Jens-Fietje Dwars (Hg.): Johann Wolfgang Goethe – »Erotica«

Personen

Johann Wolfgang von Goethe

Jens-Fietje Dwars

Ort

Weimar

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Ralf Julke

Erstdruck in »Leipziger Zeitung«, 7.5.2021. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors und der »Leipziger Zeitung«.

Ero­tica: Eine erstaun­lich faus­ti­sche Samm­lung zum Lie­bes­dich­ter Goethe

Von Ralf Julke

 

Nichts ist für den Ruf eines Dich­ters schäd­li­cher, als von deut­schen Pro­fes­so­ren zum Klas­si­ker erklärt zu wer­den. Denn das ist der beste Weg, immer wie­der zen­siert, ampu­tiert und ver­ein­nahmt zu wer­den. Etwas, was die­ser Geheim­rat aus Wei­mar zutiefst ver­ab­scheute. Aber er hatte da schon 1808 so eine Ahnung, denn er kannte seine Pap­pen­hei­mer und Stan­des­ge­nos­sen. Bei nichts ist das Bür­ger­tum so ver­klemmt und schein­hei­lig wie beim Thema Ero­tik. Das hat sich bis heute nicht geändert.

»Ja, wenn ich es nur je dahin noch brin­gen könnte, daß ich ein Werk ver­faßte – aber ich bin zu alt dazu – daß die Deut­schen mich fünf­zig, oder hun­dert Jahre hin­ter­ein­an­der recht gründ­lich ver­wünsch­ten und aller Orten und Enden mir nichts als Übles nach­sag­ten; das sollte mich außer­ma­ßen ergöt­zen. Es müßte ein präch­ti­ges Pro­dukt sein, was sol­che Effekte bei einem von Natur völ­lig gleich­gül­ti­gen Publi­kum wie das unsere her­vor­brächte«, zitiert ihn Johan­nes Daniel Falk in einem Gespräch, das 1808 statt­fand und in dem er den schon Berühm­ten eigent­lich zu einem Gespräch über die »gerech­tere Nach­welt« ani­mie­ren wollte.Und Jens-Fietje Dwars hat das Stück nur zu gern auf­ge­nom­men in seine Samm­lung Goe­the­scher Ero­tika, die viel­leicht bei dem einen oder ande­ren hübsch in der Glas­vi­trine ver­schwin­den wird.

Aber eigent­lich ist es der Ver­such einer Reha­bi­li­ta­tion eines gera­dezu kas­trier­ten Dich­ters, der mal als Stür­mer und Drän­ger begann und als Tep­pich­vor­le­ger pro­fes­so­ra­ler Wei­he­re­den endete. Dabei lagen die Deut­schen eigent­lich schon rich­tig damit, dass sie den Wei­ma­rer Dich­ter gern hat­ten. Aber nicht für sei­nen »Tasso« und nicht für seine »Iphi­ge­nie«, zwei Stü­cke, die auch dem Wei­ma­rer Hof nur zu sehr gefielen.

Aber das ist – um mal Freud ins Spiel zu brin­gen – der sub­li­mierte Dich­ter. Der geadelte Minis­ter, der nur zu gut wusste, dass der Wei­ma­rer Hof und die Gunst des Her­zogs ihm über­haupt die Spiel­räume gaben, krea­tiv sein zu kön­nen – und ande­rer­seits aber auch freund­lich und bestimmt dafür sorg­ten, dass nur ein fein gesäu­ber­ter Goe­the in die Öffent­lich­keit kam.

Wie das funk­tio­nierte und warum selbst in moder­nen Goe­the-Aus­ga­ben die alten Fehl­stel­len und Strei­chun­gen erhal­ten blie­ben, erzählt Dwars in sei­nem Nach­wort, in dem er begrün­det, warum auch Goe­the-Stü­cke ins Buch gefun­den haben, die man eher nicht als seine heim­li­chen Ero­tika bezeich­nen würde – die Wal­pur­gis-Sze­nen aus dem Faust zum Bei­spiel, aber auch Gedichte wie »Will­kom­men und Abschied«.

Also ganz belieb­ter Schul­stoff. Nur dass von empör­ten Eltern und begeis­ter­ten Schul­kin­dern nichts zu hören und zu lesen ist, die darin nun aus­ge­rech­net Ero­tik ver­mu­ten. Im bür­ger­li­chen Sinn ist es ja auch keine, was Dwars gerade an der Wal­pur­gis­nacht sehr tref­fend erläutert.

