Person
Ort
Thema
Landolf Scherzer
Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Moatitze im Norden von Mosambik
„Der Vorhof zur Hölle“, sagen die Afrikaner. Selbst unter den dichten Blätterdächern der vereinzelt stehenden jahrhundertealten Affenbrotbäume steigt das Thermometer dort bis auf 70 Grad. In dieser Gegend gibt es die ergiebigsten Kohlevorkommen des Landes. Von der Erdoberfläche können die mineros, die Bergleute, aus schrägen niedrigen stollenähnlichen Gängen die Steinkohle im „Tagebau“ fördern. Für diese, auch noch über Tage gebückt gehenden Arbeiter, baute ich 1980 mit Freundschaftsbrigadisten aus der DDR und Mosambikanern Häuser aus von uns vor Ort geformten Hohlblocksteinen. Jeden Tag einen Lkw voll Betonklötze.
Unser ältester mosambikanischer Arbeiter, Chimica Roia war so alt, dass er – weil er in der früheren portugiesischen Kolonie keine Schule besuchen durfte – nicht wusste, wie alt er war. Er konnte nicht schreiben und zählte nur mit Hilfe seiner Finger. Seine Haut war rissig wie die Rinde der Affenbrotbäume. Ich sagte o meu pai, mein Vater, zu ihm.
Auch er lud die schweren Steine auf. Hob einen der blocos bis in Bauchhöhe, sammelte Kräfte und wuchtete ihn schließlich auf den LKW. Er schnaufte und zitterte dabei. Ich sagte: „Das ist keine Arbeit für dich!“ und brachte ihn zu einem Sandhaufen.
„Ruh dich aus, o meu pai!“ Nach einigen Minuten bemerkte ich, dass er hinter dem Fahrerhaus stand und dort versuchte einen Stein anzuheben. Ich schrie ihn an. Er duckte sich wie unter Peitschenhieben. Sagte etwas in Stammessprache. Einer der Arbeiter übersetzte es ins Portugiesische. „Er fleht dich an, dass du ihn nicht entlässt. Er hätte noch viel Kraft und zu Hause eine hungernde Familie. Bitte jage ihn nicht fort, weil er schon so alt ist.“ Ich wusste o meu pai nichts zu sagen und setzte mich mit ihm auf die heißen Steine. Umarmte und streichelte ihn wie mein Kind.
Peking
Neben der vierspurigen Stadtautobahn und den Hochhäusern, die mit ihren Dächern scheinbar an den Himmel stoßen, fand ich einen Park, einen wohl nur hundert Meter breiten, aber einen Kilometer langen Park, eine von der Autoflut umströmte grüne Insel. Im Park gab es Fischverkäufer, Hundehändler, Vogelzüchter, Bettler, Chinesen die gemeinsam Dehnübungen machten oder rückwärts liefen und Fahrradfriseure die ihren Salon, ein Anhänger mit Batterien und Haarschneidemaschinen, aufgebaut hatten.
In diesem Park hatte ich den Russen Iwan Kusnezow kennengelernt. Er stammte aus einem kleinen sibirischen Dorf an der Eisenbahnstrecke von Moskau nach Peking. In dem Dorf wohnte er mit seiner Frau Ljuba und seiner Tochter Irina im Bahnhofsgebäude. Seine Frau verkaufte dort Fahrkarten, er stellte die Weichen. Später begleitete er die Züge, die nach China fuhren und konnte dadurch Waren tauschen, zusätzlich Geld verdienen.
