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Thema
Moritz Gause
»Dichters Wort an Dichters Ort« / Thüringer Literaturrat e.V.
Die alte Dame aus dem Treppenhaus
jung wirkt sie
immer akkurat, frisiert, gefärbt
langsamer ist sie geworden
wenn wir uns sehen grüßen wir
gesprochen haben wir ein Mal
von Balkon zu Balkon
seit dem Bau des Hauses wohne sie hier
seit dreißig Jahren vielleicht
sie wisse es nicht genau
ich lud sie ein zum Kaffee, sie lehnte ab
das war kurz nach meinen Einzug
vor sechs Jahren
Anderthalb Jahre lang hatte ich am äußersten Rande Jenas gewohnt und kannte Winzerla nur vom Blick durch die verschmierten Scheiben der Tram; vom Weg in die Stadt und zurück. Aus dieser Perspektive sah Winzerla nicht aus, als ob ich jemals dort würde wohnen wollen.Wenn ich Winzerla schreibe, dann meine ich nicht das alte Dorf mit dem Fledermausturm vor der greis geduckten Kirche, sondern „Neu-Winzerla“, das Plattenbauviertel. Ich meine die Tramhaltestelle „Damaschkeweg“. Winzerla, aus der Tram gesehen, wenn sie an der Haltestelle „Damaschkeweg“ hält. Unglückliche Menschen, die auf die Tram in die Innenstadt warten, oder aber auf die Tram in Richtung Lobeda; verdorrte Sträucher, ein Parkplatz, die Trinker mit den Cowboyhüten, REWE, und schließlich ein Riegel, der sich hinter all das schiebt, grau und mattrot, sechsstöckiger Plattenbau, der auf einer Strecke von ca. 400 Metern den Blick auf Bäume und Berge, alles, verschließt. Wenn im Herbst der Nebel über Jena hängt, ist auch der Himmel verschlossen.
Aus irgendeinem Grund bin ich schließlich doch in Winzerla gelandet. Höchstwahrscheinlich, weil die Wohnung die erste und einzige war, die ich so schnell finden konnte, wie ich sie brauchte. (Mein Vormieter hatte mit Pastellgelb um die Möbel herumgestrichen und schien, aus Überzeugung, nehme ich an, nur besonders stark rußende Kerzen benützt zu haben. Das sieht man immer noch, denn ich hatte nur zwei Tage Zeit, die Wohnung zu streichen. Es scheint also in der Tat dringend gewesen zu sein.) Über die Bekanntschaft, die ich im Gedicht „Die alte Dame aus dem Treppenhaus“ schildere, hat meine soziale Anbindung hier auch nie hinausgereicht. Wer in Ruhe gelassen werden will, der ziehe in den Plattenbau. Und doch gibt es einiges, das ich wohl immer vermissen werde: die einsamen Nächte, die Stille, die nur gelegentlich durch das Grölen Betrunkener durchbrochen wird, oder durch das Gebrüll des Typen vom Hausblock gegenüber, der seine Frau mit Vorliebe in lauen Sommernächten beschimpft (die Stille werde ich vermissen, nicht solche Spannungsspitzen). Die einsamen Nächte mit Bier in der Küche, bis ich es irgendwann nicht mehr aushalte und gegen alle Vorsätze in die Innenstadt fahre, um in einer Kneipe zu versanden. Denn Kneipen gibt es in meinem Viertel keine, jedenfalls keine Kneipen, in denen ich mich nicht vollkommen fremd fühlen würde. Bis vor ein paar Jahren gab es im Columbus-Center, einer von immerhin zwei maroden Mall-Simulationen, sowas ähnliches wie eine Kneipe, ich habe vergessen, wie sie hieß. Heißt, denn Conny’s Treff, nennen wir die Kneipe jetzt einfach so, ist umgezogen, in den Winzerlaer Sparkassen-Neubau, und hat nun eine Sonnenterasse. Conny’s Treff schließt jedoch um neun oder so, wenn die Dauertrinker und die Kaffee-Kuchen-Omas schlafen gehen; keine Zeit für mich. Dann gibt es noch ein Billard-Café, ich war auch dort noch nie. Ich nehme an, es heißt Kugel 88. Jedenfalls denke ich, dass der Name zu den Typen passen würde, von denen ich vermute, dass sie dort trinken. Auch das Billard-Café ist keine Alternative für mich, denn ich vermute, ich würde nicht sonderlich gut aufgenommen werden dort. Und außerdem schließt Kugel 88 ganz sicher schon um elf. Daher muss ich auf Kneipensuche in die Innenstadt fahren, und ich mag dieses Gefühl, um elf oder halb eins durch die verlassenen Straßenzüge zu taumeln, auf der Suche nach Zufallsbekanntschaften, und mir kommende Abenteuer auszumalen. Auch wenn ich weiß, dass sich nie etwas Großes ereignen wird. Denn die Innenstadt heißt immer noch Jena und wird vornehmlich von Studenten bevölkert.
