Moritz Gause – »Neu-Kappadokien«

Person

Moritz Anton Gause

Ort

Jena

Thema

Dichters Wort an Dichters Ort

Autor

Moritz Gause

»Dichters Wort an Dichters Ort« / Thüringer Literaturrat e.V.

Die alte Dame aus dem Treppenhaus

jung wirkt sie
immer akku­rat, fri­siert, gefärbt
lang­sa­mer ist sie geworden
wenn wir uns sehen grü­ßen wir
gespro­chen haben wir ein Mal
von Bal­kon zu Balkon
seit dem Bau des Hau­ses wohne sie hier
seit drei­ßig Jah­ren vielleicht
sie wisse es nicht genau
ich lud sie ein zum Kaf­fee, sie lehnte ab
das war kurz nach mei­nen Einzug
vor sechs Jahren

 

Andert­halb Jahre lang hatte ich am äußers­ten Rande Jenas gewohnt und kannte Win­zerla nur vom Blick durch die ver­schmier­ten Schei­ben der Tram; vom Weg in die Stadt und zurück. Aus die­ser Per­spek­tive sah Win­zerla nicht aus, als ob ich jemals dort würde woh­nen wollen.Wenn ich Win­zerla schreibe, dann meine ich nicht das alte Dorf mit dem Fle­der­maus­turm vor der greis geduck­ten Kir­che, son­dern „Neu-Win­zerla“, das Plat­ten­bau­vier­tel. Ich meine die Tram­hal­te­stelle „Damasch­ke­weg“. Win­zerla, aus der Tram gese­hen, wenn sie an der Hal­te­stelle „Damasch­ke­weg“ hält. Unglück­li­che Men­schen, die auf die Tram in die Innen­stadt war­ten, oder aber auf die Tram in Rich­tung Lobeda; ver­dorrte Sträu­cher, ein Park­platz, die Trin­ker mit den Cow­boy­hü­ten, REWE, und schließ­lich ein Rie­gel, der sich hin­ter all das schiebt, grau und mat­trot, sechs­stö­cki­ger Plat­ten­bau, der auf einer Stre­cke von ca. 400 Metern den Blick auf Bäume und Berge, alles, ver­schließt. Wenn im Herbst der Nebel über Jena hängt, ist auch der Him­mel verschlossen.

Aus irgend­ei­nem Grund bin ich schließ­lich doch in Win­zerla gelan­det. Höchst­wahr­schein­lich, weil die Woh­nung die erste und ein­zige war, die ich so schnell fin­den konnte, wie ich sie brauchte. (Mein Vor­mie­ter hatte mit Pas­tell­gelb um die Möbel her­um­ge­stri­chen und schien, aus Über­zeu­gung, nehme ich an, nur beson­ders stark rußende Ker­zen benützt zu haben. Das sieht man immer noch, denn ich hatte nur zwei Tage Zeit, die Woh­nung zu strei­chen. Es scheint also in der Tat drin­gend gewe­sen zu sein.) Über die Bekannt­schaft, die ich im Gedicht „Die alte Dame aus dem Trep­pen­haus“ schil­dere, hat meine soziale Anbin­dung hier auch nie hin­aus­ge­reicht. Wer in Ruhe gelas­sen wer­den will, der ziehe in den Plat­ten­bau. Und doch gibt es eini­ges, das ich wohl immer ver­mis­sen werde: die ein­sa­men Nächte, die Stille, die nur gele­gent­lich durch das Grö­len Betrun­ke­ner durch­bro­chen wird, oder durch das Gebrüll des Typen vom Haus­block gegen­über, der seine Frau mit Vor­liebe in lauen Som­mer­näch­ten beschimpft (die Stille werde ich ver­mis­sen, nicht sol­che Span­nungs­spit­zen). Die ein­sa­men Nächte mit Bier in der Küche, bis ich es irgend­wann nicht mehr aus­halte und gegen alle Vor­sätze in die Innen­stadt fahre, um in einer Kneipe zu ver­san­den. Denn Knei­pen gibt es in mei­nem Vier­tel keine, jeden­falls keine Knei­pen, in denen ich mich nicht voll­kom­men fremd füh­len würde. Bis vor ein paar Jah­ren gab es im Colum­bus-Cen­ter, einer von immer­hin zwei maro­den Mall-Simu­la­tio­nen, sowas ähn­li­ches wie eine Kneipe, ich habe ver­ges­sen, wie sie hieß. Heißt, denn Conny’s Treff, nen­nen wir die Kneipe jetzt ein­fach so, ist umge­zo­gen, in den Win­zer­laer Spar­kas­sen-Neu­bau, und hat nun eine Son­n­en­ter­asse. Conny’s Treff schließt jedoch um neun oder so, wenn die Dau­er­trin­ker und die Kaf­fee-Kuchen-Omas schla­fen gehen; keine Zeit für mich. Dann gibt es noch ein Bil­lard-Café, ich war auch dort noch nie. Ich nehme an, es heißt Kugel 88. Jeden­falls denke ich, dass der Name zu den Typen pas­sen würde, von denen ich ver­mute, dass sie dort trin­ken. Auch das Bil­lard-Café ist keine Alter­na­tive für mich, denn ich ver­mute, ich würde nicht son­der­lich gut auf­ge­nom­men wer­den dort. Und außer­dem schließt Kugel 88 ganz sicher schon um elf. Daher muss ich auf Knei­pen­su­che in die Innen­stadt fah­ren, und ich mag die­ses Gefühl, um elf oder halb eins durch die ver­las­se­nen Stra­ßen­züge zu tau­meln, auf der Suche nach Zufalls­be­kannt­schaf­ten, und mir kom­mende Aben­teuer aus­zu­ma­len. Auch wenn ich weiß, dass sich nie etwas Gro­ßes ereig­nen wird. Denn die Innen­stadt heißt immer noch Jena und wird vor­nehm­lich von Stu­den­ten bevölkert.

