
  3. Weder Idyll noch Sommerfrische
  4. Reinhardtsbrunn
  5. Gegen die äußere geistige Wüste
  6. Schnepfenthal
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