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Jens Kirsten
Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.
Wiedergelesen von Jens Kirsten
Der Roman Die Schillergruft schildert die DDR von einer Seite, über die man auch heute, trotz einiger weniger Publikationen zum Thema noch wenig weiß. Der Romanheld Georg Hull als alter ego des Autors wird Mitte der sechziger Jahre zwischen tschechischer und bundesdeutscher Grenze verhaftet und der versuchten Republikflucht angeklagt. Als er sich vor Gericht mit Schillerzitaten verteidigt und zudem behauptet, er läse nur Schiller, ist für die Staatsanwältin und den Richter schnell klar, daß dieser junge Mann nicht normal sein kann. Sein Zwischenruf »Nicht ich bin krank, dieses Land ist es.« bestätigt den Anklägern ihre Hypothese. Man weist ihn zur Überprüfung seines Geisteszustandes in die Psychiatrie nach Pfafferode nahe der Stadt Mühlhausen ein.
Auf den ersten Blick scheint das Leben in der Schillergruft das einer »normalen« psychiatrischen Anstalt zu sein, auf den zweiten Blick entpuppt es sich als überdrehtes Panoptikum der Irrsinnigen, auf den dritten Blick zeigt es sich als Abbild der Gesellschaft »draußen«, die die ihr Unbequemen wegschließt und mit Medikamenten gefügig zu machen versucht. Den Romanhelden wie auch den Leser beschleicht nach einiger Zeit des routiniert ablaufenden Klinikalltages ein trügerisches Gefühl der Geborgenheit. »Im Bett, tablettenvoll, überkam mich, die Anstalt betreffend, ein neues Gefühl. Du bist, sagte ich mir, an einem sicheren Ort. Dir wird nichts passieren, man beschützt dich.« heißt es an einer Stelle im Roman. Am nächsten Morgen ist einer der Insassen, ein Homosexueller, tot. Schlagartig wird der Romanheld in die Realität zurückgerissen. Das System DDR läßt keine Freiräume für Menschen, die neben der vorgegebenen Spur laufen. »Nein, dieses System hatte die größtmögliche Anpassungsfähigkeit für gesund erklärt. Alles andere, selbst kleinste Abweichungen, war krank und mußte bestraft werden.« Ein Klima gegenseitigen Mißtrauens zerstörte und trübte Freundschaften und untergrub den offenen Diskurs in der DDR. Hultenreich zeichnet nicht nur die Figuren der Insassen gebrochen, sondern auch Vernehmer und Ärzte, deren innere Zerrissenheit er mehrfach aufscheinen läßt.
Einer Prüfung der besonderen Art muß sich Hull, dessen Ruf als Schillerexperte sich wie ein Lauffeuer in der Anstalt verbreitet hat, am Silvesterabend unterziehen. Im Wechsel geben sein Arzt und sein Vernehmer Hull erst einen Kognak, dann ein Schillerzitat vor, welches dieser zur wachsenden Begeisterung beider stets zu vollenden weiß. Gespielt wird um Westgeld, genauer gesagt, die Jahresendprämie des Oberleutnants aus den geplünderten Westpaketen des Klassenfeindes. Welche Gestalten, die dem Helden da in Gestalt von Vernehmern, Ärzten, Kranken und zwangsbeobachteten Gesunden begegnen! Einer wurde 1945 bei Kriegsende in der Anstalt vergessen und träumt von der kriegsentscheidenden Wende an den Erdölfeldern von Baku. Ein anderer glaubt, einem Buch entstiegen zu sein, das erst 1999 geschrieben wird. Alkoholiker, Homosexuelle und eine Freundin aus seiner Jugend, die aufgehört hat zu sprechen, begegnen Hull in der Schillergruft. Hultenreichs facettenreiches Bild des Lebens »drinnen« und »draußen« gerät zu einem literarischen Glanzstück. Er zeichnet seine Figuren mit einer Eindringlichkeit, die den Leser nolens volens zu einer gespensterhaft anmutenden Geisterfahrt mit hinab in die »Gruft« nimmt. Es entsteht das Bild eines Panoptikums innerhalb des »Panoptikums DDR«. Sein übersteigerter Blick, der mehr Realität einschließt, als dem Leser lieb ist, führt die propagierte Menschlichkeit des Systems auf künstlerisch hohem Niveau ad absurdum.
Hultenreich entwirft bei all dem kein Schwarzweißbild von Tätern und Opfern. Die Stärke des Romans liegt in der Vielschichtigkeit seiner Figuren. Ärzte, Vernehmer, Mitgefangene, Mitinsassen – ihnen allen begegnet der Autor mit Gerechtigkeit und dem genauen Blick für das Detail. Gekonnt setzt Hultenreich beim Schreiben Mittel wie dialektale Färbungen, einen besonderen sprachlichen Duktus, Marotten oder Tics ein, um sein jeweiliges literarisches Gegenüber mit subtiler Verve zu porträtieren. Aus diesem Wechselspiel zeichnet Hultenreich in der »Schillergruft« ein eindringliches Psychogramm der Gesellschaft im kleinen und großen, das sprachlich und bildlich seine unverwechselbare Handschrift trägt. Sein Roman wird so zu einer eindrucksvollen Parabel auf eine kranke Gesellschaft, wie man sie selten in der deutschen Literatur findet. Kaum ein Roman von dieser erzählerischen Wucht ist bislang über die DDR geschrieben worden. Damit kommt seinem Roman Die Schillergruft ein wesentlicher Platz in der deutschen Literatur zu.
Bucheinband, Jürgen Hultenreich, Die Schillergruft, Edition A. B. Fischer, Berlin 2013.
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