„Vor 10 Jahren aber musste ich ohne meine Frau Ljuba und mit meinem kleinen Töchterchen aus Russland weggehen. Seitdem wohnen wir in Peking.“
Auf meine Frage, weshalb er sein sibirisches Dorf verlassen hat, antwortete er nicht, sagte nur indem er auf die rückwärtsgehenden und dabei singenden Chinesen zeigte: „Hier lebe ich, der immer noch ein Mitglied der Kommunistischen Partei der Sowjetunion ist, wieder in meiner alten Zeit. In Russland und den ehemaligen Sowjetrepubliken steht kaum noch ein Denkmal von Lenin. Hier dagegen regieren die Kommunisten, ehrt man Lenin, Mao und Marx.“
Vor 5 Jahren hätte er, der ehemalige russische Eisenbahner, an der Pekinger Liangmaquiao-Lu-Straße junge Birken gepflanzt. Die Birke – Berjoska – sei der russischste Baum aller russischen Bäume. „Nun leuchten ihre weißgefleckten Stämme dort zwischen den grauen der chinesischen Bäume. Meine Seele ist noch in Russland zu Hause.“
Bevor er einen Apfel aus der Tasche holte, ihn teilte, eine Hälfte aß, mir die andere gab und wir uns verabschiedeten, fragte ich noch einmal, weshalb er mit seiner dreijährigen Tochter das Heimatdorf verlassen hatte.
„Während ich mit dem Zug nach China unterwegs war, ist zu Hause der Bahnhof in Flammen aufgegangen und meine geliebte Frau verbrannt. Ich konnte dort nicht mehr leben.“
Als ich mich auf dem Parkweg noch einmal nach ihm umdrehte, sah ich, dass Igor rückwärts lief. Zuhause mache ich das heute auch. Auf den Waldwegen.
Havanna
Um möglichst viele Kubaner kennenzulernen bin ich 2016 auch als deutscher Postbote in Havanna unterwegs gewesen, habe Briefe und Päckchen von Deutschen an ihre kubanischen Freundinnen und Freunde übergeben. Weil ich mir Fahrten mit den wenigen Stadtbussen – hunderte Fahrgäste kämpfen an den Haltestellen um einen Platz – verkniffen hatte, lief ich von Adresse zu Adresse. Machte dabei regelmäßig Rast auf einer herrenlosen Bank vor dem Don Quijote-Denkmal (der Kämpfer gegen die Windmühlenflügel auf seinem blechernen Rosinante-Pferd). Eines Tages saß auf „meiner“ Bank, ein Kubaner. Als ich zu ihm ging, sprang er auf und begann mit Karatebewegungen. Ich fragte, ob er das wegen mir macht. Er schüttelte den Kopf, zeigte auf zwei, mit gesammelten Plastemüll gefüllten Beuteln und sagte: „Damit sie mir niemand wegnimmt.“ Dann rückte er zur Seite, bat mich, mich zu ihm zu setzen, sagte „Ich bin Marcito“ und fragte dann auf deutsch:
„Du Deutschland?“
„Si, Si“
„Dresden?“
„No. In Dresden nur geboren.“
„Na gucke moa.“
Acht Jahre, von 1980 – 1988 habe er als Mechaniker in Dresden gearbeitet. Marcito stand auf und umarmte mich. „Drei Jahre ich war kubanischer Soldat beim bei Befreiungskampf in Angola. Als Dank eine Auszeichnung direkt von Fidel: arbeiten dürfen in Dresden!“
Das sei die beste Zeit seines Lebens gewesen.
„Zweite Heimat.“ Hier dagegen sei durch Korruption und das Embargo der USA alles schlechter geworden.
Er holte eine Flasche Rum aus seiner Umhängetasche, schüttete wie die Kubaner das tun, die ersten Tropfen für die Götter auf die Erde und reichte mir den Rum.
