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Jens-Fietje Dwars
Die Exkursion entstand im Rahmen eines Projekts der Literarischen Gesellschaft Thüringen e.V.
Nach 1989 wurde Gino wie alle Dichter vom Prenzlauer Berg plötzlich scheinbar berühmt, wurde zu einer Kultfigur der – vergangenen – Szene, die sich selbst immer mehr mit Legenden umgab und als legendäre Bewegung verklärt wurde.
Bei GALREV, dem spiegelverkehrten Verlag, und in Gerhard Wolfs Janus press erschienen nun vier Bücher von ihm: ALLEGORIE GEGEN DIE VORSCHNELLE MEHRHEIT, mit Illustrationen von Helge Leiberg, 1991; EXOGENE ZERRINNERUNG, Texte und Fotos, 1994; DAS VERSCHWINDEN GEKRÜMMTER FLÄCHEN IN EINER EBENE, mit Grafiken von Sabine Jahn, 1997 und SIZILIEN SCHWEIGT. PLATONISCHE PROSA mit eigenen Illustrationen, 1997.
1990/1991 war er DDR-Gaststipendiat der Akademie Schloß Solitude, Stuttgart. Studienaufenthalte in Istanbul und Rom sowie 1991 in Paris und Lissabon folgten, in der zweiten Jahreshälfte war er Alfred-Döblin-Stipendiat in Wewelsfleth. 1998 erhielt Gino eines der höchst dotierten deutschen Künstlerstipendien in der Casa Baldi in Olevano Romano, zur Villa Massimo gehörend. Nun schienen all seine Träume oder Sehnsüchte nach Anerkennung erfüllt. Doch Gino wurde damit nicht glücklich.
1998 beginnt sein Tagebuch »Die Schleifspur des Geschwindigkeitsmessers im Fluchtrausch. Retrospektive Vergewisserungen« mit dem Gefühl, als Staats-Dichterstipendiat in Rom deplaziert zu sein.
Zumal die ursprüngliche Szene am Prenzlauer Berg doppelt zerfiel: die Künstler gingen in den sich nun öffnenden Räumen getrennte Wege und als autonome Lebenswelt wird der Stadtbezirk plötzlich »in«, wird von Wessis überformt und verkommt zum schicken Touristenmagnet.
In dieser Situation schrieb Gino einen ironischen Projekt-Antrag an das Thüringer Kultus-Ministerium, der seine Ästhetik im mehrfach gebrochenen Wortspiel offenbart:
Lärmen um Nichts
Antrag auf ein Schriftstellerstipendium
beim Thüringer Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur, Juri-Gagarin-Ring 158, 99084 Erfurt, am 28. 7. 1999
Sehr geehrte Mitarbeiter! Freundinnen, Genossen!
Bevor ich mich meinem Alterswerk widme und mich mit dem armen Parzival, der, verletzt, seine Heimat verspielt hat und sie – vierleicht oder fünfleicht deshalb strotzdem immer noch und manchmal, findend, immer wieder – sucht, in einen sechstausendjährigen Gral aus Heimwerker-Marmor, Elefantenbein und Müll südlich Neapels zurückzieh, möchte ich Ihrer und unserer Heimat, einschließlich dem ganzen Land Thüringen noch einen letzten Grals-Gefallen tun und zur Zerstreuung kommender Lebensjahre mit nachfolgend konzeptioniertem Heimatgedicht Land und Leute in ihrer wie meiner Unschuld erbauen. TTT Ich sende ihnen meine Unterlagen gemäß der Richtlinie zur Förderung von Künstlern und literarischen Projekten in den Bereichen Kunst, Literatur, Musik, Darstellende Kunst und Film vom 20. 9. 96, um mich für ein Arbeitsstipendium in der Sparte Literatur als Festbetragsfinanzierung von monatlich 1.500 DM zu bewerben. Es ist ihnen freigestellt, mir 2000 DM oder ein paar (tausend!) Mark mehr zu bewilligen. Ich bin doch nicht kleinlich.(…)
Als Zugabe möchte ich sie allerdings noch darauf aufmerksam machen, für mich und einen mir verbundenen Studenten im ersten Semester an der Heimwerkermarkt-Universität mit dem großen Namen, der seine Übernachtungen in Weimar, (…), unanständig angezogen auf einer unbeheizten Tiefurter Parkpank zur Schande aller dort verweilenden Kurschatten verbringt, eine Sechsjahres-Miete für zwei Zimmer wenigstens, mit Bad und Ilmparkblick im Hotel Hilton an der Belvederer Allee zu gönnen.
Als frommer Italiener aus Ital-Jena müsste ich mich sonst schämen, meine mafiösen Ösen nicht für einen der talentiertesten Bankräuber verwendet zu haben, für den ich mich schon im Interesse der Stadtsparkasse berufen fühle, ihm für die begangenen etwas an‑, wie noch in seiner Schuld stehenden Jahre vorzuzahlen, für die ich Sie zur Verhinderung weiterer Missetaten als vorbildliches, rauchendes Sühnezeichen gemäß der Richtlinie zur Förderung von Künstlern und literarischen Projekten in den Bereichen Kunst, Literatur, Musik, Darstellende Kunst und Film vom 20.9.96 verantwortlich mache.
Weil ich, wie sie inzwischen wissen, oder hinsichtlich meines Dialektes geahnt haben, ein Thüringer bin und sonst zu nichts anderem tauge.
So wie ich zu nichts und niemandem zugehöre als zu mir selbst, und deshalb oft den Halt verliere oder nicht mehr ganz genau weiß, wozu ich eine Heimat nötiger hätte, als mir selbst vom Halse zu fallen wie mein eigener Kopf. So wenigstens wie einerlei, Weimar kommt als Wort im Titel aller meiner Projekte in Ewigkeit vor.
(.…)
In Folge meiner bisher erschienenen Bände (…) habe ich vor, in einem der nächsten Jahre einen entscheidend neuen Lyrik-Band mit dem Titel ALLE WEGE NACH ROM ÜBER WEIMAR KANNST DU VERGESSEN vorzulegen.
Abbiegen nach links, 200 m Richtung Ilmufer hinab:
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