Im Fluchtrausch oder: »Wei mer briefat« sind –Auf den Spuren von Gino Hahnemann
5 : Franz-Stein: Flucht in Elysische Gefilde oder Dekonstruktion aller Utopie?

Person

Gino Hahnemann

Ort

Weimar

Thema

Von 1945 bis zum Ende der DDR

Autor

Jens-Fietje Dwars

Die Exkursion entstand im Rahmen eines Projekts der Literarischen Gesellschaft Thüringen e.V.

Auch der Franz-Stein gehört zu den weni­ger beach­te­ten Monu­men­ten des Ilm­par­kes. Obwohl er sei­nem wich­tigs­ten Anre­ger gewid­met war. 1782 wurde der Stein für den Fürs­ten Franz III. Leo­pold von Des­sau auf­ge­stellt, der mit sei­nem Wör­lit­zer Gar­ten das Vor­bild für den Park an der Ilm geschaf­fen hatte. Seit 1776 lie­ßen Anna Ama­lia und Carl August den einst baro­cken Hof­gar­ten zu einem Eng­li­schen park mit Sicht­ach­sen und sym­bo­li­schen Monu­men­ten umbauen.

Wäh­rend sein Groß­va­ter, der »Alte Des­sauer« Leo­pold I., den Gleich­schritt in die preu­ßi­sche Armee ein­ge­führt hatte, wollte Franz III. mit der Toch­ter sei­nes Gärt­ners nach Eng­land aus­wan­dern. Weil Fried­rich II. ihn an seine Pflicht als Fürst gemahnte, holte er sich Eng­land nach Anhalt und schuf den ers­ten Eng­li­schen Gar­ten auf dem Kontinent.

Berühmt ist der »Tole­ranz­blick« an der »Gol­de­nen Urne«: in einem Sich­ten­fä­cher erschei­nen eine neo­go­ti­sche Kir­che und eine Syn­agoge gleich­wer­tig neben­ein­an­der. Frei­lich fragt sich, wie leben­dig die­ses Sym­bol wir­ken konnte, oder ob es nicht umge­kehrt die Auf­klä­rung zum schö­nen Schein erstar­ren ließ, wie jene Wäsche­rin, die den gan­zen Tag über am Wör­lit­zer See waschen musste, damit es für die Betrach­ter aus der Ferne ein schö­nes Bild ergab. War Wör­litz ein Gar­ten tat­kräf­ti­ger Auf­klä­rung oder doch eher ein Dis­ney­land des 18. Jahr­hun­derts mit Nach­bau­ten berühm­ter Rei­se­ziele und sogar eines feu­er­spei­en­den Vesuvs?

Goe­the jeden­falls ging immer mehr auf Distanz zum Des­sauer Vor­bild. Urnen, die kei­ner wirk­li­chen Toten­eh­rung gal­ten, son­dern nur als Orna­ment einer emp­find­sa­men Stim­mungs­ma­le­rei dien­ten, wur­den ihm suspekt, den Schein­cha­rak­ter von Kunst zu beto­nen, eine Frage der Redlichkeit.

In die­sem Sinne kommt ihm Gino näher:

Das ist mein Anspruch an die Kunst: etwas zu erfin­den. Im Gegen­satz zur Nach­ah­mung, der Kopie. Spra­chen erfin­den statt Spra­chen ler­nen. Die Cover-Ver­sion ist keine Kopie, son­dern eine Über­schrei­bung mit neuem Text.

Wie ein Stra­ßen­kö­ter renne ich einem Gedan­ken bis ans äußerste Hof­tor nach, wenn ich nur glau­ben kann, es könne sich um einen selbst­ge­mach­ten, erfun­de­nen Gedan­ken han­deln, der als sol­cher jetzt end­lich Wirk­lich­keit gewor­den sei. Die Wirk­lich­keit als eine erfun­dene. Das ist meine Rea­li­tät. Des­halb immer meine Sucht wie nach der Droge (nach) einer außer­halb die­ser exis­tie­ren­den, nicht (von mir) erfun­de­nen. Der Rea­li­tät der ande­ren. 26.5.99

Und so begrün­det er auch sei­nen geplan­ten Gedichtband:

