Literatur und Landschaft – Texte zum Wandern
5 : Paul-Josef Raue – Am TodesstreifenEine politische Wanderung entlang der innerdeutschen Grenze

Person

Paul-Josef Raue

Ort

Geisa

Thema

Literatur und Landschaft

Autor

Paul-Josef Raue

Begleitbuch zur Ausstellung »Wanderlust oder Die Sehnsucht nach dem Paradies« / Thüringer Literaturrat e.V.

Am Was­ser beginnt unsere Wan­de­rung: Der böh­mi­sche Mühl­bach ist ein bes­se­res Rinn­sal, der nur bei Hoch­was­ser zu einem Strom wird und dann auf Gren­zen keine Rück­sicht nimmt, alles mit­reißt, was in seine Flu­ten gerät. In der Mitte des Bachs stie­ßen gleich drei Staa­ten und zwei Mili­tär-Blö­cke auf­ein­an­der – sto­ßen ist das rechte Wort: Die DDR, die Tsche­cho­slo­wa­kei und die Bun­des­re­pu­blik, der War­schauer Pakt und die Nato, hoch­ge­rüs­tet, zur Ver­nich­tung bereit.

Heute ist das Drei­län­der­eck ein fried­li­cher Ort ohne Grenz­sta­tion, ohne Kon­trol­len, ein Ort, wo sich nur noch zwei Staa­ten begeg­nen, Deutsch­land und Tsche­chien, ein Ort, wo Ver­liebte sich zum Pick­nick tref­fen. Hier beginnt eine gut 1400 Kilo­me­ter lange Wan­de­rung ent­lang einer ver­schwun­de­nen, einst mar­tia­li­schen Grenze.

Wer diese alte Grenze ent­lang wan­dert, wan­dert durch eine ein­ma­lige Natur, durch ein grü­nes Band, das tau­send Kilo­me­ter lang auch so aus­ge­schil­dert und geschützt ist. Doch die Wan­de­rung ist keine Idylle, diese Grenze hat, im Rück­blick, nur einen Ver­lie­rer: Den Men­schen; nur einen Sie­ger: Die Natur. Hier wuch­sen Kräu­ter, Blu­men, Bäume so unge­stört wie sel­ten in der zivi­li­sier­ten Welt, beka­men Vögel, Insek­ten und aller­lei Getier einen gro­ßen Natur­park, in dem sich Arten hal­ten konn­ten, die sonst ver­schwun­den oder dezi­miert wären. Der Todes­strei­fen war ein Para­dies der Natur.

Wir sind die Grenze ent­lang gewan­dert – nicht der Natur, der Men­schen wegen. Wir: Das war neben mir mein Freund Die­ter Prü­schenk, als aus­ge­bil­de­ter Pil­ger­füh­rer ein Wan­der-Profi, der jeden Weg selbst im Unter­holz ent­deckt. Zusam­men haben wir Hun­derte von Zeit­zeu­gen an der Grenze getrof­fen, die ver­schwun­de­nen und geschun­de­nen, die dage­blie­be­nen und zurück­ge­kom­me­nen. Es war eine poli­ti­sche Wanderung.

Wir wan­der­ten auf bei­den Sei­ten der Grenze, die heute oft nur noch schwer erkenn­bar ist: Wo ist West? Wo ist Ost? Die Grenze ver­schwin­det, aller­dings noch nicht aus den Köpfen.

Wer am Beginn der Grenze, von Bay­ern aus ein paar Kilo­me­ter nach Tsche­chien wan­dert, pro­blem­los, ohne Pass und Pas­sier­schein, der stößt auf Dör­fer, von denen es nur noch einen Kel­ler und eine Tür gibt; Dör­fer mit zwei Namen, einem deut­schen – vor der Ver­trei­bung ­­­­‑ und einem tschechischen.

Wir hören von einer zwei­ten, einer vor­ge­la­ger­ten Grenze nach dem Krieg in Tsche­chien, einer fik­ti­ven, zu der Flücht­linge wie in eine Falle lie­fen. Sie glaub­ten, schon in der Frei­heit zu sein, wur­den getäuscht, ver­haf­tet,  ver­hört, bis sie Namen von Hel­fern ver­rie­ten, sie kamen vor Gericht und wur­den hin­ge­rich­tet. Die Grenze war früh schon eine Grenze des Todes.

Kilo­me­ter für Kilo­me­ter müss­ten Tafeln, Steine und Denk­mä­ler ste­hen: Bis heute wis­sen wir nicht genau, wie viele Men­schen im Todes­strei­fen star­ben, wie viele ver­letzt, wie viele ver­haf­tet wur­den, wie vie­len die Flucht glückte. Wer nennt ihre Namen? Wer schreibt all die Geschich­ten auf, ehe sie verwehen?

