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Wulf Kirsten
Begleitbuch zur Ausstellung »Wanderlust oder Die Sehnsucht nach dem Paradies« / Thüringer Literaturrat e.V.
Eingeladen, der Wanderlust zu frönen, nun mit über achtzig, wo die Füße und nicht nur die Extremitäten dies nicht mehr zu bewerkstelligen vermögen, wenn gerade noch möglich, in Erinnerungen zu schwelgen und sie diese Text werden zu lassen, der die unausbleiblichen bramabarsierenden Fiktionen tunlichst auf ein Minimum zu reduzieren sucht. Welche der vielen Wanderungen per pedes apostolorum im Sächsischen, im Thüringisch-Fränkischen, querbeet durch Mecklenburg, durch den Harz, kreuz und quer im Salzburger Hinterland, durch mährische Einsamkeiten, ausgestattet mit dem Reisesegen des Svaty Kopecek erhoben über Olomouc (Olmütz), in Rumänien, um den Negoj (2500 m ü. M.) in den Fogarascher Bergen zu erklimmen, wo Graf Dracula, wo sehr wohl realiter ein Braunbär aufkreuzen konnte. Ich könnte berichten vom Slovensky Rai (Slowakischen Paradies) bei Hochwasser, vom kräftezehrenden Aufstieg auf den Mont Ventoux (1909 m ü. M.) von Malaucène aus. Ach, wie ungerecht, so viele der Tagestouren, dreißig bis vierzig km und mehr in diesem ad hoc aus dem Ärmel geschüttelten Register auszulassen, um mich nach wochenlangen Vorüberlegungen auf eine festzulegen, die quasi vor der Haustür beginnt und pars pro toto für alle steht, die mir noch erinnerlich sind, wie etwa die von Kranichfeld nach Paulinzella, wie die von Ilmenau nach Arnstadt, als sich unser Trio bei hundsmiserablem Wetter jämmerlich in den Kernbergen verirrte und im Kreise drehte. Wie die…, wie jene…, die mir allein in Thüringen im Laufe eines halben Saeculums zu Bodenhaftung verhalfen.
Während ich seit den frühen fünfziger Jahren zumeist jeweils wochenlang allein unterwegs befindlich als Entdecker zu pilgern pflegte, dann späterhin zu zweit, zu dritt, selten zu viert. Aber nie als Teilnehmer größerer Wandergruppen. Ganz zu schweigen von derart populistisch aufgemotzten Massenveranstaltungen wie dem Rennsteiglauf.
Sicherlich hat in meinem Fall das jugendbewegte Elternhaus stimulierend beigetragen. Einschließlich der in ihren Alben überlieferten Fotos. Auch Erzählungen wie die von Muck Lambertys legendärem Zug 1920 durch Thüringen. Mutters beste Freundin Else Kühn war bei ihm in Stellung. All das und die damit verbundene Begeisterung, die in den Erinnerungen fortlebte, weckten in mir Wünsche, Ähnliches zu vollbringen. So wurde das Wandern zu einer elementaren Lebensäußerung, auf der eine sinnstiftende Weltaneignung gründete. Wie naiv die Aufnahmemöglichkeiten zunächst auch immer waren und wohl tatsächlich gewesen sein mögen, als wir, drei Schüler der zweistufigen Volksschule zu Sachsdorf uns auf den Weg machten, die Quelle der Wilden Sau, unseres Dorfbachs, zu suchen eines heißen Sommertags in den Nachkriegsjahren.
Was nicht alles läßt sich einem Wanderer in die Schuhe schieben? Über die von langer Hand beintrainierte Bewegung hinaus! Natürlich zuvörderst ganz naiv wird visuell wahrgenommen Naheliegendes wie Fernes, sofern dies die Aussicht im Hügelland gewährte. Kurz: Wandern schließt elementare Welt-Anschauung vorsätzlich ein als Grund, als bereichernde Hoffnung. Wobei sich stets aufs Neue Fontanes Erkenntnis »Man sieht nur, was man weiß.« bestätigt. Das zu bewältigende sportive Laufpensum allein hat mir nie genügt. Aus der Wahrnehmung entwickelte sich der Wille, in der Lage sein zu wollen, alles zu bezeichnen: Textierung der Flora und weit bescheidener – der Fauna, sofern nicht allzu mikrobisch mühsam zu ergründen.