 Zur Jahr­hun­dert­wende, wenn es nach der abge­lau­fe­nen Son­nen­fins­ter­nis vom 12. August 1999, …, tat­säch­lich mit der Erde wei­ter­geht, wird es den­noch nicht mehr so schmeich­le­risch-mild damit wei­ter­ge­hen, den küh­nen, außer­ir­di­schen Erre­ger der Son­nen­fins­ter­nis, den Mond, mit Goe­thes Schmus ›Fül­lest wie­der Busch und Tal… !‹ in die eige­nen Fins­ter­nisse zu bet­teln, für die es längst schon keine geeig­ne­ten Täler mehr gibt und auch keine Büsche. So soll es, in mei­nem und in sei­nem Selbst­ver­ständ­nis heißen:

ALLE WEGE NACH ROM ÜBER WEIMAR KANNST DU VERGESSEN, die

1.) einen Aus­schnitt mei­ner thü­rin­ger Erfah­run­gen dar­stel­len, vor einem Hin­ter­grund, den ich sonst nicht weiß. Und schon gar nicht Ihnen als Minis­te­rium plau­si­bel machen könnte. Aber tort­z­dem und inner­halb in mir stän­dig als etwas Geis­ti­ges erör­tere, näm­lich, was ich vor Lang­er­weile mit mei­ner Erzie­hung aus der Wei­ma­rer Klas­sik, die auf mir sit­zen­ge­blie­ben ist, anstel­len könnte: an ein Ideal zu glau­ben, das

2.) (m)eine Sicht auf zwei­tau­send­jäh­rige, römisch-euro­pä­isch gebun­dene, künst­le­ri­sche Recher­chen & Ent­würfe aus­ma­chen und

3.) sich in Para­do­xien aus Dauer und Vor­über­ge­hen­dem win­dig wie das Wet­ter ver­än­der­ten, von dem nie­mand spre­chen will als Literatur.

(…)

So wie bis­her kann die Flucht in die mal­l­or­ci­ni­schen oder kana­ri­schen Müll­ge­biete Deutsch­lands in Spa­nien nicht enden. Die Leute müs­sen wie­der an Goe­the glau­ben und nach Ita­lien zurück!

Wie die Geschichte lehrt, gelang es schon ein­mal, die Mensch­heits­mas­sen mit einem Goe­the-Zitat nach Ita­lien zu locken.

So wird es noch ein zwei­tes Mal gelin­gen. Wenn nie­mand mehr an Goe­thes abge­ges­se­nes, bekannt-schwär­me­ri­sches Ita­li­en­bild, das vom Kennst du das Land wo die Zitro­nen blühn, das jahr­hun­de­lang den Appeni­nen-Tou­ris­mus bis zum Über­druß geschürt hatte, glau­ben will, muß eben ein ande­res her.

Ein wider­sprüch­li­che­res, den Wider­sprü­chen und Para­do­xien der Gegen­wart gerecht wer­den­des, aus dem man erkennt, daß ein Dich­ter sich auch an der Rea­li­tät ori­en­tie­ren will und kann. Weil der ita­lie­ni­schen Wahr­heit nicht mit dem Sym­bo­lis­mus hei­mat­lich schwär­me­ri­scher Schwei­ne­reien bei­zu­kom­men ist. Son­dern zutref­fend nur mit Wirk­lich­keit! Wer wollte immer nur in [Illu­sio­nen] leben!? In unse­rer heu­ti­gen Zeit, wo längst die Wirk­lich­keit Illu­sion ist!

Und auch dazu hält für jeden gut­gläu­bi­gen Deut­schen der Groß­dich­ter Goe­the sein Schärf­lein bereit: näm­lich den vier­ten Rap aus den Vene­zia­ni­schen Epigrammen!

 

100 m wei­ter Abbie­gung nach rechts unten:

 Im Fluchtrausch oder: »Wei mer briefat« sind –Auf den Spuren von Gino Hahnemann:

  1. Hauptgebäude der Bauhaus-Universität: Pantherei – Geworfene im Fluss der Zeit
  2. Steintisch: Die Zeit heilt alle Wunder
  3. Petőfi-Denkmal: Vom Wandel des Widerspruchs
  4. In der Ferne erscheint das Römische Haus: Quo vadis? Oder wohin sehnen?
  5. Franz-Stein: Flucht in Elysische Gefilde oder Dekonstruktion aller Utopie?
  6. Bank mit Blick zum Goethe-Gartenhaus: Glotzt nicht so romantisch!
  7. Der Schlangenstein: der kriechende (Un-)Geist von Weimar
  8. Shakespeare: Der Tod ist ein Narr
  9. Liszt-Denkmal: Gesang unter gebrochenen Fingern
  10. Parkhöhle: Ginos laufende Bilder im Untergrund
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