Winzerla, letzte Verheißung
der Nachtbus in die Stadt
in den Pfützen kannst du
das Licht am Ende der Welt sehen.
Melancholie reicht hier eigentlich nicht, es muss schon eine handfeste Depression sein, um sich einfühlen zu können, oder vielleicht Alkoholismus. Ich verstehe nicht, wie es die jungen Familien hier aushalten. Wahrscheinlich leben die in einer speziellen Wohlfühlblase. Ich lebe nicht in dieser Wohlfühlblase, und trotzdem habe ich lange, um genau zu sein, sechs Jahre, gebraucht, bis mir etwas zu Winzerla eingefallen ist, von dem ich denke, dass es auch hierher passt. Das folgende Gedicht habe ich früher geschrieben, vor vier oder fünf Jahren.
Winzerla
Häuserblöcke in der Haut
verdorrter Kröten, davor einzelne Halme
gelbes Greisenhaar auf rissiger Erde, Butterblumen und
der erste Mohn, die trockne Wärme
dieses Tags steigt aus dem Boden, ein Spatz
pickt eilig an einem Toast
Es ist nicht freundlich, aber die Härte, die es hier zu besingen gilt, ist noch nicht darin. Außerdem ist es ein Sommergedicht, ein Frühsommergedicht noch dazu, und der beginnende Sommer, das ist nicht die Jahreszeit, in der Winzerla wirklich Winzerla ist. Da ist zuviel Tünche, die Sonne überdeckt den ganzen Mist, der hier geschieht, und den Mist, der hier durch nicht-geschehen geschieht (Geschiet, sollte es heißen). Die brüllenden Muttis wirken nicht ganz so brutal, und auch manche Dialoge, die ich hier mitanhören durfte, werden durch die hübsche Sonne viel lustiger, als sie es sind.
Zwei alte Männer steigen aus der Tram aus und werden von zwei noch älteren Frauen überholt.
Der eine: De Juchnt hats ooch widder eilisch.
Der andere: No, abor mo ham Zeit.
Der eine: No, off misch wortn daheem ooch nur de Mebel.
Es gab früher Sommertage, an denen ich durchs Viertel lief, durch die weitschweifigen Grünanlagen, vorbei an Wäschedrähten und Birken, neu nur die Pflasterung des Weges und die an konstruktivistische Objekte gemahnenden Spielplatz-Apparaturen, keine Autos, nur die warzigen Fassaden der Wohnblöcke, und mir vorzustellen versuchte, wie es gewesen sein mag, als die Häuser neu waren, die Wohnungen jüngst bezogen, die Gardinen gewaschen, die Wäschedrähte voller Unterwäsche, ausgekochter Windeln, Höschen, Hemden und Laken. Jetzt sehe ich nur noch, dass die Gardinen immer zugezogen sind, die Mülltüten voller Pampers und Fertignahrung, die Autos und die Deutschlandflaggen groß; der Horizont reicht nur zur Balustrade des Balkons. Das ist keine differenzierte Perspektive, klar. Aber diese Frustration ist es, die mir die Essenz Winzerlas zu sein scheint. Die Wohlfühlblasen-Familien könnten auch woanders wohnen, und die Studenten, die können überall wohnen. Aber die knurrigen alten Leute, die Alkoholiker und die glatzköpfigen Arschlöcher, die mich sogar an der Supermarktkasse anpöbeln, die gibt es in dieser Konzentration nur hier. Das heißt, im Vergleich mit anderen Vierteln Jenas; Lobeda scheint mir eh eine eigene Stadt zu sein. Aus dem frustrierten Nachdenken über die Frustrierten des Viertels entstehen jetzt die Gedichte, die ich als angemessen empfinde: weniger Bilder, mehr Gedanken. Vielleicht hilft mir das Viertel sogar, indem es zuverlässig die Hoffnungslosigkeit spiegelt, der ich bisweilen anheimfalle.