Meinen Obolus dafür nahm Marcito nicht. Er sagte nur: „Bitte nimm mich mit nach Dresden. Dort werde ich für guten Lohn wieder gut arbeiten können.“
Beli Manastir (Kroatien) und Rogotica (Serbien)
Ich suchte wie jeden Abend auch hier bei meinem 600 Km- Fußmarsch durch Ungarn, Kroatien Serbien und Rumänien nach einem Schlafplatz. Bisher hatte ich Unterkünfte unter anderem in Kirchenvorräumen, Maisfeldern, bei Zigeunern, in Klöstern gefunden … Einmal in Beli Manastir nahm ich eine Frau mit in ihre Villa. Ihr Mann Nicola lud zum Essen ein. Luxus in allen Zimmern. Ich dreckig, ein namenloser Quartiersuchender. Die Beiden gingen zeitig ins Bett. „Wir müssen morgens um 06:00 Uhr schon zur Arbeit“, sagte Nicola. Ich könnte aber noch trinken, fernsehen und morgens ausschlafen. Sie gaben mir den Haustürschlüssel. Den sollte ich beim Weggehen in ihren Briefkasten werfen. Fragten immer noch nicht nach meinem Namen, nach meinem Wohnort, Ausweis … Wünschten mir nur „Laku noc – Gute Nacht“ und verabschiedeten sich.
Noch Jahre danach stellte ich mir vor, wenn ein „abgerissener“ unbekannter Kroate bei uns um ein Nachtquartier bitten würde, ob ich morgens weggehen und ihm den Hausschlüssel überlassen würde.
Im serbischen Rogotica saßen zwei ältere Männer vor einem kleinen Laden an der Hauptstraße. Tranken Bier. Ich kaufte 3 Flaschen, gab jedem eine, stieß mit ihnen an und fragte nach einer Schlafmöglichkeit. Der eine, das abgetragene gelbe T‑Shirt rutschte ihm ständig über die Schulter hinunter, sagte dass er in einer Gartenlaube wohne. Er sei zwar schon Invalide, mauere aber noch, um Leben zu können. Milan humpelte langsam voraus. Nach einer halben Stunde standen wir vor seiner von Gerümpel gefüllten Bude. Ein reifenloses Fahrrad, Blechkanister, Pappkartons. Eine versiffte Matratze, auf der ich schlafen konnte. Auf dem Fensterbrett Töpfe mit eingetrockneten Speiseresten, ein verrosteter Rasierapparat, leere Ölplasteflaschen, Joghurtbecher, auf einer Leine hingen Hemden und eine Hose. In der Mitte der Stube stand ein wackeliger Tisch mit einem bis zum Rand gefüllten Aschenbecher.
An der Wand hing eine wagenradgroße Uhr. Sie tickte nicht.
Milan sagte, bevor er Käse auf den Tisch legte, ich sollte mich wie zuhause fühlen.
Am nächsten Morgen schenkte ich ihm Batterien für die Wanduhr. Er winkte ab, gab sie mir zurück. Die genaue Zeit sei für ihn schon lange nicht mehr wichtig. Wie um es zu bestätigen, rückte er die Zeiger mit der Hand vor und wieder zurück.
„Wozu wissen, wie spät es ist?“
Ich legte die Batterien aufs Fensterbrett und sagte: „Milan, vielleicht wird sie irgendwann auch für dich wieder wichtig, die Zeit …“
Moratize: o meu pai. Peking: der Russe Igor. Havanna: Marcito. Beli Manastir: Nicola. Rogotica: Milan. Orte gleich Menschen. Menschen gleich Heimat. Für mich: Heimat auch in der Fremde.
***
»Von Heimat zu Heimat – eine literarische Spurensuche« ist eine Reihe des Thüringer Literaturrates e.V. mit freundlicher Unterstützung der Kulturstiftung des Freistaats Thüringen.
›Literaturland Thüringen‹ ist eine gemeinsame Initiative von
Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen · Thüringer Literaturrat e. V. · MDR-Figaro · MDR Thüringen – Das Radio
Gestaltung und Umsetzung XPDT : Marken & Kommunikation © 2011-2025 [XPDT.DE]
© Thüringer Literaturrat e.V. [http://www.thueringer-literaturrat.de]
URL dieser Seite: [https://www.literaturland-thueringen.de/artikel/landolf-scherzer-orte-oder-heimat-in-der-fremde/]