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Paul-Josef Raue
Begleitbuch zur Ausstellung »Wanderlust oder Die Sehnsucht nach dem Paradies« / Thüringer Literaturrat e.V.
Am Wasser beginnt unsere Wanderung: Der böhmische Mühlbach ist ein besseres Rinnsal, der nur bei Hochwasser zu einem Strom wird und dann auf Grenzen keine Rücksicht nimmt, alles mitreißt, was in seine Fluten gerät. In der Mitte des Bachs stießen gleich drei Staaten und zwei Militär-Blöcke aufeinander – stoßen ist das rechte Wort: Die DDR, die Tschechoslowakei und die Bundesrepublik, der Warschauer Pakt und die Nato, hochgerüstet, zur Vernichtung bereit.
Heute ist das Dreiländereck ein friedlicher Ort ohne Grenzstation, ohne Kontrollen, ein Ort, wo sich nur noch zwei Staaten begegnen, Deutschland und Tschechien, ein Ort, wo Verliebte sich zum Picknick treffen. Hier beginnt eine gut 1400 Kilometer lange Wanderung entlang einer verschwundenen, einst martialischen Grenze.
Wer diese alte Grenze entlang wandert, wandert durch eine einmalige Natur, durch ein grünes Band, das tausend Kilometer lang auch so ausgeschildert und geschützt ist. Doch die Wanderung ist keine Idylle, diese Grenze hat, im Rückblick, nur einen Verlierer: Den Menschen; nur einen Sieger: Die Natur. Hier wuchsen Kräuter, Blumen, Bäume so ungestört wie selten in der zivilisierten Welt, bekamen Vögel, Insekten und allerlei Getier einen großen Naturpark, in dem sich Arten halten konnten, die sonst verschwunden oder dezimiert wären. Der Todesstreifen war ein Paradies der Natur.
Wir sind die Grenze entlang gewandert – nicht der Natur, der Menschen wegen. Wir: Das war neben mir mein Freund Dieter Prüschenk, als ausgebildeter Pilgerführer ein Wander-Profi, der jeden Weg selbst im Unterholz entdeckt. Zusammen haben wir Hunderte von Zeitzeugen an der Grenze getroffen, die verschwundenen und geschundenen, die dagebliebenen und zurückgekommenen. Es war eine politische Wanderung.
Wir wanderten auf beiden Seiten der Grenze, die heute oft nur noch schwer erkennbar ist: Wo ist West? Wo ist Ost? Die Grenze verschwindet, allerdings noch nicht aus den Köpfen.
Wer am Beginn der Grenze, von Bayern aus ein paar Kilometer nach Tschechien wandert, problemlos, ohne Pass und Passierschein, der stößt auf Dörfer, von denen es nur noch einen Keller und eine Tür gibt; Dörfer mit zwei Namen, einem deutschen – vor der Vertreibung ‑ und einem tschechischen.
Wir hören von einer zweiten, einer vorgelagerten Grenze nach dem Krieg in Tschechien, einer fiktiven, zu der Flüchtlinge wie in eine Falle liefen. Sie glaubten, schon in der Freiheit zu sein, wurden getäuscht, verhaftet, verhört, bis sie Namen von Helfern verrieten, sie kamen vor Gericht und wurden hingerichtet. Die Grenze war früh schon eine Grenze des Todes.
Kilometer für Kilometer müssten Tafeln, Steine und Denkmäler stehen: Bis heute wissen wir nicht genau, wie viele Menschen im Todesstreifen starben, wie viele verletzt, wie viele verhaftet wurden, wie vielen die Flucht glückte. Wer nennt ihre Namen? Wer schreibt all die Geschichten auf, ehe sie verwehen?
Wir müssen oft nach dem Weg fragen, verlaufen uns in Holzwegen. Nur mit Mühe finden wir im Wald bei Oberlemnitz die Stelle, an der die spektakulärste Flucht begann. Zwei Familien flogen mit einem Ballon in die Freiheit – und kamen bei Naila in Bayern wieder runter. Hollywood verfilmte die Flucht: »Mit dem Wind nach Westen«.