Denn ein Stand, der kein ehr­li­ches und offe­nes Ver­hält­nis zur eige­nen Ero­tik hat, der schafft nicht nur ver­bo­tene Räume und eine Ver­klä­rung der als obs­zön dekla­rier­ten sexu­el­len Vor­gänge, der macht Sex zur Ware und schafft genau das, wovon unsere heu­tige Gesell­schaft über­ge­nug hat: Por­no­gra­phie auf allen Kanä­len und in allen Preis­klas­sen. Aber Por­no­gra­phie ist nun ein­mal vor allem Macht­miss­brauch: Der Ver­kauf der mensch­lichs­ten Dinge auf einem Markt, auf dem »Sex« nur noch kon­su­miert wird – mit allen Frus­tra­tio­nen. Denn damit wird der Mensch samt sei­nen Trie­ben zur Ware.

So gese­hen begeg­net uns in die­sem Goe­the auf ein­mal ein Mann, der die Ver­kaufs­me­cha­nis­men des gerade begin­nen­den Zeit­al­ters nur zu gut begriff. Und indem Dwars diese Sze­nen aus Faust I mit dem unter Ver­schluss gehal­te­nen Frag­ment »Hans­wurst Hoch­zeit« ver­gleicht, wird recht deut­lich, wie Goe­the in die­sen aus­ufern­den Sze­nen auf dem Blocks­berg die ver­lo­gene Moral sei­ner Zeit- und Stan­des­ge­nos­sen persiflierte.

Und zwar so gründ­lich, dass sie es nicht mal merk­ten, auch wenn die Hexen­sze­nen dann in vie­len »Faust«-Inszenierungen spä­ter gekürzt und ent­schärft wur­den. Wenn auch eher mit der Begrün­dung, dass man dem ach so fei­nen Publi­kum der­glei­chen nicht zumu­ten könnte. Oh ja, das selbst­ge­rechte Bür­ger­tum hat sich selbst immer schon gern wie unmün­dige Kin­der behan­delt, sich schä­mig gestellt und gerade des­halb heim­lich Por­no­gra­phie konsumiert.

Aber dass Goe­the mit die­sen Sze­nen genau diese Hal­tung aufs Korn nahm, fiel augen­schein­lich nie­man­dem auf. Auch wenn es durch­aus zu den bekann­ten Erzäh­lun­gen um Goe­the gehört, wie spät er erst auf sei­ner ers­ten Reise (Flucht) nach Ita­lien die befreite sexu­elle Liebe erlebte, was sich ja in sei­nen »Römi­schen Ele­gien« und den »Vene­zia­ni­schen Epi­gram­men« erspü­ren ließ.

Wer gut war im Ent­zif­fern poe­ti­scher Chif­fren, hat auch schon mehr darin gele­sen, auch wenn Goe­the – durch Schil­ler und das kleine Redak­ti­ons­kol­lek­tiv der »Horen« bera­ten – die deut­li­che­ren Stü­cke zurück­be­hielt. Auf die Gefahr hin, dass sie nach sei­nem Tode dann doch der Zen­sur sei­ner Nach­kom­men und ihrer Erben zum Opfer fal­len wür­den. Denn dar­über, wie starr und wirk­sam das Kor­sett der Prü­de­rie nicht nur in Wei­ma­rer Lan­den wirkte, machte er sich keine Illusionen.

Und so sind einige die­ser Stü­cke nur mit sehr viel Glück auf uns gekom­men, auch wenn sie es zumeist eben nicht in die übli­chen Goe­the-Aus­wahl­bände oder die Gesamt­aus­ga­ben schafften.

Was Dwars durch seine durch­aus eigen­wil­lige und bewusste Aus­wahl gelingt, ist natür­lich jenen ande­ren Goe­the zu zei­gen, der als wirk­li­cher Mensch seine Lie­bes­er­fah­run­gen und ero­ti­schen Ent­de­ckun­gen machte. Und zwar kei­nes­wegs außer­ge­wöhn­li­che, wenn man annimmt, dass das den meis­ten Män­nern so geht. Nur dass die meis­ten das eben nicht so wort­mäch­tig in Verse brin­gen kön­nen. Zur prü­den Por­no­gra­phie unse­rer Zeit gehört nun ein­mal auch die all­seits herr­schende Spach­un­fä­hig­keit der meis­ten Männer.

