Person
Ort
Thema
Nancy Hünger
»Dichters Wort an Dichters Ort« / Thüringer Literaturrat e.V.
Gibt es ein menschliches Wesen, das so arm und unbehaust ist, daß es keinen Winkel hat, in den es sich zurückziehen, indem es sich vor der Welt verbergen kann?
Xavier de Maistre
Mein Ort ist ein Wechselbäumchen. Mein Ort ist eine Frage des Standpunkts, des Alters, der Betrachtungsweisen, eine Frage des Blickwinkels. Er ist nicht immer der selbe Ort am selben Ort. Seine Umkreisung dauert heute niemanden mehr 42 Tage, nur mich mein ganzes Leben, mein Ort ist schnell erfasst, einfältig und unbedacht zählt man 2015, wenn man zählen will, eine Tür, einen Tisch, einen Stuhl, ein Notbett, einige Bücher in einigen Regalen, einige Schallplatten in einem Regal, einen Plattenspieler, ein Fenster, ein zweites, eins, zwei, drei, vier viele aber nicht zu viele Bilder an der Wand, drei Lampen, eine Leiter, einen Fußtritt und ein kleines klappriges Schränkchen zu den erwähnenswerten Unsehenswürdigkeiten. Es gibt also etwas, etwas zu beschauen, zu betasten, doch nichts von Format für den Ortsunkundigen gibt es keine Sensationen, keine Verheißungen, schlicht: nichts zu entdecken, für den Ortsunkundigen bleibt alles ein profanes Geheimnis, keinen lahmen Schuss wert. Für die Ortskundigen jedoch öffnet eine Wunderkammer öffnet für mich, die einzige Ortskundige bin ich. Wir reisen also durch mein Zimmer, denn mein Zimmer ist und war und war und ist mein Ort nur ist und war und war und ist mein Ort nicht immer mein Ort und folglich mein Zimmer nicht immer mein Zimmer. Die Historiographie meines Ortes wäre mühsam nachzuzeichnen, es wäre eine kleine Zimmerkunde, eine richtige Zimmerei vonnöten, also eine veritable Auflistung großer und kleiner, mäßiger und mittlerer, dunkler und heller, schattiger und sonniger Schächtelchen, da hätten wir z. B. das lichtgeschwemmte, zweibefensterte Zimmer erster Erinnerung in der Ernst-Thälmann/Bad Berka, wir hätten die herrschaftliche Diele mit dem schönen schwarz-weiß Karo am Engelsring/Weimar, auch ein fremdes wäre zu eigen in der Badegasse/Bad Berka, ein anderes dachgeschossiges in der Bertuch/Weimar oder nehmen wir das schmale verdüsternde Zimmer zum Hof in der Fritz Büchner/Erfurt usw. usf. Manche waren ohne Tisch nur mit Lampe oder ohne Bilder nur mit Tisch oder ohne Bett nur mit Stuhl oder ohne Stuhl nur mit Lampe oder ohne Fenster nur mit Leiter.
Manche waren so und manche waren so, aber allesamt waren es widerstandsfähige, robuste Gehäuse gegen die unübersichtlichen Zumutungen von Welt. Doch immer verlief die Grenze knapp hinter der Tür begann die äußere, die sogenannte wirkliche Welt mit all ihren Übergriffen, schamlosen Forderungen, vulgären Verpflichtungen. Nur einmal, ein einziges Mal, konnte ich die Grenze viel weiträumiger, nicht allein um ein Zimmer, sondern eine ganze Wohnung, vielmehr eine kleine Siedlung, samt und sonders ihrer Bewohner, ziehen.