Sehr früh wuchs die Einsicht, daß die auf Lebenszerstörung setzende agroindustriell betriebene Landwirtschaft mein Thema nicht sein kann. Wobei mir Reiner Kunze als poetischer Mentor in seinen Greizer Jahren auf den Weg gab, wie unverzichtbar es für einen Landschafter wie mich sei, sich mit ökologischen Problemen zu beschäftigen. Was ich mir gesagt sein ließ. Wenn auch zunächst ziemlich rat- und hilflos, wie dies denn poetisch umgesetzt werden könnte. Robert Jungks Buch »Die Zukunft hat schon begonnen« (1952) und dann wesentlich massiver im Erkenntnisgewinn Rachel Carsons »Der stumme Frühling« (dt. 1968). Zum sprachkritischen Denken kam nun stufenweise das landschaftskritische Aufnahmevermögen hinzu. Und dies eben nicht nur als eine vorübergehende Sichtweise. Wandern zu zweit, zu dritt gewann unter restriktiven beruflichen, öffentlichen Bedingungen einer Diktatur, die sich nur mit massiven Geschichtsverzerrungen, Lügen, Eigentoren zu helfen und an der Macht zu halten wußte, im freien Gelände, das sich weitgehend von ideologischen Verwerfungen freizuhalten vermochte, auch eine politische Sicherheit hinzu, sich in allen kritischen Äußerungen frei zu fühlen, wenn man wußte, von Richtmikrophonen, Wanzen und dergleichen Abhörmöglichkeiten nicht erreicht zu werden. Zur Bodenhaftung trug entschieden der gegenseitige Austausch von historischen Regionalkenntnissen, von Spezialwissen der vielfältigsten Disziplinen bei. Mag als Beispiel eine dieser Fußtouren in verkürzter Nachzeichnung, der die Details ausgegangen sind, bezeugend dienen. So nehme man nun nach langer Vorrede endlich den frühstmöglichen Omnibus, der noch immer wie zu meinen in Rede stehenden Zeiten Personen von Weimar nach Rudolstadt befördert in genau einer Stunde. Ausstieg 8.05 Uhr eine Station nach dem Nordfriedhof. Von dort sofort loslaufen. Der Stadt gar nicht erst recht gewahr werden. Also rasch stadtaus und langgestreckten Berg hinauf, auf bald schottriger, vom Regen zerfurchter Straße Höhe gewinnen. Wie überall verliert sich, zersiedelt sich die Stadt im Laubenpiepermilieu. Schweinskopf, nicht wortwörtlich zu nehmen, Vatersruh. Von dem Namensgeber der Fabrikantenfamilie ging wohl doch bereits meine Rede, als ich im Gasthof Geitersdorf in Schreibklausur gehen durfte und nach Heidelbeer- und Preiselbeerenbeständen Ausschau hielt hoch oben über dem Elf-Häuser-Dorf, dem es partout nicht gelingen wollte, die Einwohnerzahl auf einhundert zu steigern. Voreinst rangen die Kleinbauern dem kargen Boden Einkorn ab. Nach der Rückkehr aus dem Gulag war jener Vater menschenscheu geworden und lebte fernab als wäldischer Eremit, der überall Mauern errichtete, wo es keiner bedurfte, als wollte er sich aus der Welt herausmauern. So schwer es dem Abschweifer fällt, er muß im Tritt bleiben, vorankommen. Waldumfangen, gehölzbeschirmt auf einer Schlängellinie, der kein Lineal etwas anzuhaben vermag, um das Dorf Teichweiden zu gewinnen. Im Vorbeigehen auf Mundraub erpicht, auf Obst, das ohnehin achtlos zu Boden fällt. Schnurstracks hindurch. Durch eine Schluppe rasch wieder hinaus, das letzte Gehöft im Rücken. Nun durch Thüringen als solches, je einsamer das Gelände, je attraktiver. Auf einem Feldweg hinunter-hinauf gen Weitersdorf, das gar kein Dorf ist, allenfalls ein Weiler, der immerhin eine architektonische Attraktion aufzuweisen hat, eine romanische Kapelle. Ringsum verstreut ein paar Grabstellen. In früheren Jahren war es stets möglich, in die Kapelle einzutreten, in späteren Jahren stets verschlossen. Das ehemalige Vorwerk oder Kammergut war der Feuerwehr zum Abbruch überlassen worden. Ringsum hatten sich einige Neubauern angesiedelt, so daß aus dieser entlegenen Siedlung immerhin keine neuerliche Wüstung wurde wie Studenitz, das zuletzt, vor dem Abbruch, immerhin noch eine Einwohnerin beherbergte. Wie nur mag sie dort mit dem Leben zurande gekommen sein? Ohne Fahrzeug schwer vorstellbar. Keine Ahnung, ob Strom, ob Wasseranschluß vorhanden. Von Weitersdorf hinunter in den Grund zur verwunschen gelegenen Scherfmühle, von der es dann nur noch ein Katzensprung ist in den vertrauten Ort Großkochberg hinein und hindurch, ausnahmsweise einmal am Schloß und seinem Park vorbei, den Spaalweg hinauf. Natürlich immer das Tagesziel vor Augen. Diesmal für den steilen Aufstieg durch den Wald zum Luisenturm entschieden. Halbwegs den Höhenweg geradehin, die riesige Wiese auf dem Hummelsberg streifend, auf dem in früheren Jahren die Agrarflieger eine ideale Piste fanden. Wir jedoch erst einmal bis zum Langen Tal, nach dem Dorf Schmieden hinunter. Einer meiner Lieblingswege in diesem Gelände. Aber diesmal mußte diese Abschweifung unterbleiben. Der als wohl doch erfundener Goetheweg ausgewiesene Fußweg, den Goethe zu Fuß und zu Pferd vielfach benutzt haben soll, viel weiter westlich, jenseits der Rudolstädter Straße, wurde jedenfalls auf dieser ehrgeizigen Tour verschmäht. Ob der unsre kürzer war? Sicher ist nur, daß es so viele der abschneidenden Feldwege längst nicht mehr gibt. Jetzt, wo es kaum noch Feldraine gibt, um großflächige Felder zu schaffen, gibt es dieser Annahme erst recht Nahrung, wenn nicht Gewißheit. Wir steuerten nun auf Spaal zu, am günstigsten von Neckeroda (ein verschliffenes Neuheckenroda) zu erreichen.