Ja, auch jener Tröpfe, die der­zeit über­all her­um­mau­len, sie dürf­ten nicht alles sagen und ihre Mei­nung würde unter­drückt, von wem auch immer. Ja, wer nicht lebt, der kommt auch nicht zur Spra­che. Der wird über Liebe und Sex nur die paar übli­chen Bro­cken ken­nen, mit denen sich das Kunst­pro­dukt off­line und online ver­kau­fen lässt: Die schnellste Befrie­di­gung zum bes­ten Preis. Mehr nicht.

Was Dwars nicht erläu­tert, weil das schlicht einen zwei­ten, völ­lig ande­ren Aus­wahl­band bedin­gen würde, ist die Sache mit der Eman­zi­pa­tion. Die klingt nur ein wenig an, wenn der Her­aus­ge­ber Goe­thes Pro­bleme schil­dert, seine Wei­ma­rer Geliebte Chris­tiane Vul­pius hei­ra­ten zu dür­fen, denn sie war nun ein­mal nicht »stan­des­ge­mäß« (und sage nie­mand, dass das heute anders ist). Doch irgend­eine stan­des­ge­mäße Schnepfe vom Wei­ma­rer Hof wollte Goe­the nicht.

Was nur zu ver­ständ­lich ist. Und die Frauen von Stand, die ihn fas­zi­nier­ten, die waren in der Regel schon (stan­des­ge­mäß) ver­hei­ra­tet. Die konnte er nur in Brie­fen und Gedich­ten umschwär­men oder in regem Brief­wech­sel die Nähe suchen, die ansons­ten nicht mög­lich war. Das wäre der eman­zi­pa­to­ri­sche Teil in Goe­thes Leben: seine Liebe und Hoch­ach­tung für kluge Frauen, deren Geist und Lebens­klug­heit er zu schät­zen wusste.

Was ja bekannt­lich nicht immer mit der sexu­el­len Anzie­hung in eins fällt. Die Liebe fällt eben oft nicht dahin, wo die Ver­nunft ihre Freu­den fin­det. Obwohl das eigent­lich kein Gegen­satz ist. Mit Faus­tina in Rom hat Goe­the ja jene Ent­de­ckun­gen gemacht, die ihn danach wie erlöst sein lie­ßen: dass man die Frauen auch ein­fach des­halb lie­ben kann, weil sie die Freude am Kör­per und am Lie­ben tei­len. Da rät­sel­ten dann natür­lich die Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler: Hat er wirk­lich zum ers­ten Mal auf die­ser Italien-Reise …?

Oder war es auch hier ganz anders: Hat er hier zum ers­ten Mal erlebt, dass man Frauen nicht kau­fen muss, um sie lie­ben zu kön­nen? Dass alle Hür­den, die die bür­ger­li­che Moral in unsere Köpfe pflanzt, auch völ­lig fal­sche Vor­stel­lun­gen über geneh­migte und »ver­bo­tene« Liebe mit sich brin­gen? Unter dem Aspekt ver­än­dert sich auch der Blick auf die Gret­chen-Tra­gö­die im »Faust« und auf Gret­chens – aus heu­ti­ger Sicht – eigent­lich unver­ständ­li­che Hand­lungs­weise, die frei­lich sehr eng mit den »christ­li­chen« Moral­vor­stel­lun­gen des Spät­mit­tel­al­ters und der Neu­zeit ver­quickt sind, jenen Vor­stel­lun­gen, die Goe­the aus gutem Grund verabscheute.

Und ganz bewusst lässt Dwars auch den bra­ven »Wert­her« weg, der sich lie­ber umbringt, als wütend zu sein auf die gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nisse, die seine Liebe unmög­lich machen. Eigent­lich ein ech­tes Jugend­drama, das Goe­the auch in ver­schie­de­nen Bal­la­den und (Scherz-)Gedichten the­ma­ti­siert hat, die vor sei­ner Ita­li­en­reise 1789 ent­stan­den. Die herr­li­chen Poin­ten dar­aus kennt heute fast jeder, etwa das »Halb zog sie ihn, halb sank er hin, / und ward nicht mehr gesehn«, aus »Der Fischer« von 1778.

