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Jürgen K. Hultenreich
Dichters Wort an Dichters Ort / Thüringer Literaturrat e.V.
Der Thüringer benimmt sich Fremden gegenüber eher zutraulich als zurückhaltend. Wer ihn en passant erkennen will, frage ihn um Rat. Er wird keinen geben können, aber die Frage auf größere, ernste Probleme zu erweitern wissen, um danach die Hilflosigkeit zu teilen – allerdings lächelnd. Dies hat auch etwas mit der Landschaft zu tun. Sie ist nicht karg oder flach, eher ornamental fraulich, teils verwegen üppig. Der Zusammenhang zwischen Thüringer Hügeln und Thüringer Klößen leuchtet ein. Die Hügel machen, sofern gewandert wird, neugierig. Hinter jedem verbirgt sich ein anderer, oft auch ein Berg, der bezwungen werden will. Steht man oben, dann reicht der Atem immer noch für ein Lied, und hat der Bezwungene guten Wind, singt er mit.
Solch Wesen ist idealer Boden für die Muse.
Wem ist eigentlich schon mal aufgefallen, dass die meisten unserer Klassiker, Goethe und Schiller einbezogen, mit Thüringerinnen liiert waren, herzensguten Weibern, die ihren nach und nach berühmter werdenden Männern das Leben leicht machten (beinahe hätte ich geschrieben: abnahmen)? Schillers von damaligen Intellektuellen vielbelachte Schilderung gemütvoller häuslicher Verhältnisse in der Glocke mag zwar allgemein formuliert sein, ihm ist aber thüringisches Naturell aufs Papier geflossen, wie diesem Gedicht ganz selbstverständlich – denken wir nur an die noch heute tätige Apoldaer Glockengießerei – etwas aus diesem Lande innewohnt. »Wemm mr nech merre spaßen, laben mr nech merre«, heißt es dort (und hieß es auch während der Zwangsaffäre mit der DDR).
Hätte der Mainfranke Goethe mit derselben Vehemenz genealogische Forschungen betrieben, wie es die Genealogen nach seinem Tod für ihn taten, dann wäre ihm klar geworden, dass nicht nur sein Großvater aus Artern stammte – was er wusste -, sondern dass seine Wirkungsstätte Thüringen die Heimat seiner Vorfahren gewesen war. Goethes Biographen schilderten umfassend den literarischen, höfischen und kleinstädtischen Kreis Weimars, aber keiner hob hervor, dass sich dem dort Ankommenden auch eine andere Welt auftat: weite, reiche Natur. Erst mit seinem Eintritt in den weimarischen Kreis, schreibt der Geheimrat, habe er »Stuben- und Stadtluft mit Land‑, Wald- und Gartenatmosphäre« getauscht. »Von dem hingegen, was eigentlich äußere Natur hieß«, sagt er, hatte er keinen Begriff.
Die Kunst des Reisens liegt brach. Sie ist ein Gewerbe geworden, in dem sich längst verfangen hat, wer nach günstigen Angeboten fragt. Auch die angebliche Erweiterung des beschränkten Horizonts zählt dazu. Es wäre weit besser, sich wenigstens im Urlaub eine Atempause zu gönnen, anstatt später darüber berichten zu wollen, was man alles unternommen habe, um nicht zur Ruhe zu kommen. Um möglichst viel erzählen zu können, müssen Sehenswürdigkeiten gesichtet werden. Man sichtet nach Fahr- und Stundenplan und weiß schon vorab, was man sehen wird. Uhrzeit und Fotografien im Sekundentakt knechten und jagen die so Reisenden in ihrer freien Zeit.
Der echte Reisende ist einer, der nur ungefähr weiß, wohin sein Fuß ihn morgen führen wird. Von solchem Glück ahnen vermittelte Urlaubs-Reisende nichts. Ich werde immer mein Grinsen nicht los, wenn mir ein Autor erzählt, er müsse wegen neuer Inspiration ins Ausland reisen. Nichts gegen Auslandsreisen, aber bietet ein normal gedeckter Tisch, auf dem ein Messer schräg liegt und eine Gabel fehlt, nicht genug Inspiration? Es gibt keinen Unterschied zwischen solch einem kleinen Tisch und einer großen Weltreise. Unsere wichtigste Ausrüstung ist das Sehen-Können. Wer dies nicht beherrscht, vergeudet nur Geld. Sich treiben lassen, auch mit den Augen, ist die Voraussetzung dafür. Wer das Geheimnis des erwähnten Tisches nicht zu lüften versteht, wird auch keiner Landschaft, keinem Palast, keinem exotischen Tier, keinem Bild und keiner Weltreise etwas abgewinnen und nur das sehen, was zwar groß, aber ohne Geheimnis ist. Immer wiegt Unscheinbares mühelos Großartiges auf. Was ist schon die weite Sicht von Bergen herab gegen die stille Sachlichkeit kleiner Gärten. Erst wer sich diese Frage stellt, weiß auch Ersteres zu würdigen. Wo steckt mehr von der Welt? Wo erscheint sie größer? Entdeckt man mehr von ihr beim Hinaufschauen oder beim Niederknien im Gras?
