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Jens-Fietje Dwars
Die Exkursion entstand im Rahmen eines Projekts der Literarischen Gesellschaft Thüringen e.V.
Wer den Ehrenfriedhof der Sowjetsoldaten im Ilmpark betritt, wird mit Schrecken sehen, dass hier junge Rotarmisten im Alter von 20 und weniger Jahren begraben sind, die nicht mehr im Krieg gefallen waren, sondern im Hungerwinter 1946 an Auszehrung und Krankheit starben.
Das war die Zeit, in die Gino hineingeboren wurde: als Karl-Heinz Tanzyna kam er am 24. September 1946 in Jena zur Welt. Seine leiblichen Eltern wird er nie kennen lernen, selbst von der Mutter nichts erfahren, die ihn zur Adoption an das Ehepaar Ernst und Herta Hahnemann freigab. Der Zieh-Vater gehörte zu jenen Zeissianern, die 1947 in die Sowjetunion »geholt« wurden, um als Wiedergutmachung der Kriegsschäden die optische Industrie wiederaufzubauen. Gino wuchs in der Netzstraße 61 auf, einem »Knusperhäuschen«, wie er es nannte, in der Zeissianer-Siedlung gegenüber dem Jenzig, die in den 1930er Jahren entstanden war. Noch heute geht das Gerücht, dass die Anordnung der Häuser als NS-Mustersiedlung, vom Jenzig oder Fuchsturm aus gesehen, den Reichsadler mit Hakenkreuz nachbilden sollten. Fakt ist, dass hier die Arbeitsaristokratie von Carl Zeiss Jena ihre Heimstatt fand: eine Arbeiterschaft, die auch in der DDR stolz darauf war, einer Firma mit Weltruhm anzugehören und sich mehr für technische Präzision als politische und soziale Widersprüche interessierte.
Auf Wunsch seiner Adoptivmutter hat Gino Hahnemann 1986 auf das Haus als Erbe zugunsten ihrer Nichte verzichtet. Einen Einschnitt, den er später als Enteignung empfindet. Doch das Gefühl des Fremdseins in der Familie reicht schon in die Kindheit zurück. Einem Aktenordner zur Familiengeschichte gibt er den Titel: »Die Zeit heilt alle Wunder. Eine Familien-Performance« – nicht die Wunden heilen, sondern die Wunder, die Erwartung eines Wunders oder nur einer besseren Zukunft …
1969 schrieb er das Stück ›Zuhause sterben die Ratten‹. Er beschreibt darin völlig makabere Situationen und thematisiert in expressiven Dialogen die Auseinandersetzung zwischen einer Mutter und ihrem 14jährigen Sohn, den Verrat am Kind durch Familie und Staat.
Die frühe Entwurzelung oder die Hemmnisse, als Adoptivkind Wurzeln zu schlagen, schimmert als Hintergrund eines unsteten Getriebensein immer wieder im Leben und Werk Hahnemanns durch, der sich selbst den Namen Gino gab: lebenslang auf der Suche nach »Heimat«.
Nach weiteren 200 m halb links:
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