 

Win­zerla, letzte Verheißung

der Nacht­bus in die Stadt
in den Pfüt­zen kannst du
das Licht am Ende der Welt sehen.

 

Melan­cho­lie reicht hier eigent­lich nicht, es muss schon eine hand­feste Depres­sion sein, um sich ein­füh­len zu kön­nen, oder viel­leicht Alko­ho­lis­mus. Ich ver­stehe nicht, wie es die jun­gen Fami­lien hier aus­hal­ten. Wahr­schein­lich leben die in einer spe­zi­el­len Wohl­fühl­blase. Ich lebe nicht in die­ser Wohl­fühl­blase, und trotz­dem habe ich lange, um genau zu sein, sechs Jahre, gebraucht, bis mir etwas zu Win­zerla ein­ge­fal­len ist, von dem ich denke, dass es auch hier­her passt. Das fol­gende Gedicht habe ich frü­her geschrie­ben, vor vier oder fünf Jahren.

 

Win­zerla

Häu­ser­blö­cke in der Haut
ver­dorr­ter Krö­ten, davor ein­zelne Halme
gel­bes Grei­sen­haar auf ris­si­ger Erde, But­ter­blu­men und
der erste Mohn, die trockne Wärme
die­ses Tags steigt aus dem Boden, ein Spatz
pickt eilig an einem Toast

 

Es ist nicht freund­lich, aber die Härte, die es hier zu besin­gen gilt, ist noch nicht darin. Außer­dem ist es ein Som­mer­ge­dicht, ein Früh­som­mer­ge­dicht noch dazu, und der begin­nende Som­mer, das ist nicht die Jah­res­zeit, in der Win­zerla wirk­lich Win­zerla ist. Da ist zuviel Tün­che, die Sonne über­deckt den gan­zen Mist, der hier geschieht, und den Mist, der hier durch nicht-gesche­hen geschieht (Geschiet, sollte es hei­ßen). Die brül­len­den Mut­tis wir­ken nicht ganz so bru­tal, und auch man­che Dia­loge, die ich hier mit­an­hö­ren durfte, wer­den durch die hüb­sche Sonne viel lus­ti­ger, als sie es sind.

Zwei alte Män­ner stei­gen aus der Tram aus und wer­den von zwei noch älte­ren Frauen überholt.

Der eine:         De Juchnt hats ooch wid­der eilisch.

Der andere:     No, abor mo ham Zeit.

Der eine:         No, off misch wortn daheem ooch nur de Mebel.

Es gab frü­her Som­mer­tage, an denen ich durchs Vier­tel lief, durch die weit­schwei­fi­gen Grün­an­la­gen, vor­bei an Wäsche­dräh­ten und Bir­ken, neu nur die Pflas­te­rung des Weges und die an kon­struk­ti­vis­ti­sche Objekte gemah­nen­den Spiel­platz-Appa­ra­tu­ren, keine Autos, nur die war­zi­gen Fas­sa­den der Wohn­blö­cke, und mir vor­zu­stel­len ver­suchte, wie es gewe­sen sein mag, als die Häu­ser neu waren, die Woh­nun­gen jüngst bezo­gen, die Gar­di­nen gewa­schen, die Wäsche­drähte vol­ler Unter­wä­sche, aus­ge­koch­ter Win­deln, Hös­chen, Hem­den und Laken. Jetzt sehe ich nur noch, dass die Gar­di­nen immer zuge­zo­gen sind, die Müll­tü­ten vol­ler Pam­pers und Fer­tig­nah­rung, die Autos und die Deutsch­land­flag­gen groß; der Hori­zont reicht nur zur Balus­trade des Bal­kons. Das ist keine dif­fe­ren­zierte Per­spek­tive, klar. Aber diese Frus­tra­tion ist es, die mir die Essenz Win­zer­las zu sein scheint. Die Wohl­fühl­bla­sen-Fami­lien könn­ten auch woan­ders woh­nen, und die Stu­den­ten, die kön­nen über­all woh­nen. Aber die knur­ri­gen alten Leute, die Alko­ho­li­ker und die glatz­köp­fi­gen Arsch­lö­cher, die mich sogar an der Super­markt­kasse anpö­beln, die gibt es in die­ser Kon­zen­tra­tion nur hier. Das heißt, im Ver­gleich mit ande­ren Vier­teln Jenas; Lobeda scheint mir eh eine eigene Stadt zu sein. Aus dem frus­trier­ten Nach­den­ken über die Frus­trier­ten des Vier­tels ent­ste­hen jetzt die Gedichte, die ich als ange­mes­sen emp­finde: weni­ger Bil­der, mehr Gedan­ken. Viel­leicht hilft mir das Vier­tel sogar, indem es zuver­läs­sig die Hoff­nungs­lo­sig­keit spie­gelt, der ich bis­wei­len anheimfalle.