Es war so: Das erste Mal Schwarzburg an der Schwarza vor Jahrzehnten in dem Gedicht über »Die Felsen im Tale bei Schwarzburg« von Arthur Schopenhauer entdeckend, dachte ich an gar nichts und vermutete farblose Beliebigkeit á la Weißenfels. Immerhin hatte aber der nie Lächelnde, dem ich damals zu folgen versuchte, 1813 darüber reflektiert. Ich las:
»Als ich am sonnigen Tage, im Tale der waldigen Berge
einsam ging, hatt’ ich acht auf die zackigen Glieder der Felsen,
die sich so grau dem Gewühle der Kinder des Waldes entwinden.
Siehe, da hab’ ich’s gehört, durchs Rauschen des schäumenden Waldbachs,
wie ein gar mächtiger Fels die andern also begrüßte:
‚Freut euch, Brüder, mit mir, ihr ältesten Söhne der Schöpfung,
daß auch heute das Licht der erquickenden Sonn’ uns umspielet …’«
Dann brach durch die Märzwolken, wie als Aufforderung, die Sonne durch. Ich hatte – in meiner Wohnung winterliche Trübsal blasend – ein paar Tage frei von der Schufterei als Versandarbeiter im Malzwerk Erfurt, stand auf, klappte das Buch zu, schnappte meine Cordjacke und die stets gefüllte Reisetasche, ging aus dem Haus und schnurstracks zum Bahnhof. Dann saß ich anderthalb Stunden im Zug, kutschte über Arnstadt, Stadtilm, Rottenbach, stieg an dem hoch gelegenen Schwarzburger Halt aus und geriet nach einem Fußmarsch in das Hotel Schwarzaburg, wo Friedrich Ebert 1919 die Weimarer Verfassung unterzeichnet hatte. Auch das war mir neu und wurde als gutes Omen begriffen.
Dann speiste ich wieder einmal hervorragend: dicke Soße, darin halbersoffene Klöße, Roulade, zwei Watzdorfer dazu, zahlte und machte mich sofort auf den Weg zu den Schwarzburger Höhen. Wer nie dort auf dem sonnenverklärten Trippstein stand, kennt Thüringen nicht, dachte ich überwältigt. Und heute: Wer von Thüringen nur diesen einen Ausblick kennt, weiß von dem Land zu berichten. Bei diesem Gedanken ist es geblieben.
Inmitten des gewaltigen Talkessels war der Schlossberg zu sehen, auf dessen Rücken die Schwarzburg seit dem 7. Jahrhundert thront – erst Grenzbefestigung gegen die Sorben, später Schloss der Schwarzburger Fürsten. Goethe brachte es im Juli 1781, genau 210 Jahre vor meinem Erstbesuch, mit Bleistift, Tusche und Pinsel aufs Papier. In der kleinen Bildergalerie ist sein gerahmtes Blatt zu entdecken. Seinerzeit war das Schloss noch keine ansehnliche Ruine, sondern bestückt mit Schildschanze, Burgvogtei, Schlosskapelle, Zeughaus, Grabgewölbe, Speise- und Kaisersaal, Rüstkammer und Pferdezimmer. Im Dritten Reich sollte es zu einem Reichsgästehaus umgewandelt werden, was den teilweisen Abriss einleitete. Die Sanierungsarbeiten durch die Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten gehen seit 1994 voran, auch dank ehrenamtlicher Privatinitiative. In diesem Jahr eröffnete die Waffenkammer an historischer Heimstatt, bestückt mit den nach Schloss Heidecksburg bei Rudolstadt ausgelagerten, weltweit einzigartigen Exponaten.
Dann – 1971 – stieg ich hinab ins wasserdurchströmte, bewaldete Tal. Die Schwarza murmelte ihr Lied. Dann roch es so schön nach Frühling. Und dann war er mit einmal da. Genau so war das.
Abb. 1-5: Fotos: Jens Kirsten.
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