Daheim soll immer alles stimmen, gewiss, aber meistens stimmt nichts, und wenn manch verstimmtes hergerichtet werden kann, muss es genügen. Zwar werde ich nicht in meine Behausungen geworfen, aber zumindest nachgiebig, wie ich bin, mit leichtem Missmut eingepflegt. Ich habe mich abgefunden, ein wenig umzugsmüde, ich habe mich abgefunden, dass es im Leben selten zur Deckungsgleichheit mit unseren Wünschen kommt: Wenn es schon kein bescheidenes Hauserl mit einem Garten inmitten der ganz und gar menschentleeren Einöde sei, dann genügt mir nichts und deshalb ist was recht ist eben gerade recht. Man sucht, wenn man genötigt ist zu suchen, man studiert die Annoncen mit halbem Herz und hofft, dass die Laminathölle erträglicher als die vorangegangene wird. So sucht man, so suche ich, so sucht die halbe Menschheit Wohnungen und fürwahr, sie findet. Nur ein zweites einziges Mal, habe ich mir eine Adresse in den kleinen Kopf konzentriert, kein Viertel, keine Straße, nein, ein ganz bestimmtes Haus, ich wollte nicht irgendwohin, ich wollte dorthin und sonst nirgends, ich wollte in den Moritzhof. Ich habe komplottiert, konspiriert, konjuriert. Ich habe an allen Strippen gezogen und vielleicht baumelte eine ja lose vom Rocksaum des ersten Bewegers, denn sieh an, ich konnte ein verhüngertes Klingelschild am Klingelkasten der Moritz 4 anbringen und durfte fortan Moritzler geheißen sein. Ich nannte nun Zwei-Zimmer-Küche-Bad, einen Ofen, eine Therme und einen kleinen Heizstrahler mein eigen. Ich nannte meine Wohnung liebevoll Winter und bestellte Kohlen und Holz, ich riss sechs Tapeten von den Wänden und fand zuletzt Tschitscheringrün und den blanken, den schönen ockrig zerfransten Putz. Ich reparierte den Wasserhahn, die Therme, den Herd, den Ofen, die Fenster, ich spachtelte und werkelte und klebte und bohrte und strich und behielt ein wenig vom Tschitscheringrün und dem blanken ockrigen Putz. Wenn die Wohnung fertig ist, kommt der Tod, heißt es im russischen, hätte ich im Moritzhof bleiben können, wäre ich unsterblich geworden. Ich richtete mich für den Winter ein, kaufte einen Bademantel, meine Mutter schenkte mir einen Flanellschlafanzug, ich kaufte mollige Decken und Vorhänge, ich richtete mich fürs Leben ein, denn ich war jetzt Moritzler und Moritzler war nicht jeder und erst recht nicht irgendwer. Moritzler waren Widerständler – willentlich und wieder Willen. Moritzler waren Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose, Töpfer, Musiker, Journalisten, Künstler, Literaten, Streetworker, Säufer, Verwirrte, Studenten und Katzen, vor allem Katzen. Eine kleine Insel der Verrückten inmitten der riesigen Insel der Oberverrückten und Blödisten. Doch der Moritzhof wäre nicht der Moritz gewesen, wenn nicht Joschi Korte in den achtziger Jahren seinen legendären Plattenladen Woodstock dort aufgeschlagen hätte. Das Woodstock ist kein gewöhnlicher Plattenladen, wie der Moritzhof, ist es eine Frage der Einstellung, grundsätzlich immer eine Frage der Einstellung zur Musik. Hingegen ich früher einmal im Monat, meist am ersten Freitag desselben, mein Gehäuse für Joschi verlies, fiel ich nun aus dem Bett in den Laden, fiel kopfüber in die Hörer und traf die Mitbewohner meines Gehäuses, meine Moritzler, Widerständler – willentlich und wieder Willen. Der Moritz war eine Anderswelt, ein Gegenentwurf aus faltbaren Plastikduschen und winzigen Kanonenöfen, tatsächlich ein Sehnsuchtsort für die Nichteinverstandenen, die Querulanten, die Aussteiger, die Zurückgebliebenen, die Verlierer, schlicht die anderen, ein Ort für alle Freunde des großen Krawalls gegen die vulgären Unzumutbarkeiten von Welt! Der Moritz war unser und ist nicht mehr unser und wird es niemals wieder sein, der alte Moritz ist längst verkauft und mithin alle Widerständler – willentlich und wieder Willen, die einfach weg, da raus müssen, damit sanierte Wohnungen für sanierte Menschen entstehen können. Und das Woodstock ist schon weg und der Tütenopa und die Romy und der Joschi und die Katzen und ich bin nun weg und kann nur erzählen, ganz märchenhaft, von einem der letzten Orte in Erfurt für Widerständler – willentlich und wieder Willen. Krawall! Krawall! Ihr Käufer, Spekulanten, ihr Gutbürger und Richtigleber. Ihr Vollsanierten. Krawall! Krawall! Es war einmal der Moritzhof…
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