Wir müs­sen oft nach dem Weg fra­gen, ver­lau­fen uns in Holz­we­gen. Nur mit Mühe fin­den wir im Wald bei Ober­lem­nitz die Stelle, an der die spek­ta­ku­lärste Flucht begann. Zwei Fami­lien flo­gen mit einem Bal­lon in die Frei­heit – und kamen bei Naila in Bay­ern wie­der run­ter. Hol­ly­wood ver­filmte die Flucht: »Mit dem Wind nach Westen«.

An eini­gen Stel­len beulte die Grenze aus und schloss einen Ort nahezu ein wie das thü­rin­gi­sche Tit­schen­dorf. In der Nähe spielte sich eine Tra­gö­die ab, die selbst für die Grenze der Tra­gö­dien bei­spiel­los war: Die Stasi lockte Man­fred Smolka, kurz zuvor in den Wes­ten geflo­hen, in die Nähe der Grenze, ent­führte ihn, ver­ur­teilte ihn zum Tode und rich­tete ihn mit der Guil­lo­tine im Som­mer 1960 hin. Seine Frau und sein Bru­der konn­ten erst nach der Ein­heit in den Stasi-Akten den Abschieds­brief lesen, kurz vor der Hin­rich­tung geschrieben:

»Meine liebe Frau, wir sind ver­eint für alle Zei­ten des irdi­schen Daseins, ver­zeihe Du mir, wenn ich Dich mal betrübt habe. Die Größe eines Men­schen liegt in der Ver­zei­hung, die er spen­den kann, und Ver­zei­hung ist das Schönste, was das Men­schen­herz uns gibt. Ver­gesse nie­mals die Ursa­che mei­nes Unheils und pflanze es auch wei­ter ins Herz mei­nes Kindes.«

Unsere Wan­de­rung führt über Möd­la­re­uth, Vor­bild für den TV-Mehr­tei­ler »Tann­bach«, in die Rhön, eine der schöns­ten Land­schaf­ten ent­lang des Todes­strei­fens. Wir begeg­nen Men­schen, die sich gerne an die Grenze erin­nern: In Geis­mar steht ein Stein, der an Rudi Arn­stadt erin­nert. Am jedem 14. August, sei­nem Todes­tag, tref­fen sich ehe­ma­lige Genos­sen und legen Blu­men nie­der für »unsere im Dienst an der Staats­grenze der DDR Gefal­le­nen«, sie erin­nern sich an die Grenze wie an einen Krieg.

Wir tref­fen in Point Alpha Peter Christ­mann, den ehe­ma­li­gen west­deut­schen Kom­mis­sar, der den Fall Arn­stadt unter­sucht hatte: Erschoss im August 1962 ein West-Gren­zer Rudi Arn­stadt in Not­wehr? Oder absicht­lich? So behaup­tete die DDR und ver­ur­teilte den Todes­schüt­zen in Abwe­sen­heit zu 25 Jah­ren Haft. Zehn Jahre nach der Ein­heit, rund 35 Jahre nach Arn­stadts Tod, erschoss ein Unbe­kann­ter den west­deut­schen Todes­schüt­zen. »Ein Feme-Mord«, sagt der Kommissar.

Point Alpha war der west­lichste Punkt der DDR. Hier lagen sich War­schauer Pakt und Ame­ri­ka­ner in Sicht­weite gegen­über; hier waren NVA und Bun­des­wehr nur kleine Mit­spie­ler im Kal­ten Krieg; hier war die Angst vor dem Drit­ten Welt­krieg gegen­wär­tig.  Hier wird die Rote Armee den Angriff auf West­eu­ropa star­ten, so ver­mu­te­ten die Ame­ri­ka­ner und nann­ten den Ort, an dem sie einen Beob­ach­tungs-Pos­ten eta­blier­ten: Point (Punkt) Alpha, nach dem ers­ten Buch­sta­ben des grie­chi­schen Alphabets.

Heute ist Point Alpha eine Gedenk­stätte. Ex-Kom­mis­sar Peter Christ­mann führt Besu­cher über die Außen­an­la­gen. Auf der mehr­stün­di­gen Wan­de­rung ent­lang des Todes­strei­fens  zeigt er an eini­gen Stel­len ins Nichts oder auf Reste eines Fun­da­ments, auf Mau­ern, die von Pflan­zen über­wu­chert sind, auf einen Bau­ern­hof, den es nicht mehr gibt.