Es gab tat­säch­lich so eine Art Schlüs­sel­er­leb­nis: Eine Lesung in Hes­sen, in einem wun­der­schö­nen Fach­werk­städt­chen. Der Ort der Lesung war eine kleine Dorf­kir­che, und der ganze Abend atmete Har­mo­nie und schö­nes Leben. Ich hatte unter ande­rem ein Lie­bes­ge­dicht gele­sen, noch ein frü­hes Plat­ten­bau-Gedicht, zu des­sen Beginn das Farb­spiel der Mor­gen­sonne auf der Fas­sade des Hau­ses gegen­über Thema ist: „Wenn ich mor­gens aufwache/glüht der Plattenbau//vor mei­nem Fenster/rau und ros­tig : rot“. Nach der Lesung kam eine die­ser gepfleg­ten Damen auf mich zu und befragte mich.

 

Da wohn ich nun schon seit Jahren

in die­sen Blö­cken Schuhkarton
an Schuh­kar­ton und wie langsam
Beton eigent­lich fließt wär die Frage
ob ich wirk­lich dort wohnte
fragte mich eine nach einer Lesung
in mit­tel­al­ter­li­cher Kirche
ringsum Mau­ern, gut konserviert

 

Auch in die­sem Kon­text also ver­bin­det sich mit dem Plat­ten­bau­vier­tel bit­te­res Lachen. Und, so scheint es, ein tief­sit­zen­des Vor­ur­teil, dass ein Dich­ter mit einem sol­chen Vier­tel nichts zu schaf­fen hätte, dass es nur für bestimmte Men­schen gemacht sei; eher ein West­deut­sches Vor­ur­teil, wie mir scheint. Aber ich wirke daran mit, Vor­ur­teile zu zemen­tie­ren – indem ich auf­schreibe, was ich hier schreck­lich finde, indem ich die­sen Text hier schreibe. Ich frage mich: Ist das so, dass alle wis­sen, was hier pas­siert, aber nie­mand hin­se­hen will? Braucht es die­je­ni­gen, die berich­ten über Hoffnungslosigkeit?

Das über­lege ich manch­mal, über­lege für mich hin, tröste mich mit den hübsch gepfleg­ten Bee­ten im Früh­ling, mit den adret­ten alten Damen, den fröh­li­chen Kin­dern. Und doch, der Ein­wand will sich nicht weg­re­den las­sen in mei­nem Selbst­ge­spräch: Das Trau­rige über­wiegt längst. Ich spare mir die Wie­der­ho­lung der Auf­zäh­lun­gen. Ich denke, dass diese sozial so arg zer­rüt­te­ten Vier­tel mit den hoff­nungs­los drein­schau­en­den Men­schen darin eine Wunde sind, die die Wie­der­ver­ei­ni­gung die­sem Land geschla­gen hat.

Ach, wenn es doch mehr Gemein­schaft­lich­keit gäbe in die­sen Vier­teln! Gemein­schaft­lich­keit, die über blo­ßes Gril­len, Bier­sau­fen und das genervte Maß­re­geln des Nach­wuch­ses hin­aus­geht; viel­leicht müsste jene aus Not­wen­dig­keit hervorgehen.

 

Win­zerla

In hun­dert Jah­ren wird das alles hier
ein neues Kap­pa­do­kien sein;
diese Woh­nung dort ein Taubenschlag
und da im Kel­ler kel­tern sie den Wein.

Der Schaf­stall im 1. OG stört die Alten,
die es noch anders kann­ten (sagt man);
ohne Holz­feuer und Taubenschlag.
Denen, die nicht verstehen:

Dass ihre Ahnen Fel­sen bau­ten, keine Häuser.
Die gestimmt hat­ten gegen Durchbruch
und Ver­maue­rung, die flie­ßend Was­ser kannten,
die an den Fei­er­ta­gen Schlipse tragen.

 

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