Die Aus­wahl macht einen Goe­the sicht­bar, der die Ent­de­ckung der Welt der Liebe in all ihren Facet­ten immer zum dich­te­ri­schen Thema gemacht hat, der auch lernte, die Freu­den beim Sex zu besin­gen und sich die Gefühle dabei zuzu­ge­ste­hen. Und der sich dann trotz­dem ver­kniff, ein Werk zu ver­öf­fent­li­chen, das selbst die Nach­welt hätte flu­chen las­sen. Die Nach­welt hat sich ent­spre­chend benom­men und ihn zum Natio­nal­hei­li­gen erklärt und auf den Sockel gestellt, wäh­rend sie eif­rig alles, was fortan an lebens­lus­ti­ger Lei­den­schaft in deut­schen Büchern ver­öf­fent­licht wurde, brand­markte, zen­sierte, indi­zierte oder vor Gericht schleppte.

Die erste »Gift­kam­mer« der Deut­schen Büche­rei galt ja bekannt­lich der »Schund­li­te­ra­tur«. Dar­un­ter war garan­tiert auch jede Menge schlech­ter Por­no­gra­phie. Aber Por­no­gra­phie ver­kauft sich nun ein­mal bes­tens in einer Gesell­schaft, in der die meis­ten Män­ner sich zu wirk­li­cher Liebe und erfüll­tem Lie­bes­ge­nuss nicht in der Lage sehen.

Was wie­der mit der Eman­zi­pa­tion zu tun hat, die bei ihnen noch längst nicht ange­kom­men ist. Auch weil sie – anders als Goe­the – nicht gelernt haben, dass die Frei­heit und die Erfül­lung in der Liebe immer zwei braucht. Und wäh­rend die Frauen seit über 100 Jah­ren um diese Frei­heit und Selbst­be­stim­mung kämp­fen, haben die Män­ner noch nicht wirk­lich damit begonnen.

Auch und erst recht nicht die höher­ge­bil­de­ten, die viel­leicht mehr von Goe­the gele­sen haben als nur den »Faust«. Denn natür­lich erfährt man Goe­thes durch­aus beein­dru­ckende Suche nach der unver­stell­ten Liebe nur, wenn die­ser Goe­the nicht in vor­sorg­lich gesäu­ber­ten Aus­ga­ben erscheint, die ihn gera­dezu als sex­lo­sen Gott der unschul­di­gen Gedichte aus­se­hen lässt, wäh­rend es eigent­lich in sei­nen Tex­ten über­all bro­delt und er letzt­lich selbst die ferne Liebe in emo­tio­na­ler Kraft zu fei­ern wusste im »West-öst­li­chen Diwan«.

»Tat­säch­lich durch­zieht, belebt das Motiv der Liebe Goe­thes Werk von Anbe­ginn«, schreibt Dwars. »Und des­halb ver­sam­meln wir in der vor­lie­gen­den Aus­wahl sei­ner Ero­tica auch nicht nur die lange geheim­ge­hal­te­nen Texte …« Denn die hat Goe­the nun ein­mal nicht zum »heim­li­chen Ver­gnü­gen« geschrie­ben oder um seine Gedan­ken erst mal selbst zu »erhit­zen«.

Sie pas­sen ganz orga­nisch zu sei­nen ver­öf­fent­lich­ten Arbei­ten und erhel­len tat­säch­lich den Blick dafür, wie sehr sich hier ein Hoch­be­gab­ter zeit­le­bens mit den engen Moral­vor­stel­lun­gen sei­ner Zeit aus­ein­an­der­setzte, die aber erstaun­li­cher­weise noch viel stär­ker die Moral­vor­stel­lun­gen unse­rer Gegen­wart sind. Das nennt man wohl: modern. Auch wenn es bei genaue­rer Betrach­tung zutiefst tra­gisch ist und nicht nur weni­ger Sex bedeu­tet, son­dern auch weni­ger Liebe. Denn bei bei­dem braucht es die Fähig­keit und Offen­heit dazu. Nur kau­fen kann man sie nicht.

Und fast hätte ich es ver­ges­sen: Illus­triert ist der Band mit wirk­lich ero­ti­schen Gra­fi­ken von Gerd Macken­sen, die eigent­lich genau das zei­gen, was Goe­the manch­mal nur andeu­tet, bis hin zur selbst­be­wusst die Liebe for­dern­den Frau.

 

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