Über drei­ßig Häu­ser ließ die DDR allein um Geisa herum abrei­ßen: Höfe, die seit Jahr­hun­der­ten exis­tier­ten, Müh­len, Wohn­häu­ser – und sogar Brun­nen, die mit Bau­schutt ver­sie­gelt wur­den. Christ­mann erzählt vom Zynis­mus die­ser Demon­ta­gen: »Das geschieht zu Eurer eige­nen Sicher­heit, ver­suchte man den Bewoh­nern ein­zu­trich­tern, das ist Schutz vor den Bon­ner Revan­chis­ten und Aggressoren.«

Mit den Häu­sern ver­schwan­den auch die Men­schen, die ins Innere oder den Rand der DDR depor­tiert wur­den. Zwölf­tau­send waren es, die als Unbe­queme oder Denun­zierte bei »Korn­blume« und »Unge­zie­fer« – so die zyni­schen Deck­na­men – umge­sie­delt wurden.

Wir hören auch Geschich­ten über die Liebe am Todes­strei­fen, eine Liebe mit Pas­sier­schei­nen, die ver­wei­gert wer­den, mit weni­gen Flirts und lan­gem War­ten, mit mehr Ver­zweif­lung und mehr Roman­tik und Hof­fen als anderswo. Man­cher war­tete nicht: Nahe dem Klos­ter Hül­fens­berg, in dem heute noch Mön­che leben, ließ der Kom­pa­nie­chef ein Stück vom Signal­zaun abbauen, um es repa­rie­ren zu las­sen; so konnte er unge­hin­dert mit sei­ner Liebe Rich­tung Wan­fried, Rich­tung Frei­heit ziehen.

Auch ein Mit­ein­an­der  gab es  unter den Sol­da­ten mit den unter­schied­li­chen Uni­for­men – in den fünf­zi­ger und frü­hen sech­zi­ger Jah­ren. »Ich habe noch die Zeit der gemein­sa­men Ziga­rette erlebt«, erzählt ein Grenz­schüt­zer. Da traf man sich an der Grenze und sprach über das Wet­ter. »Am liebs­ten spra­chen die DDR-Grenz­sol­da­ten über ihre Erfolge im Sport. Wir hat­ten im Wes­ten wenig, wor­auf wir stolz sein konnten.«

Tief im Wes­ten haben die meis­ten die Grenze schon ver­ges­sen, nur direkt an der Grenze nicht. Bis zur Ein­heit sub­ven­tio­nierte die Bon­ner Repu­blik die Gemein­den, die vom Hin­ter­land im Osten abge­schnit­ten waren. Die Bür­ger und Unter­neh­men muss­ten weni­ger Steu­ern zah­len und beka­men reich­lich Mil­lio­nen für Inves­ti­tio­nen als Aus­gleich dafür, dass sie am Ende der freien Welt leben mussten.

In der Rhön-Gemeinde Tann, seit 1952 vom benach­bar­ten Kal­ten­nord­heim abge­schnit­ten, erzählt ein Gast­wirt von den Gru­sel-Kaf­fee­fahr­ten, an denen er gut ver­dient hatte. Scha­ren­weise kamen die Gäste, um erst die Schwarz­wäl­der-Kirsch-Torte zu genie­ßen und dann einen  Blick in die »Zone« zu wer­fen: Prompt rich­te­ten auch die DDR-Gren­zer ihre Fern­glä­ser auf die meist betag­ten Zaungäste.

Der Beob­ach­tungs­turm und ein klei­nes Museum waren vom Inner­deut­schen Minis­te­rium bezu­schusst wor­den ebenso wie die Kaf­fee­fahrt für die Tages­tou­ris­ten, die mit dem woh­li­gen Gefühl nach Hause fuh­ren, auf der rich­ti­gen Seite zu leben.

Die meis­ten Men­schen an der öst­li­chen Seite der Grenze spre­chen gern von glück­li­chen Zei­ten, es schim­mert eine Ahnung von hei­ler Welt auf: Der Zusam­men­halt, die gute Nach­bar­schaft, die Gebor­gen­heit in der Nische. Eine Frau sagte: »Wir muss­ten die Tür nie abschlie­ßen« – und sie spielte nicht auf die gute Bewa­chung durch die Gren­zer an, son­dern auf die Über­schau­bar­keit des Lebens. Nur manch­mal bekommt der Spie­gel der Ver­gan­gen­heit einen Riss.

