Im Herbst entdeckte ich die Steinzeitgräber. Nicht einmal meinem Großvater, der als Ortschronist vergeblich nach der urkundlichen Ersterwähnung unseres Dorfes in den Archiven von Altenburg, Gera, Gotha, Greiz und Weimar gesucht hatte, war es bekannt gewesen. Erst ein Wink im »Archäologischen Wanderführer Ostthüringen« hatte mich darauf gebracht; die dortigen GPS-Daten führten allerdings in die Sümpfe, erst ein Anruf beim Museum für Ur- und Frühgeschichte half mir den richtigen Ort zu finden: kreisrunde, kaum mehr halbmeterhohe Erhebungen im Durchmesser von gut zehn Metern, man übersieht sie im Unterholz des Waldes mit seinem brombeerüberrankten Humus, wenn man nichts von ihnen weiß. Kratzt man an der obersten Schicht, tritt eine zum Panzer aufgeschichtete Steindecke zutage, die die Grabkammer überwölbt. Das Geheimnis möge bleiben. Ich setzte mich auf eine nur von Farn bewachsene Stelle, verharrte ohne Zeitgefühl gegen Südwesten gewandt im für Mitte Dezember ungewöhnlich warmen, klaren Licht. Das Rauschen der zweihundert Meter nahen Autobahn, der dürre Ast, der unter einem Bolzen schlagenden Hasen knackte, das schrille Giek eines gleitenden Habichts, alles war Teil einer großen Leere, in der jedes Geräusch aus der Stille hervorgebracht wurde und irgendwann einfach wieder darin verschwand. Wie hatten diejenigen, die vor 5.000 Jahren hier siedelten, den Raum erlebt?
Kurze Zeit, bevor die A4 am Hermsdorfer Kreuz als eines von Hitlers Prestigeobjekten mit der damals weltgrößten Betonbogenbrücke am Teufelstal erbaut wurde und erst Marschkolonnen, später der Interzonen- und Transitverkehr über das Asphaltband rollte, hatte ein Geraer Freizeitarchäologe diese Stelle beschrieben; ein Wunder, dass sie vom Trassenbau verschont geblieben ist. So schneiden sich die Spuren der jüngsten und ältesten Geschichte geradezu, ohne sich doch zu berühren; keines ›weiß‹ vom anderen. Die Reisenden der vom Verkehrsfunk vertrauten Strecke ahnen kaum, dass genau diese Gegend ein historisches Palimpsest ohnegleichen ist – freilich auch, je mehr die Geschichte voranschreitet, eine der meist geschundenen Gegenden (und dabei wiederum nur ein Paradebeispiel für das, was im ›deutschen Boden‹ an Historie lagert): In sechs Kilometer Luftlinie, im wirklich tiefen Wald, irgendwo an der virtuellen Grenze zwischen den Landkreisen Greiz und Saale-Holzland, liegen die Reste der in einem der sächsischen Bruderkriege im 15. Jahrhundert zerstörten Wüstungen Sieversdorf und Goldborn; was fortbestand, ebnete der Dreißigjährige Krieg ein (die Glocke der Wüstung Sieversdorf ließ 1840 der Pfarrer des nahen Rüdersdorf ausgraben und in seiner Kirche läuten, 1917 wurde die Bronze dann für Granaten an der Westfront eingeschmolzen…); durch eine im nahen Tautenhain vergessene französische Kanone kam ein beliebtes Ausflugslokal zu seinem Namen; wie sie erinnert eine »Napoleonskiefer« an den Durchmarsch von 1806. Die Fläche zwischen den Dörfern Bad Klosterlausnitz, Tautenhain, Oberndorf und Rüdersdorf, eines der größten zusammenhängenden Waldgebiete des Mittelgebirgsvorlandes zwischen Thüringer Wald und Saale, wurde 1935 von der Wehrmacht für eine sogenannte »Munitionsanstalt«, kurz Muna, beschlagnahmt. Der Name Muna ist dieser Wald heute immer noch geläufig.
Als ich Kind war, zeigte mir mein Großvater die Reste der inzwischen beräumten Baracken, in denen Zwangsarbeiter und Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald eingepfercht gewesen waren (es war die einzige Zeit, in der mein Ort Oberndorf über eine Bahnstation verfügte); die in den Bunkern des Waldgebietes lagernde Munition wurde die ersten Jahre nach Kriegsende von der Sowjetkommandantur unkontrolliert gesprengt, Detonationen waren noch im 20 Kilometer fernen Gera zu hören, etliche Blindgänger landeten in den Feldern. In der DDR blieb der größte Teil des Waldes einfach Sperrgebiet mit Panzerübungsplatz im einen und – das erfuhren wir erst hinterher – SS-20-Langstreckensprengköpfen im geheimen anderen Teil. Den Segen brachten die neunziger Jahre mit einem ganzen Maßnahmenkomplex, dessen Durchführung bis heute andauert: Beräumung des Gebietes von Blindgängern und militärischen Altlasten, Renaturierung, Erklärung zum EU-geschützten Flora-Fauna-Habitat. Auf den ehemaligen Panzerrillen grast jetzt eine Herde von Wildpferdhengsten, im Heidekraut ist in Frühsommernächten der Ruf des Ziegenmelkers, der sich mit dem Knarzen der seltenen Knoblauchkröte mischt, zu hören. Da die Wiesen und Felder der angrenzenden Dörfer dank der eher kargen Sandsteinböden keine durchweg intensive Landwirtschaft zulassen, haben Milane, Bussarde und Falken gute Jagdgründe.