An einigen Stellen beulte die Grenze aus und schloss einen Ort nahezu ein wie das thüringische Titschendorf. In der Nähe spielte sich eine Tragödie ab, die selbst für die Grenze der Tragödien beispiellos war: Die Stasi lockte Manfred Smolka, kurz zuvor in den Westen geflohen, in die Nähe der Grenze, entführte ihn, verurteilte ihn zum Tode und richtete ihn mit der Guillotine im Sommer 1960 hin. Seine Frau und sein Bruder konnten erst nach der Einheit in den Stasi-Akten den Abschiedsbrief lesen, kurz vor der Hinrichtung geschrieben:
»Meine liebe Frau, wir sind vereint für alle Zeiten des irdischen Daseins, verzeihe Du mir, wenn ich Dich mal betrübt habe. Die Größe eines Menschen liegt in der Verzeihung, die er spenden kann, und Verzeihung ist das Schönste, was das Menschenherz uns gibt. Vergesse niemals die Ursache meines Unheils und pflanze es auch weiter ins Herz meines Kindes.«
Unsere Wanderung führt über Mödlareuth, Vorbild für den TV-Mehrteiler »Tannbach«, in die Rhön, eine der schönsten Landschaften entlang des Todesstreifens. Wir begegnen Menschen, die sich gerne an die Grenze erinnern: In Geismar steht ein Stein, der an Rudi Arnstadt erinnert. Am jedem 14. August, seinem Todestag, treffen sich ehemalige Genossen und legen Blumen nieder für »unsere im Dienst an der Staatsgrenze der DDR Gefallenen«, sie erinnern sich an die Grenze wie an einen Krieg.
Wir treffen in Point Alpha Peter Christmann, den ehemaligen westdeutschen Kommissar, der den Fall Arnstadt untersucht hatte: Erschoss im August 1962 ein West-Grenzer Rudi Arnstadt in Notwehr? Oder absichtlich? So behauptete die DDR und verurteilte den Todesschützen in Abwesenheit zu 25 Jahren Haft. Zehn Jahre nach der Einheit, rund 35 Jahre nach Arnstadts Tod, erschoss ein Unbekannter den westdeutschen Todesschützen. »Ein Feme-Mord«, sagt der Kommissar.
Point Alpha war der westlichste Punkt der DDR. Hier lagen sich Warschauer Pakt und Amerikaner in Sichtweite gegenüber; hier waren NVA und Bundeswehr nur kleine Mitspieler im Kalten Krieg; hier war die Angst vor dem Dritten Weltkrieg gegenwärtig. Hier wird die Rote Armee den Angriff auf Westeuropa starten, so vermuteten die Amerikaner und nannten den Ort, an dem sie einen Beobachtungs-Posten etablierten: Point (Punkt) Alpha, nach dem ersten Buchstaben des griechischen Alphabets.
Heute ist Point Alpha eine Gedenkstätte. Ex-Kommissar Peter Christmann führt Besucher über die Außenanlagen. Auf der mehrstündigen Wanderung entlang des Todesstreifens zeigt er an einigen Stellen ins Nichts oder auf Reste eines Fundaments, auf Mauern, die von Pflanzen überwuchert sind, auf einen Bauernhof, den es nicht mehr gibt.
Über dreißig Häuser ließ die DDR allein um Geisa herum abreißen: Höfe, die seit Jahrhunderten existierten, Mühlen, Wohnhäuser – und sogar Brunnen, die mit Bauschutt versiegelt wurden. Christmann erzählt vom Zynismus dieser Demontagen: »Das geschieht zu Eurer eigenen Sicherheit, versuchte man den Bewohnern einzutrichtern, das ist Schutz vor den Bonner Revanchisten und Aggressoren.«
Mit den Häusern verschwanden auch die Menschen, die ins Innere oder den Rand der DDR deportiert wurden. Zwölftausend waren es, die als Unbequeme oder Denunzierte bei »Kornblume« und »Ungeziefer« – so die zynischen Decknamen – umgesiedelt wurden.
Wir hören auch Geschichten über die Liebe am Todesstreifen, eine Liebe mit Passierscheinen, die verweigert werden, mit wenigen Flirts und langem Warten, mit mehr Verzweiflung und mehr Romantik und Hoffen als anderswo. Mancher wartete nicht: Nahe dem Kloster Hülfensberg, in dem heute noch Mönche leben, ließ der Kompaniechef ein Stück vom Signalzaun abbauen, um es reparieren zu lassen; so konnte er ungehindert mit seiner Liebe Richtung Wanfried, Richtung Freiheit ziehen.
Auch ein Miteinander gab es unter den Soldaten mit den unterschiedlichen Uniformen – in den fünfziger und frühen sechziger Jahren. »Ich habe noch die Zeit der gemeinsamen Zigarette erlebt«, erzählt ein Grenzschützer. Da traf man sich an der Grenze und sprach über das Wetter. »Am liebsten sprachen die DDR-Grenzsoldaten über ihre Erfolge im Sport. Wir hatten im Westen wenig, worauf wir stolz sein konnten.«
Tief im Westen haben die meisten die Grenze schon vergessen, nur direkt an der Grenze nicht. Bis zur Einheit subventionierte die Bonner Republik die Gemeinden, die vom Hinterland im Osten abgeschnitten waren. Die Bürger und Unternehmen mussten weniger Steuern zahlen und bekamen reichlich Millionen für Investitionen als Ausgleich dafür, dass sie am Ende der freien Welt leben mussten.