Eine über die Saale vorgeschobene sorbische Brandrodung, ursprünglich Spayl. Dem kargen Boden Felder abgerungen, zumeist wieder vom Wald zurückgeholt. Späterhin ein Vorwerk, vorwiegend zu Erntezeiten bewohnt. Barackenähnliche Gebäude noch in den fünfziger, sechziger Jahren als Kinderferienlager genutzt. Hausreste, Keller, der verlandete Dorfteich des Rundlings. Das Spaalhaus als einziges frei stehendes Gebäude unmittelbar am Weg für die Jäger geblieben. Fast immer geschlossen. Einmal, vor 1989 sah ich die oberen Fenster aufgebrochen. Offenbar hatten sich damals vorübergehend desertierte russische Soldaten, ihrer Panzereinheit entflohen, darin aufgehalten. Ohne jede Chance, den auf sie gerichteten Kalaschnikows zu entkommen. Für die Wanderer, unterwegs zwischen Rudolstadt und Weimar ein idealer Rastplatz auf überdachter Ruhebank. Nahebei drei Steinkreuze, ein Ort für alljährliche Pfingstgottesdienste mitten im Wald. Wir zogen nach einer halben Stunde den Spaalweg rechts hinunter in den Reinstädter Grund, was in zwanzig Minuten zu schaffen ist. Die nach Kahla zuhaltende Fahrstraße schnurstracks gequert, das Dobrautal hinauf, um die Kottenhainer Höhe zu gewinnen. Der kleine Ort Kottenhain seinerzeit abgesiedelt. Das Gelände ringsum eingedrahtet, abgesperrt für die Versuchtsfahrten der Rüben- und Kartoffelroder des Weimarwerks. Inzwischen aufgegeben und wieder neu besiedelt. Um der Luftlinie soweit es irgend möglich war treu zu bleiben, hin und wieder mal eine Wiese, mal einen Acker across country als Abkürzer genutzt. Von Rottorf kurzerhand auf einer Schluppe am Seeteich vorübergeschlängelt. Um nicht gar zu arg in die Weglosigkeit zu geraten, uns in Egendorf kundig gemacht, wie am sichersten in die Waldgaststätte Müllershausen zu gelangen, um nicht doch noch mit der Stadt Blankenhain zu kollidieren.
Steil hinauf (vielleicht hat die Erinnerung den Hieb etwas gesteigert) zum Bombenberg. Ich seh uns da an einer Müllhalde vorüberstapfen. Immer noch gut zu Fuß. Nun aber endlich auf die Waldgaststätte Müllershausen (allen Thüringen-Entdeckern sehr zu empfehlen. Mir seit Oktober 1965 ein vertrauter, beliebter Einkehrort) zu gepilgert. Dort zweite halbstündige Tagesrast. Diesmal Kaffeepause. Da jedoch noch ein gutes Stück des Wegs zurückgelegt sein will, muß ich mir historische wie autobiografische Abschweifungen verkneifen. Wieder und wieder bergauf, Wald zur Rechten, Wald zur Linken. Oben an einem Agro-Stausee vorüber nach kurzer Inspizierung des Gewässers von der Dammkrone aus. Ins Ilmtal hinunter, am Forellengrund dicht vorbei via Dammfurther Brücke die Piste nach Köttendorf hinauf, dem ehemaligen großherzoglichen Kammergut, inzwischen abgebrochen, nunmehr ein Pferdedorf, wenn die Bezeichnung Dorf dieser Kreuz-und-Quersiedlung angemessen ist. Immerhin pflegte Goethe seinen Abendspaziergang in ebendieses gewesene Kammergut zu richten. Eines meiner Gedichte gilt ebendiesem verurachten Lebensfleck, der mich in Thüringen Bodenhaftung gewinnen ließ. Was immer gegen ihn sprechen mag angesichts abwesender Schönheit, ich muß ihm einen doppelten Bonus geben. Nun aber nur noch heimwärts, bei Tageslicht ankommen. Also unter der Autobahnbrücke hindurch, durch den Belvederer Forst zum Possenbach, noch einmal, an diesem Tag endlich letztmalig mit schwindenden Kräften bergauf. Weimar in Sicht. Summa summarum an die vierzig Kilometer oder einige wenige weniger in glatt zehn Stunden bewältigt. Was sich nun aus der Erinnerung leicht aufs Papier werfen läßt. Nicht zu beweisen. Es muß bei dieser nachgetragenen Behauptung bleiben.
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