Wir wan­dern durchs Eichsfeld, kom­men nach Gla­se­hau­sen, das von der Grenze wie ein Huf­ei­sen umschlos­sen war; am  frü­hen Mor­gen wer­den wir unter der Dorf­linde mit einer Herz­lich­keit begrüßt, die für den katho­li­schen Land­strich typisch ist. Die Bür­ger­meis­te­rin  erzählt: »Eine bes­sere Einig­keit wie frü­her gibt es nicht, wir haben uns alle gegen­sei­tig gehol­fen. Wir hat­ten uns eben mit der Grenz­ord­nung abge­fun­den. Das heißt nicht, dass wir ein­ver­stan­den waren, wir hat­ten uns arran­giert«, und sie schließt: »Heute dage­gen ist viel mehr Neid.«

Da streift ein Mit­glied des Gemein­de­rats, ein ehe­ma­li­ger Gren­zer, seine Zurück­hal­tung ab: »Zu DDR-Zei­ten gab es auch Neid, viel Neid. Warum kriegt der eine den Pas­sier­schein? Warum hat der so gute Bezie­hun­gen, einen län­ge­ren Arm in die Par­tei hinein?«

»Wir waren artig«, wirft die Bür­ger­meis­te­rin ein, die sich über ihren Gemein­de­rat wun­dert, einen sonst ruhi­gen Mann. »Bei aller Enge, wir haben uns doch gegen­sei­tig beschützt.« Ja, sagt der ehe­ma­lige Gren­zer, »und wir haben uns gegen­sei­tig beobachtet.«

Er spricht von der Angst an der Grenze, von den Ent­eig­nun­gen und Depor­ta­tio­nen, die Angst, die allen in den Kno­chen saß, die blei­ben durf­ten. »Diese Angst, die sollte doch sein. Du muss­test dich ein­ord­nen. Und wer sich nicht ein­ord­nen wollte, der hat das Weite gesucht.« Er zeigt nach Ost, und er zeigt nach West.

Das Leben im 500-Meter-Schutz­strei­fen, wie in Gla­se­hau­sen, war ein eige­nes. Immer wie­der erzäh­len sie, wenn sie sich zu erin­nern trauen: Jeder Besu­cher musste vier Wochen vor­her einen Pas­sier­schein bean­tra­gen, den die Par­tei­bon­zen oft genug ohne Begrün­dung ablehn­ten; die Ver­lieb­ten muss­ten bei der Kir­mes kurz vor Elf den letz­ten Tanz tan­zen; die Kin­der durf­ten nicht im Wald spie­len, in dem sie – im ein­fa­chen Fall – über Stol­per­drähte fie­len; jeder, der zu spät am Abend zurück­kam, blieb  aus­ge­sperrt, wenn sich der Kon­troll­pos­ten schla­fen gelegt hatte; ging wie­der eine Mine hoch, fragte man leise : War es ein Reh? War es ein Mensch?

Im Harz kam die Grenze, nahe des Bro­ckens, an ihren höchs­ten Punkt. Das Gip­fel­pla­teau, 1141 Meter hoch, war von einer Mauer umge­ben, war mili­tä­ri­sches Sperr­ge­biet, allein den Sowjets vor­be­hal­ten. Hier hörte der War­schauer Pakt die Nato ab – und wahr­schein­lich auch die ver­bün­de­ten Brü­der. In Sicht­weite des Bro­ckens wan­dern wir auch über die Stau­mauer einer geteil­ten Tal­sperre, die in der Mitte zuge­mau­ert und mit Eisen­spit­zen gekrönt war. Aber das Was­ser der Ecker­tal­sperre durfte der Wes­ten wei­ter nut­zen – für hun­dert­tau­send Mark im Jahr.

Nach Öff­nung der Grenze freu­ten sich die meis­ten im Osten über jeden Beob­ach­tungs­turm, der fiel, über jeden Meter Zaun, der abge­baut wurde und in den Gär­ten und Wei­den eine neue, eine fried­li­che Funk­tion bekam. Als wir in einem Dorf nahe Mari­en­born einen alten Unter­stand suchen, kam eine ältere Frau, zeigt uns die zuge­wach­se­nen Reste und meint:
»Heute wären wir froh, wenn das eine oder andere noch ste­hen würde. Unsere Kin­der und Enkel fra­gen: Wie sah es denn frü­her hier aus? Wir haben noch nicht ein­mal Bil­der von der Grenze, wir durf­ten ja nicht foto­gra­fie­ren. Aber nach dem Ende woll­ten wir nur: Aus den Augen, aus dem Sinn!«