In der Rhön-Gemeinde Tann, seit 1952 vom benachbarten Kaltennordheim abgeschnitten, erzählt ein Gastwirt von den Grusel-Kaffeefahrten, an denen er gut verdient hatte. Scharenweise kamen die Gäste, um erst die Schwarzwälder-Kirsch-Torte zu genießen und dann einen Blick in die »Zone« zu werfen: Prompt richteten auch die DDR-Grenzer ihre Ferngläser auf die meist betagten Zaungäste.
Der Beobachtungsturm und ein kleines Museum waren vom Innerdeutschen Ministerium bezuschusst worden ebenso wie die Kaffeefahrt für die Tagestouristen, die mit dem wohligen Gefühl nach Hause fuhren, auf der richtigen Seite zu leben.
Die meisten Menschen an der östlichen Seite der Grenze sprechen gern von glücklichen Zeiten, es schimmert eine Ahnung von heiler Welt auf: Der Zusammenhalt, die gute Nachbarschaft, die Geborgenheit in der Nische. Eine Frau sagte: »Wir mussten die Tür nie abschließen« – und sie spielte nicht auf die gute Bewachung durch die Grenzer an, sondern auf die Überschaubarkeit des Lebens. Nur manchmal bekommt der Spiegel der Vergangenheit einen Riss.
Wir wandern durchs Eichsfeld, kommen nach Glasehausen, das von der Grenze wie ein Hufeisen umschlossen war; am frühen Morgen werden wir unter der Dorflinde mit einer Herzlichkeit begrüßt, die für den katholischen Landstrich typisch ist. Die Bürgermeisterin erzählt: »Eine bessere Einigkeit wie früher gibt es nicht, wir haben uns alle gegenseitig geholfen. Wir hatten uns eben mit der Grenzordnung abgefunden. Das heißt nicht, dass wir einverstanden waren, wir hatten uns arrangiert«, und sie schließt: »Heute dagegen ist viel mehr Neid.«
Da streift ein Mitglied des Gemeinderats, ein ehemaliger Grenzer, seine Zurückhaltung ab: »Zu DDR-Zeiten gab es auch Neid, viel Neid. Warum kriegt der eine den Passierschein? Warum hat der so gute Beziehungen, einen längeren Arm in die Partei hinein?«
»Wir waren artig«, wirft die Bürgermeisterin ein, die sich über ihren Gemeinderat wundert, einen sonst ruhigen Mann. »Bei aller Enge, wir haben uns doch gegenseitig beschützt.« Ja, sagt der ehemalige Grenzer, »und wir haben uns gegenseitig beobachtet.«
Er spricht von der Angst an der Grenze, von den Enteignungen und Deportationen, die Angst, die allen in den Knochen saß, die bleiben durften. »Diese Angst, die sollte doch sein. Du musstest dich einordnen. Und wer sich nicht einordnen wollte, der hat das Weite gesucht.« Er zeigt nach Ost, und er zeigt nach West.
Das Leben im 500-Meter-Schutzstreifen, wie in Glasehausen, war ein eigenes. Immer wieder erzählen sie, wenn sie sich zu erinnern trauen: Jeder Besucher musste vier Wochen vorher einen Passierschein beantragen, den die Parteibonzen oft genug ohne Begründung ablehnten; die Verliebten mussten bei der Kirmes kurz vor Elf den letzten Tanz tanzen; die Kinder durften nicht im Wald spielen, in dem sie – im einfachen Fall – über Stolperdrähte fielen; jeder, der zu spät am Abend zurückkam, blieb ausgesperrt, wenn sich der Kontrollposten schlafen gelegt hatte; ging wieder eine Mine hoch, fragte man leise : War es ein Reh? War es ein Mensch?
Im Harz kam die Grenze, nahe des Brockens, an ihren höchsten Punkt. Das Gipfelplateau, 1141 Meter hoch, war von einer Mauer umgeben, war militärisches Sperrgebiet, allein den Sowjets vorbehalten. Hier hörte der Warschauer Pakt die Nato ab – und wahrscheinlich auch die verbündeten Brüder. In Sichtweite des Brockens wandern wir auch über die Staumauer einer geteilten Talsperre, die in der Mitte zugemauert und mit Eisenspitzen gekrönt war. Aber das Wasser der Eckertalsperre durfte der Westen weiter nutzen – für hunderttausend Mark im Jahr.
