Jan Volker Röhnert – Mein Schwarzstorchdorf

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Debatten

Autor

Jan Volker Röhnert

Thüringer Literaturrat e.V.

Im Herbst ent­deckte ich die Stein­zeit­grä­ber. Nicht ein­mal mei­nem Groß­va­ter, der als Orts­chro­nist ver­geb­lich nach der urkund­li­chen Erst­erwäh­nung unse­res Dor­fes in den Archi­ven von Alten­burg, Gera, Gotha, Greiz und Wei­mar gesucht hatte, war es bekannt gewe­sen. Erst ein Wink im »Archäo­lo­gi­schen Wan­der­füh­rer Ost­thü­rin­gen« hatte mich dar­auf gebracht; die dor­ti­gen GPS-Daten führ­ten aller­dings in die Sümpfe, erst ein Anruf beim Museum für Ur- und Früh­ge­schichte half mir den rich­ti­gen Ort zu fin­den: kreis­runde, kaum mehr halb­me­ter­hohe Erhe­bun­gen im Durch­mes­ser von gut zehn Metern, man über­sieht sie im Unter­holz des Wal­des mit sei­nem brom­beer­über­rank­ten Humus, wenn man nichts von ihnen weiß. Kratzt man an der obers­ten Schicht, tritt eine zum Pan­zer auf­ge­schich­tete Stein­de­cke zutage, die die Grab­kam­mer über­wölbt. Das Geheim­nis möge blei­ben. Ich setzte mich auf eine nur von Farn bewach­sene Stelle, ver­harrte ohne Zeit­ge­fühl gegen Süd­wes­ten gewandt im für Mitte Dezem­ber unge­wöhn­lich war­men, kla­ren Licht. Das Rau­schen der zwei­hun­dert Meter nahen Auto­bahn, der dürre Ast, der unter einem Bol­zen schla­gen­den Hasen knackte, das schrille Giek eines glei­ten­den Habichts, alles war Teil einer gro­ßen Leere, in der jedes Geräusch aus der Stille her­vor­ge­bracht wurde und irgend­wann ein­fach wie­der darin ver­schwand. Wie hat­ten die­je­ni­gen, die vor 5.000 Jah­ren hier sie­del­ten, den Raum erlebt?

Kurze Zeit, bevor die A4 am Herms­dor­fer Kreuz als eines von Hit­lers Pres­ti­ge­ob­jek­ten mit der damals welt­größ­ten Beton­bo­gen­brü­cke am Teu­fel­s­tal erbaut wurde und erst Marsch­ko­lon­nen, spä­ter der Inter­zo­nen- und Tran­sit­ver­kehr über das Asphalt­band rollte, hatte ein Geraer Frei­zeit­ar­chäo­loge diese Stelle beschrie­ben; ein Wun­der, dass sie vom Tras­sen­bau ver­schont geblie­ben ist. So schnei­den sich die Spu­ren der jüngs­ten und ältes­ten Geschichte gera­dezu, ohne sich doch zu berüh­ren; kei­nes ›weiß‹ vom ande­ren. Die Rei­sen­den der vom Ver­kehrs­funk ver­trau­ten Stre­cke ahnen kaum, dass genau diese Gegend ein his­to­ri­sches Palim­psest ohne­glei­chen ist – frei­lich auch, je mehr die Geschichte vor­an­schrei­tet, eine der meist geschun­de­nen Gegen­den (und dabei wie­derum nur ein Para­de­bei­spiel für das, was im ›deut­schen Boden‹ an His­to­rie lagert): In sechs Kilo­me­ter Luft­li­nie, im wirk­lich tie­fen Wald, irgendwo an der vir­tu­el­len Grenze zwi­schen den Land­krei­sen Greiz und Saale-Holz­land, lie­gen die Reste der in einem der säch­si­schen Bru­der­kriege im 15. Jahr­hun­dert zer­stör­ten Wüs­tun­gen Sie­vers­dorf und Gold­born; was fort­be­stand, ebnete der Drei­ßig­jäh­rige Krieg ein (die Glo­cke der Wüs­tung Sie­vers­dorf ließ 1840 der Pfar­rer des nahen Rüders­dorf aus­gra­ben und in sei­ner Kir­che läu­ten, 1917 wurde die Bronze dann für Gra­na­ten an der West­front ein­ge­schmol­zen…); durch eine im nahen Tau­ten­hain ver­ges­sene fran­zö­si­sche Kanone kam ein belieb­tes Aus­flugs­lo­kal zu sei­nem Namen; wie sie erin­nert eine »Napo­le­ons­kie­fer« an den Durch­marsch von 1806. Die Flä­che zwi­schen den Dör­fern Bad Klos­ter­laus­nitz, Tau­ten­hain, Obern­dorf und Rüders­dorf, eines der größ­ten zusam­men­hän­gen­den Wald­ge­biete des Mit­tel­ge­birgs­vor­lan­des zwi­schen Thü­rin­ger Wald und Saale, wurde 1935 von der Wehr­macht für eine soge­nannte »Muni­ti­ons­an­stalt«, kurz Muna, beschlag­nahmt. Der Name Muna ist die­ser Wald heute immer noch geläufig.