Abrupt geht das Mit­tel­ge­birge ins Flach­land über, in die nord­deut­sche Tief­ebene, nach Mari­en­born an der Auto­bahn, dem einst größ­ten Kon­troll­punkt der Welt, in die Heide, ins Wend­land. Nicht nur das thü­rin­gisch-bay­ri­sche Möd­la­re­uth, Deutsch­lands bekann­tes­tes Dorf, war geteilt: Am Natur­park Dröm­ling gin­gen die Zwil­lings­dör­fer Ziche­rie und Böck­witz inein­an­der über, wur­den nach dem Mau­er­bau »Klein-Ber­lin« getauft und waren beliebte Treff­punkte für Kanz­ler und Prä­si­den­ten, die über Frei­heit und Ein­heit spra­chen, an die sie sel­ber nicht mehr glaubten.

Fast hun­dert Kilo­me­ter der Grenze kann man nicht erwan­dern: Die Elbe. Kein Fluss der Welt war so bewacht und umstrit­ten wie die Elbe zwi­schen Lau­en­burg und Schnacken­burg: Wo war die Grenze?  Das Ufer oder die Mitte? Und bei Hoch­was­ser? Die Biber schätz­ten die Ein­sam­keit, sie­del­ten sich wie­der an und ver­meh­ren sich eif­rig – bis heute.

Bei Gor­le­ben tobte 1966 sogar eine See­schlacht, naja, toben ist ein wenig über­trie­ben, aber eine Schlacht war es: »Len­zen«, ein DDR-Boot, und das  West-Boot »Kugel­bake« kamen sich beim Pei­len der Elb-Tiefe in die Quere; die Eng­län­der, die an der Elbe patrouil­lier­ten, fuh­ren Pan­zer auf, lie­ßen Hub­schrau­ber auf­stei­gen, wir­bel­ten mit den Rotor­blät­tern das Was­ser auf und dräng­ten die DDR-Boote  ab. »Es hätte leicht den Drit­ten Welt­krieg aus­lö­sen kön­nen«, sagte spä­ter ein bri­ti­scher Generalmajor.

Nach der Elbe fol­gen bald der Schaal­see, der Rat­ze­bur­ger See – und am Ende die Lübe­cker Bucht. Auch am und im Was­ser ist die Grenze eine Grenze der Tra­gö­dien. 1951, die DDR war gerade gegrün­det und die Grenze noch eine grüne, da fuhr ein Zehn­jäh­ri­ger Schlitt­schuh mit sei­nen Freun­den auf dem Gol­den­see. Sie taten das jeden Tag; zwar war am ande­ren Ufer schon der Wes­ten, aber die Sol­da­ten lie­ßen die Kin­der gewäh­ren. Ein neuer Gren­zer kam, sah die Kin­der, hob sein Gewehr und erschoss den Zehnjährigen.

Im Was­ser begann die Grenze, im böh­mi­schen Mühl­bach, im Was­ser endet sie an einem FKK-Strand der Ost­see, auf der Halb­in­sel Pri­wall, nur mit der Fähre von Lübeck aus zu errei­chen. Doch wir sind noch nicht am Ziel: Wir bie­gen nach Osten ab, den Strand ent­lang bis Bol­ten­ha­gen, einem Bade­ort an der Ost­see. Die Volks­po­li­zei  rief im Som­mer oft Diet­rich Frei­herr von Mal­t­zahn, den Bol­ten­ha­ge­ner Arzt, zum Steil­ufer, dort wo sich zwei Strö­mun­gen kreuzen.

An die­sem Ort, den man unwirt­lich nen­nen kann, musste der Arzt Toten­scheine schrei­ben für Namen­lose, die in die Frei­heit schwim­men woll­ten, aber weder die Fähr­schiffe noch die Lübe­cker Bucht erreich­ten und im Meer ertranken.

Der Anblick der Toten war ent­setz­lich, erzählt der Bol­ten­ha­ge­ner Arzt: Fische hat­ten an der Lei­che gefres­sen, die Haut bestand nur noch aus Fet­zen, und der Kör­per war auf­ge­bläht wie ein Luft­bal­lon. Der Arzt erin­nert sich an einen Volks­po­li­zis­ten, der stets anwe­send war und die Gunst der Obe­ren suchte. Ver­ächt­lich schaute er auf die Lei­che und rief: »Geschieht ihm recht, so erbärm­lich abzu­sau­fen. Er hat unsere Repu­blik ver­ra­ten! Uns alle!«

Der Arzt stand in sei­ner Nähe, schaute ihn ange­wi­dert an – und kotzte ihm auf die Stiefel.

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