Nach Öffnung der Grenze freuten sich die meisten im Osten über jeden Beobachtungsturm, der fiel, über jeden Meter Zaun, der abgebaut wurde und in den Gärten und Weiden eine neue, eine friedliche Funktion bekam. Als wir in einem Dorf nahe Marienborn einen alten Unterstand suchen, kam eine ältere Frau, zeigt uns die zugewachsenen Reste und meint:
»Heute wären wir froh, wenn das eine oder andere noch stehen würde. Unsere Kinder und Enkel fragen: Wie sah es denn früher hier aus? Wir haben noch nicht einmal Bilder von der Grenze, wir durften ja nicht fotografieren. Aber nach dem Ende wollten wir nur: Aus den Augen, aus dem Sinn!«
Abrupt geht das Mittelgebirge ins Flachland über, in die norddeutsche Tiefebene, nach Marienborn an der Autobahn, dem einst größten Kontrollpunkt der Welt, in die Heide, ins Wendland. Nicht nur das thüringisch-bayrische Mödlareuth, Deutschlands bekanntestes Dorf, war geteilt: Am Naturpark Drömling gingen die Zwillingsdörfer Zicherie und Böckwitz ineinander über, wurden nach dem Mauerbau »Klein-Berlin« getauft und waren beliebte Treffpunkte für Kanzler und Präsidenten, die über Freiheit und Einheit sprachen, an die sie selber nicht mehr glaubten.
Fast hundert Kilometer der Grenze kann man nicht erwandern: Die Elbe. Kein Fluss der Welt war so bewacht und umstritten wie die Elbe zwischen Lauenburg und Schnackenburg: Wo war die Grenze? Das Ufer oder die Mitte? Und bei Hochwasser? Die Biber schätzten die Einsamkeit, siedelten sich wieder an und vermehren sich eifrig – bis heute.
Bei Gorleben tobte 1966 sogar eine Seeschlacht, naja, toben ist ein wenig übertrieben, aber eine Schlacht war es: »Lenzen«, ein DDR-Boot, und das West-Boot »Kugelbake« kamen sich beim Peilen der Elb-Tiefe in die Quere; die Engländer, die an der Elbe patrouillierten, fuhren Panzer auf, ließen Hubschrauber aufsteigen, wirbelten mit den Rotorblättern das Wasser auf und drängten die DDR-Boote ab. »Es hätte leicht den Dritten Weltkrieg auslösen können«, sagte später ein britischer Generalmajor.
Nach der Elbe folgen bald der Schaalsee, der Ratzeburger See – und am Ende die Lübecker Bucht. Auch am und im Wasser ist die Grenze eine Grenze der Tragödien. 1951, die DDR war gerade gegründet und die Grenze noch eine grüne, da fuhr ein Zehnjähriger Schlittschuh mit seinen Freunden auf dem Goldensee. Sie taten das jeden Tag; zwar war am anderen Ufer schon der Westen, aber die Soldaten ließen die Kinder gewähren. Ein neuer Grenzer kam, sah die Kinder, hob sein Gewehr und erschoss den Zehnjährigen.
Im Wasser begann die Grenze, im böhmischen Mühlbach, im Wasser endet sie an einem FKK-Strand der Ostsee, auf der Halbinsel Priwall, nur mit der Fähre von Lübeck aus zu erreichen. Doch wir sind noch nicht am Ziel: Wir biegen nach Osten ab, den Strand entlang bis Boltenhagen, einem Badeort an der Ostsee. Die Volkspolizei rief im Sommer oft Dietrich Freiherr von Maltzahn, den Boltenhagener Arzt, zum Steilufer, dort wo sich zwei Strömungen kreuzen.
An diesem Ort, den man unwirtlich nennen kann, musste der Arzt Totenscheine schreiben für Namenlose, die in die Freiheit schwimmen wollten, aber weder die Fährschiffe noch die Lübecker Bucht erreichten und im Meer ertranken.
Der Anblick der Toten war entsetzlich, erzählt der Boltenhagener Arzt: Fische hatten an der Leiche gefressen, die Haut bestand nur noch aus Fetzen, und der Körper war aufgebläht wie ein Luftballon. Der Arzt erinnert sich an einen Volkspolizisten, der stets anwesend war und die Gunst der Oberen suchte. Verächtlich schaute er auf die Leiche und rief: »Geschieht ihm recht, so erbärmlich abzusaufen. Er hat unsere Republik verraten! Uns alle!«
Der Arzt stand in seiner Nähe, schaute ihn angewidert an – und kotzte ihm auf die Stiefel.
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