Als ich Kind war, zeigte mir mein Groß­va­ter die Reste der inzwi­schen beräum­ten Bara­cken, in denen Zwangs­ar­bei­ter und Häft­linge des Kon­zen­tra­ti­ons­la­gers Buchen­wald ein­ge­pfercht gewe­sen waren (es war die ein­zige Zeit, in der mein Ort Obern­dorf über eine Bahn­sta­tion ver­fügte); die in den Bun­kern des Wald­ge­bie­tes lagernde Muni­tion wurde die ers­ten Jahre nach Kriegs­ende von der Sowjet­kom­man­dan­tur unkon­trol­liert gesprengt, Deto­na­tio­nen waren noch im 20 Kilo­me­ter fer­nen Gera zu hören, etli­che Blind­gän­ger lan­de­ten in den Fel­dern. In der DDR blieb der größte Teil des Wal­des ein­fach Sperr­ge­biet mit Pan­zer­übungs­platz im einen und – das erfuh­ren wir erst hin­ter­her – SS-20-Lang­stre­cken­spreng­köp­fen im gehei­men ande­ren Teil. Den Segen brach­ten die neun­zi­ger Jahre mit einem gan­zen Maß­nah­men­kom­plex, des­sen Durch­füh­rung bis heute andau­ert: Beräu­mung des Gebie­tes von Blind­gän­gern und mili­tä­ri­schen Alt­las­ten, Rena­tu­rie­rung, Erklä­rung zum EU-geschütz­ten Flora-Fauna-Habi­tat. Auf den ehe­ma­li­gen Pan­zer­ril­len grast jetzt eine Herde von Wild­pferd­hengs­ten, im Hei­de­kraut ist in Früh­som­mer­näch­ten der Ruf des Zie­gen­mel­kers, der sich mit dem Knar­zen der sel­te­nen Knob­lauch­kröte mischt, zu hören. Da die Wie­sen und Fel­der der angren­zen­den Dör­fer dank der eher kar­gen Sand­stein­bö­den keine durch­weg inten­sive Land­wirt­schaft zulas­sen, haben Milane, Bus­sarde und Fal­ken gute Jagdgründe.

Ein­mal im Leben einen Schwarz­storch zu Gesicht bekom­men beschert ein Glücks­ge­fühl, das viele trübe Momente ver­ges­sen macht. Meine Toch­ter erin­nert sich an den Augen­blick vor ein paar Jah­ren, als ihre Mut­ter dort im Wald mit ihr plötz­lich den Fin­ger an den Mund legte, in eine Rich­tung wies, zur Kamera griff: da war er, sekun­den­lang, dann wie­der fort, sein schwar­zes Flü­gel­kleid mit den wei­ßen Säu­men, rote Schen­kel, roter Schna­bel, rot umran­dete Pupil­len – und das tür­kis­far­bene Iri­sie­ren sei­nes Hals­ge­fie­ders, ein Glanz wie nicht von die­ser Welt. Schwarz­stör­che sind die unsicht­ba­ren Bud­dhas gro­ßer geschlos­se­ner Wäl­der mit altem Baumbestand.

