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Thüringen im Nationalsozialismus
Wulf Kirsten
Wulf Kirsten (Hg.): Wandern über dem Abrund. Jakob van Hoddis nachgegangen. Eine Hommage, Bucha 1999.
Uber die sieben Jahre, die Jakob van Hoddis in Thüringen verbrachte, ist bisher kaum etwas bekannt geworden. Überliefert ist lediglich der bei Paul Pörtner abgedruckte Brief David Baumgardts (1890–1963), wonach Hoddis Anfang 1919 (Februar oder März) bei ihm in Erfurt, Hochheimer Straße 51 auftauchte, abgerissen, »schwer verwahrlost« und verstört. Er hatte einen Tagesmarsch zu Fuß zurückgelegt. Das am Rande des Thüringer Waldes gelegene Dorf Frankenhain, wo er seit 1915 in Privatpflege lebte, liegt etwa 30 bis 40 km entfernt. Nach einigen Tagen, Baumgardt hatte Hoddis in einem kleinen Gasthof einquartiert, brachte ihn sein jüngerer Bruder nach Frankenhain zurück. Dieser Ausbruchsversuch blieb der einzige, den Hoddis zwischen 1915 und 1922 unternahm.
Nachdem die Elgersburger Heilanstalt 1915 aufgelöst wurde, vermittelte der Anstaltsarzt Dr. Moritz Bruhn seinen Pflegling Hoddis einem seiner Bekannten, dem »Rektor« Emil Siegling (1872 — 1946) in Frankenhain. Er lebte mit seiner Familie im Schulhaus; anfängliche Bedenken, solch einen sonderlichen jungen Mann in die Familie aufzunehmen, wußte Dr. Bruhn zu zerstreuen. Er bescheinigte Hoddis völlige Harmlosigkeit. — Der Aufenthalt in Elgersburg ist bisher nirgendwo erwähnt worden. Nachzutragen bleibt, wann Hoddis dahin eingeliefert wurde.
Elisabeth Siegling, eine heute in Arnstadt lebende Tochter Emil Sieglings, erzählte, wie Hoddis im Hause ihrer Eltern lebte. Anfangs bewohnte er ein separates Zimmer im ersten Stock. Da er aber nachts unablässig im Zimmer auf und ab lief und nicht müde wurde, den Tisch hin und her zu rücken, erhielt er ein Zimmer im Erdgeschoß, wo sich auch die Schulräume befanden. Tagsüber ging er meist spazieren. Wegen der großen Geschwindigkeit, die er dabei entwickelte, nannten ihn die Leute im Ort den »Schnelläufer«. Die alten Dorfbewohner erinnern sich noch heute der vehementen Spaziergänge, stets den Stock im gewinkelten Arm, fast immer die gleiche Tour, im großen Bogen um den Ort herum. Er lief aber auch unentwegt um ein Kiefernwäldchen oder querfeldein, immer allein. Höchstens einmal in Begleitung seiner Mutter, die ihn ab und an besuchte. Manchmal begleitete er auch den Rektor nach Ohrdruf. Seine ständige innere Unruhe trieb ihn auch bis in die Gegend von Elgersburg. Dort saß er einmal in den Jahren des Ersten Weltkrieges in einer Kiesgrube oder in einem Steinbruch und schrieb, wie er es ständig tat, auf Zettel. Die Arbeiter glaubten, in ihm einen Spion zu sehen. Der schwerhörige Hoddis hörte ihre Anrufe nicht und wurde daraufhin geohrfeigt. Zufällig kamen Leute vorbei, die den »Spion« kannten und die »Verwechslung« richtigstellten. Von diesem Zwischenfall erzählte Hoddis selbst den Sieglings kein Sterbenswort. Sie erfuhren es erst von anderen Leuten.
Von seinen Ausflügen brachte Hoddis gewöhnlich Steine, Glasscherben und ähnliche Dinge mit nach Hause. Seine Funde verwahrte er in einem Karton, der hin und wieder geleert wurde. Er fragte dann sehr bekümmert: »Wo sind meine Edelsteine hin?«
Anfangs hatte Hoddis stets etwas Geld bei sich. Da er jedoch innerhalb kurzer Zeit alles wegschenkte, meist an arme Leute, die er im Wald beim Holzsammeln traf, erhielt er später pro Tag eine Mark, für die er sich regelmäßig Zigaretten kaufte.
Körperliche Arbeit hat Hoddis in Frankenhain nicht verrichtet. Das Gärtnerdasein ist eine Legende. Frau Davidsohn hatte geglaubt, ihr Sohn könne sich an der Gartenarbeit der Sieglings beteiligen. Der erste Versuch zeigte, daß dies nicht möglich war. Beim Jäten zog er alle Pflanzen mit heraus, hielt sie hoch und fragte: »Ist das Unkraut?«
Wurde Hoddis angesprochen, antwortete er meist nur mit ja oder nein. Ebenso einsilbig verhielt er sich zum Beispiel auch, wenn er dem Rektor nachts auf dem Schulhofe begegnete, den er, wenn die Haustür verschlossen war, durch einen Sprung aus dem Fenster erreichte. Er sagte dann nur »guten Abend« und ging ohne jedes weitere Wort ins Haus zurück. Versammelten sich die Schüler vor Unterrichtsbeginn auf dem Hof, gesellte er sich oft dazu. Sobald er jedoch merkte, daß einer der umstehenden Schüler versuchte, ihn zu foppen, lief er blitzschnell davon. Nach seinem Alter befragt, antwortete er prompt, und das mit den Jahren unverändert: «Achtundzwanzig!« Die Nachricht vom Tode seines Bruders, der an der Front gefallen war, nahm er völlig teilnahmslos hin. Als 1916 eine Tochter Emil Sieglings konfirmiert wurde, schenkte er ihr einen Spielzeugbaukasten. Oft stand er in der Küche vorm Ofen, als fröre ihn, plötzlich schlug er eine laute Lache an.
Den Sieglings war bekannt, daß Hoddis literarisch gearbeitet hatte, auch von dem Pseudonym (in seinem Hut befanden sich noch die Initialen J. v. H.) wußten sie. 1922 schien die Pflege aus hygienischen Gründen nicht länger zumutbar. Nach seinem Weggang wurden alle seine Skripten, die sehr verschmutzt gewesen sein sollen, verbrannt. Erhalten hat sich aus dieser Zeit, soweit zu sehen war, nur eine Eintragung im Poesiealbum von Elisabeth Siegling aus dem Jahre 1915.
Während seiner Jahre in Frankenhain wurde Hoddis nicht müde zu erklären: »Ich habe am Wannsee Rosen gepflückt und weiß nicht, wem ich sie schenken soll.«
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