Einmal im Leben einen Schwarzstorch zu Gesicht bekommen beschert ein Glücksgefühl, das viele trübe Momente vergessen macht. Meine Tochter erinnert sich an den Augenblick vor ein paar Jahren, als ihre Mutter dort im Wald mit ihr plötzlich den Finger an den Mund legte, in eine Richtung wies, zur Kamera griff: da war er, sekundenlang, dann wieder fort, sein schwarzes Flügelkleid mit den weißen Säumen, rote Schenkel, roter Schnabel, rot umrandete Pupillen – und das türkisfarbene Irisieren seines Halsgefieders, ein Glanz wie nicht von dieser Welt. Schwarzstörche sind die unsichtbaren Buddhas großer geschlossener Wälder mit altem Baumbestand.
Und in einer dieser Kronen hatte er sein Nest, an dem er Jahr um Jahr kunstvoll weiterstrickte und klöppelte, dass es seit den 15 Jahren, die er im Muna-Wald schon gesichtet worden ist, zu einer Burg angewachsen sein muss. Dieser Horst, auf einer 15 Meter hohen Kiefer angesiedelt, wurde kürzlich von unbekannten Tätern geraubt, nachdem ihn die örtliche Bürgerinitiative gegen Windkraft entdeckt und dem Landratsamt gemeldet hatte. Die Tatmotive dürften einem kaum verborgen bleiben, wenn man weiß, dass die gesamte Fläche des Thüringer Holzlandes, zu dem dieser Wald gehört, Spekulationsobjekt der Windkraftwirtschaft geworden ist, im Umkreis der renaturierten FFH-Flächen sollen Windparks mit 212 Meter hohen Rotoren aufgestellt werden. Das unweit Jena gelegene Naturschutzgebiet Waldecker Buchen, ein Totalreservat, das Goethe 1777 bewunderte: zukünftig umstellt von gigantischen Windmaschinen; das Schloss Großkochberg zwischen Weimar und Rudolstadt, wo Goethe Charlotte von Stein aufsuchte und Schiller Charlotte von Lengefeld den Hof machte: Kulisse für eine ins Detail durchgeplante Windradmegalomanie. Thüringen ist dabei, zum Yukon Valley der Windenergie zu werden, fast in jedem Dorf haben sich Bürgerinitiativen formiert, aber Bürgerproteste werden von den Regierenden offenbar nur hinterher wahrgenommen, wenn sie bereits historisch abgefeiert werden können. Die Verbrechen, die von der Windwirtschaft mit staatlichen Subventionen an der Biodiversität begangen werden, sind weder durch den Atomausstieg noch die Klimaziele zu rechtfertigen – denn längst gibt es intelligentere Lösungen, Speichermöglichkeiten für tagsüber auf Dächern erzeugbaren Photovoltaikstrom hätten längst in Serie gehen sollen. Das wirklich Anstößige jedoch ist, dass der industrielle Windboom mit seinen irreversiblen Folgen für die Landschaft von einer grünen Partei sanktioniert, ja protegiert wird. Während sie (zurecht) die Monsantos und Bayers unserer Böden ebenso wie das Fracking verdammen, heißen sie die neuen Monsantos und Frackingfirmen der Luft mit offenen Armen willkommen. Was ist da geschehen? Gibt es niemanden mehr innerhalb Grünen, der ihnen Herbert Marcuses Zeilen über repressive Toleranz vorlesen könnte, die ihre Gründungsmütter und ‑väter auswendig wussten? Mit der ursprünglich grünen, begrüßenswerten Idee sich selbst versorgender Gemeinden, in die je nach Bedarf auch der Strom von zwei, drei (kleineren) Windrädern einfließen mag, hat der Wahnwitz der großen, börsennotierten Windparkbetreiber nichts zu tun.
Als Kind des Ostthüringer Holzlands freut mich der unüberseh- und ‑hörbar sich regende Protest in der Region; die Bürgerinitiativen bringen die Menschen endlich wieder zusammen, um gemeinsam über ihre lokalen Angelegenheiten zu entscheiden. Die historisch vielfach überrannte und übersehene Gegend ist mit ihrer großartigen Biodiversität eine der schönsten noch zu entdeckenden Mittelgebirgsvorlandslandschaften Deutschlands; statt Windparks hätte sie endlich einen Naturpark Ostthüringen verdient, der als Puffer zwischen Thüringer Wald und Saaleland ökologisch sinnvoll wäre. Mein Schwarzstorchdorf sollte den ersten Schritt tun und sich seinen Glücksbringer an den Namen heften. Eine Bauernregel besagt: »Wer ein Schwalbennest entfernt, sieben Jahre Unheil ernt‹ «. Was die erbärmlichen Zerstörer des Schwarzstorchhorstes ernten, ist klar: Empörung. Wenn ich auch nicht mehr dort lebe, so bin ich immer wieder gern dort unterwegs und will im nächsten Frühjahr hoffen, mit meiner Tochter den unvergesslichen Moment zu erleben, da sich der Schwarzstorch zeigt.
Jan Volker Röhnert, 1976 in Gera geboren, studierte Literaturwissenschaft, Deutsch als Fremdsprache, Romanistik und Erziehungswissenschaft. Seit 2011 ist er Heyne-Juniorprofessor für Neuere Deutsche Literatur an der TU Braunschweig.
Der Beitrag wurde am 1.9.2016 von der »Ostthüringer Zeitung« abgedruckt.
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