Und in einer die­ser Kro­nen hatte er sein Nest, an dem er Jahr um Jahr kunst­voll wei­ter­strickte und klöp­pelte, dass es seit den 15 Jah­ren, die er im Muna-Wald schon gesich­tet wor­den ist, zu einer Burg ange­wach­sen sein muss. Die­ser Horst, auf einer 15 Meter hohen Kie­fer ange­sie­delt, wurde kürz­lich von unbe­kann­ten Tätern geraubt, nach­dem ihn die ört­li­che Bür­ger­initia­tive gegen Wind­kraft ent­deckt und dem Land­rats­amt gemel­det hatte. Die Tat­mo­tive dürf­ten einem kaum ver­bor­gen blei­ben, wenn man weiß, dass die gesamte Flä­che des Thü­rin­ger Holz­lan­des, zu dem die­ser Wald gehört, Spe­ku­la­ti­ons­ob­jekt der Wind­kraft­wirt­schaft gewor­den ist, im Umkreis der rena­tu­rier­ten FFH-Flä­chen sol­len Wind­parks mit 212 Meter hohen Roto­ren auf­ge­stellt wer­den. Das unweit Jena gele­gene Natur­schutz­ge­biet Wal­de­cker Buchen, ein Total­re­ser­vat, das Goe­the 1777 bewun­derte: zukünf­tig umstellt von gigan­ti­schen Wind­ma­schi­nen; das Schloss Groß­koch­berg zwi­schen Wei­mar und Rudol­stadt, wo Goe­the Char­lotte von Stein auf­suchte und Schil­ler Char­lotte von Len­ge­feld den Hof machte: Kulisse für eine ins Detail durch­ge­plante Wind­rad­me­ga­lo­ma­nie. Thü­rin­gen ist dabei, zum Yukon Val­ley der Wind­ener­gie zu wer­den, fast in jedem Dorf haben sich Bür­ger­initia­ti­ven for­miert, aber Bür­ger­pro­teste wer­den von den Regie­ren­den offen­bar nur hin­ter­her wahr­ge­nom­men, wenn sie bereits his­to­risch abge­fei­ert wer­den kön­nen. Die Ver­bre­chen, die von der Wind­wirt­schaft mit staat­li­chen Sub­ven­tio­nen an der Bio­di­ver­si­tät began­gen wer­den, sind weder durch den Atom­aus­stieg noch die Kli­ma­ziele zu recht­fer­ti­gen – denn längst gibt es intel­li­gen­tere Lösun­gen, Spei­cher­mög­lich­kei­ten für tags­über auf Dächern erzeug­ba­ren Pho­to­vol­ta­ik­strom hät­ten längst in Serie gehen sol­len. Das wirk­lich Anstö­ßige jedoch ist, dass der indus­tri­elle Wind­boom mit sei­nen irrever­si­blen Fol­gen für die Land­schaft von einer grü­nen Par­tei sank­tio­niert, ja pro­te­giert wird. Wäh­rend sie (zurecht) die Mon­s­an­tos und Bay­ers unse­rer Böden ebenso wie das Fracking ver­dam­men, hei­ßen sie die neuen Mon­s­an­tos und Fracking­fir­men der Luft mit offe­nen Armen will­kom­men. Was ist da gesche­hen? Gibt es nie­man­den mehr inner­halb Grü­nen, der ihnen Her­bert Mar­cu­ses Zei­len über repres­sive Tole­ranz vor­le­sen könnte, die ihre Grün­dungs­müt­ter und ‑väter aus­wen­dig wuss­ten? Mit der ursprüng­lich grü­nen, begrü­ßens­wer­ten Idee sich selbst ver­sor­gen­der Gemein­den, in die je nach Bedarf auch der Strom von zwei, drei (klei­ne­ren) Wind­rä­dern ein­flie­ßen mag, hat der Wahn­witz der gro­ßen, bör­sen­no­tier­ten Wind­park­be­trei­ber nichts zu tun.

Als Kind des Ost­thü­rin­ger Holz­lands freut mich der unüber­seh- und ‑hör­bar sich regende Pro­test in der Region; die Bür­ger­initia­ti­ven brin­gen die Men­schen end­lich wie­der zusam­men, um gemein­sam über ihre loka­len Ange­le­gen­hei­ten zu ent­schei­den. Die his­to­risch viel­fach über­rannte und über­se­hene Gegend ist mit ihrer groß­ar­ti­gen Bio­di­ver­si­tät eine der schöns­ten noch zu ent­de­cken­den Mit­tel­ge­birgs­vor­lands­land­schaf­ten Deutsch­lands; statt Wind­parks hätte sie end­lich einen Natur­park Ost­thü­rin­gen ver­dient, der als Puf­fer zwi­schen Thü­rin­ger Wald und Saa­le­land öko­lo­gisch sinn­voll wäre. Mein Schwarz­storch­dorf sollte den ers­ten Schritt tun und sich sei­nen Glücks­brin­ger an den Namen hef­ten. Eine Bau­ern­re­gel besagt: »Wer ein Schwal­ben­nest ent­fernt, sie­ben Jahre Unheil ernt‹ «. Was die erbärm­li­chen Zer­stö­rer des Schwarz­storch­hors­tes ern­ten, ist klar: Empö­rung. Wenn ich auch nicht mehr dort lebe, so bin ich immer wie­der gern dort unter­wegs und will im nächs­ten Früh­jahr hof­fen, mit mei­ner Toch­ter den unver­gess­li­chen Moment zu erle­ben, da sich der Schwarz­storch zeigt.

Jan Vol­ker Röh­nert, 1976 in Gera gebo­ren, stu­dierte Lite­ra­tur­wis­sen­schaft, Deutsch als Fremd­spra­che, Roma­nis­tik und Erzie­hungs­wis­sen­schaft. Seit 2011 ist er Heyne-Juni­or­pro­fes­sor für Neuere Deut­sche Lite­ra­tur an der TU Braunschweig. 

Der Bei­trag wurde am 1.9.2016 von der »Ost­thü­rin­ger Zei­tung« abgedruckt.

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