Lisa Heise wechselt an die zu den Universitätskliniken gehörende HNO-Klinik im Philosophenweg und wird, als ihre Tagebuchaufzeichnungen 1937 einsetzen, gerade in einen neuen Aufgabenbereich eingewiesen:
Die ersten Tage waren Zerreißproben. Ich fertigte jeden Morgen fünfzig bis achtzig Kranke ab, frage und schreibe ihre Personalien, brülle in taube Ohren und in Hörrohre, Kehlkopflose lallen, krächzen heiser, piepen durch Kanülen, Kinder schreien ›Mutter‹ und Erwachsene ›Kuckuck‹. Mein Kabüschen ist nur ein Anhängsel zum Behandlungsraum. Den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, gebe ich gleichzeitig mit der Rechten meine Unterschrift auf ein Papier und mit der Linken stempele ich Ausweise, Nachweise, Vorweise, Hinweise. Taylor, der Furchtbare, könnte von mir noch etwas lernen! Mehr als sechzig Anrufe in der Stunde gehören wohl zu den Seltenheiten und mehr als vier Menschen reden nie zugleich auf mich ein. Dazwischen diktiert der Oberarzt mit 350 km Stundengeschwindigkeit Operationsberichte, Arztbriefe, Krankengeschichtsauszüge. Den ersten Satz spricht er schon vor der Tür, den letzten schon wieder auf dem Flur. Nie gehörte Fachausdrücke. Sagt, ich solle ihn nicht unterbrechen, er verlöre sonst den Faden. Sinn soll es nachher auch haben. Interpunktion liefert er nicht. Mir bricht jedes Mal der Schweiß aus. Dabei schwirren mir immer noch Fragen durch den Kopf, die keineswegs zu meinem ›Ressort‹ gehören: Was hat eigentlich der Gruß ›Heil Hitler‹ mit medizinischen Befundberichten, wie sie von Klinik zu Klinik gehen, zu tun? In welchem unerforschten Zusammenhang stehen luetische Papeln, Hirntumore und Ovarien-Entzündungen mit Heil Hitler? Ist es nicht eher eine Profanierung des geheiligten Namens, wenn Briefe mit dem Satz schließen: ›…und vergessen Sie nicht, ein Fläschchen Morgenurin mitzubringen, Heil Hitler!‹ Finde es logischer, unter den dermatologischen Bericht ›Heil Haut‹ zu setzen oder unter einen gynäkologischen ›Heil Adebar!‹. Schließlich gehört ja Heilen zu den wesentlichen Aufgaben einer Klinik. Lediglich bei Berichten der Psychiatrischen Klinik könnte man dem ›Heil Hitler‹ einen vollen Sinn unterstellen. Wenn ich – in der Manier des braven Soldaten Schweijk – einmal einen Arzt darauf aufmerksam mache, weil sich mein Gefieder jedes Mal aufs Neue sträubt, so sieht er mich immer an, als sei ich vom Mond gefallen. Trotzdem aber scheine ich mit meiner Ansicht nicht ganz allein in der Welt zu stehen, mindestens in Holland gibt es Menschen, die ähnlich wie ich denken. Eine Erfurter Samengroßhandlung, die ihre nach Holland gehende Bestellung auf Tulpenzwiebeln mit ›Heil Hitler‹ unterzeichnete, las nämlich zu ihrem Erstaunen als Postskriptum auf der holländischen Rechnung: ›Unsere Königin lässt auch schön grüßen!‹
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