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Christoph Schmitz-Scholemann
Erstdruck in Palmbaum - literarisches Journal aus Thüringen, Heft 2/2017 / Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.
Gelesen von Christoph Schmitz-Scholemann
Ein neuer Simplicissimus?
Die Hauptperson des Romans heißt Peter Holtz, dem auch die Rolle des Ich-Erzählers zugewiesen ist. Er ist 1962 in der DDR geboren und wir lernen ihn kurz vor seinem zwölften Geburtstag kennen. Auf der Terrasse eines Ausflugslokals hat er sich, soeben aus dem Kinderheim ausgerissen, ordentlich sattgegessen und versucht nun die Kellnerin davon zu überzeugen, dass er die Rechnung nicht bezahlen muss. »Geld ist nicht wichtig«, sagt er, und das ist nicht nur eine Ausrede, sondern seine feste Überzeugung. Er nimmt die Verheißungen des Kommunismus, die er im Kinderheim kennengelernt hat, für die einzig wahre Münze »Warum soll mir unsere Gesellschaft das Geld erst aushändigen, wenn dieses Geld über kurz oder lang sowieso bei ihr landet?« Der kompromisslose Glaube an das Gute ist der Hauptcharakterzug des Peter Holtz.
Mit dieser »sancta simplicitas« ausgestattet schickt Ingo Schulze seinen Protagonisten wie in einem Experiment durch die deutsche Wirklichkeit von 1974 bis 1998. Berlin ist das räumliche Zentrum des Romans, ein bißchen auch Dresden, daneben gibt es Abstecher, zB nach Südfrankreich. Äußerlich gesehen wandelt sich Peter Holtz auf seinem nicht unfallfreien Weg durch die Zeitgeschichte: Vom glühenden Kommunisten zum frommen Christen, später, nach 1989, wird er ein Verteidiger von Marktwirtschaft und liberaler Demokratie. Ein Opportunist ist er aber sicher nicht. Ob als christlicher Punk-Sänger, als Liebhaber, Politikberater oder als Immobilienmogul: In allen Rollen, die ihm der Zufall beschert, geht es ihm ausschließlich um das Gute, von dem er in allen Gesellschaftsentwürfen etwas erkennt. Das führt natürlich zu Friktionen mit der Wirklichkeit, aber, trotz oder gerade wegen seiner kindlichen Moralvorstellungen, wird Peter Holtz reich, sehr reich. Und auch im Geld sucht er die Möglichkeit des Guten – ob Mietwucher, Prostitution, ungerechte Arbeitsbedingungen, Peter Holtz hilft die Welt verbessern, wo er kann – aber irgendwie dreht sich in der Wirklichkeit dann alles wieder zum Schlechten, vielleicht auch nur zum Gewöhnlichen. Kurz vor dem Ende der Romanhandlung, enttäuscht von der Unmöglichkeit, mit Geld Gutes zu tun, erprobt Peter Holtz sein Glück in der Kunst. »Die Galerie ist die Kirche der Gegenwart, die Vernissagte eine Eucharistie«, sagt ihm jemand. Und er entschließt sich, in einer Performance den Geldfluch symbolisch zu beenden, indem er vor Publikum Geldscheine vernichtet. Die Performance wird ein Erfolg, aber nur finanziell: Ein Film wird produziert über die Performance und der Film bringt mehr Geld ein als bei der Performance vernichtet wird. Wieder hat sich die gute Absicht in ihr Gegenteil verkehrt. Aber Peter Holtz gibt nicht auf: »Unter die kreisenden Planeten der Weltzeituhr stelle ich meinen Klappstuhl auf die Datumsgrenze«, sagt er, und dann beginnt er 1000-D-Mark-Scheine zu verbrennen.
Erzählt ist der Roman in einfacher, direkter Sprache, ohne Eitelkeit, ohne ironische Arabesken, eben so, wie es dem geradlinigen Charakter des Peter Holtz entspricht. Immer wieder ist Peter Holtz überrascht von dem, was geschieht, und der Leser nimmt an der Überraschung teil. Der Blick des Peter Holtz ist nicht der Blick eines Humoristen, obwohl das was er erzählt, oft sehr komisch wirkt. Man kann viel lachen beim Lesen, aber das Lachen kommt nicht, weil der Erzähler Späße macht oder brillant formuliert, sondern weil die Welt, die er beschreibt und die Begebenheiten, in die er hineingerät, komisch sind.
Es ist ein durch und durch sympathischer Erzählton, den Ingo Schulze seinem Peter Holtz mitgegeben hat, samt einem poetischen Blick auf Dinge des Alltags: In einer Stehlampe erkennt Peter Holtz eine Giraffe, von einer Zigarette sieht er die Aschenspitze wie einen grau-weißen Rüssel hinabhängen, ein angebissenes Honigbrötchen legt sich in seinen Augen »wie ein Schiff in Seenot auf die Seite«. Und auch das überaus zahlreiche Personal des Romans ist mit Liebe zum Detail beschrieben, so, wenn sich aus dem Vollbart eines leicht ekligen Leitwolfs der Dresdner Kunstszene »ein feuchter Mund« heraus »stülpt« – dem Gesicht einer jungen Frau entgegen.
Ingo Schulzes Roman bietet nicht nur jede Menge Anreiz zum Nachdenken, sondern auch glänzende Unterhaltung, von Kapitel zu Kapitel ist man überrascht und immer gespannt wie es weitergeht. Und auch der Literaturwissenschaftler kommt auf seine Kosten. Von Cervantes’ Don Quijote über Dostojewskis Idioten bis Heinrich Bölls Clown wird er viele Gestalten aus der großen Schar mehr oder weniger heiligen Toren, die uns die Weltliteratur geschenkt hat, im Hintergrund aufleuchten sehen. Ingo Schulze ist ein überaus gelehrter und traditionsbewusster Dichter, der sich aber den Sinn für die schlichten Freuden einfacher Gemüter nicht nehmen lässt – und so bekommen auch Frank Schöbel und Mireille Matthieu mit dem Abschiedslied ihren kleinen Auftritt im Roman. Kurz gesagt: »Peter Holtz« hat das Zeug, ein deutsches Volksbuch zu werden.
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