Es gab tatsächlich so eine Art Schlüsselerlebnis: Eine Lesung in Hessen, in einem wunderschönen Fachwerkstädtchen. Der Ort der Lesung war eine kleine Dorfkirche, und der ganze Abend atmete Harmonie und schönes Leben. Ich hatte unter anderem ein Liebesgedicht gelesen, noch ein frühes Plattenbau-Gedicht, zu dessen Beginn das Farbspiel der Morgensonne auf der Fassade des Hauses gegenüber Thema ist: „Wenn ich morgens aufwache/glüht der Plattenbau//vor meinem Fenster/rau und rostig : rot“. Nach der Lesung kam eine dieser gepflegten Damen auf mich zu und befragte mich.
Da wohn ich nun schon seit Jahren
in diesen Blöcken Schuhkarton
an Schuhkarton und wie langsam
Beton eigentlich fließt wär die Frage
ob ich wirklich dort wohnte
fragte mich eine nach einer Lesung
in mittelalterlicher Kirche
ringsum Mauern, gut konserviert
Auch in diesem Kontext also verbindet sich mit dem Plattenbauviertel bitteres Lachen. Und, so scheint es, ein tiefsitzendes Vorurteil, dass ein Dichter mit einem solchen Viertel nichts zu schaffen hätte, dass es nur für bestimmte Menschen gemacht sei; eher ein Westdeutsches Vorurteil, wie mir scheint. Aber ich wirke daran mit, Vorurteile zu zementieren – indem ich aufschreibe, was ich hier schrecklich finde, indem ich diesen Text hier schreibe. Ich frage mich: Ist das so, dass alle wissen, was hier passiert, aber niemand hinsehen will? Braucht es diejenigen, die berichten über Hoffnungslosigkeit?
Das überlege ich manchmal, überlege für mich hin, tröste mich mit den hübsch gepflegten Beeten im Frühling, mit den adretten alten Damen, den fröhlichen Kindern. Und doch, der Einwand will sich nicht wegreden lassen in meinem Selbstgespräch: Das Traurige überwiegt längst. Ich spare mir die Wiederholung der Aufzählungen. Ich denke, dass diese sozial so arg zerrütteten Viertel mit den hoffnungslos dreinschauenden Menschen darin eine Wunde sind, die die Wiedervereinigung diesem Land geschlagen hat.
Ach, wenn es doch mehr Gemeinschaftlichkeit gäbe in diesen Vierteln! Gemeinschaftlichkeit, die über bloßes Grillen, Biersaufen und das genervte Maßregeln des Nachwuchses hinausgeht; vielleicht müsste jene aus Notwendigkeit hervorgehen.
Winzerla
In hundert Jahren wird das alles hier
ein neues Kappadokien sein;
diese Wohnung dort ein Taubenschlag
und da im Keller keltern sie den Wein.
Der Schafstall im 1. OG stört die Alten,
die es noch anders kannten (sagt man);
ohne Holzfeuer und Taubenschlag.
Denen, die nicht verstehen:
Dass ihre Ahnen Felsen bauten, keine Häuser.
Die gestimmt hatten gegen Durchbruch
und Vermauerung, die fließend Wasser kannten,
die an den Feiertagen Schlipse tragen.
Abb. 1-5: Fotos: Jens Kirsten.
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