Im Fluchtrausch oder: »Wei mer briefat« sind –Auf den Spuren von Gino Hahnemann
4 : In der Ferne erscheint das Römische Haus: Quo vadis? Oder wohin sehnen?

Person

Gino Hahnemann

Ort

Weimar

Thema

Von 1945 bis zum Ende der DDR

Autor

Jens-Fietje Dwars

Die Exkursion entstand im Rahmen eines Projekts der Literarischen Gesellschaft Thüringen e.V.

Nach 1989 wurde Gino wie alle Dich­ter vom Prenz­lauer Berg plötz­lich schein­bar berühmt, wurde zu einer Kult­fi­gur der – ver­gan­ge­nen – Szene, die sich selbst immer mehr mit Legen­den umgab und als legen­däre Bewe­gung ver­klärt wurde.

Bei GALREV, dem spie­gel­ver­kehr­ten Ver­lag, und in Ger­hard Wolfs Janus press erschie­nen nun vier Bücher von ihm: ALLEGORIE GEGEN DIE VORSCHNELLE MEHRHEIT, mit Illus­tra­tio­nen von Helge Lei­berg, 1991; EXOGENE ZERRINNERUNG, Texte und Fotos, 1994; DAS VERSCHWINDEN GEKRÜMMTER FLÄCHEN IN EINER EBENE, mit Gra­fi­ken von Sabine Jahn, 1997 und SIZILIEN SCHWEIGT. PLATONISCHE PROSA mit eige­nen Illus­tra­tio­nen, 1997.

1990/1991 war er DDR-Gast­sti­pen­diat der Aka­de­mie Schloß Soli­tude, Stutt­gart. Stu­di­en­auf­ent­halte in Istan­bul und Rom sowie 1991 in Paris und Lis­sa­bon folg­ten, in der zwei­ten Jah­res­hälfte war er Alfred-Döblin-Sti­pen­diat in Wewels­fleth. 1998 erhielt Gino eines der höchst dotier­ten deut­schen Künst­lersti­pen­dien in der Casa Baldi in Ole­vano Romano, zur Villa Mas­simo gehö­rend. Nun schie­nen all seine Träume oder Sehn­süchte nach Aner­ken­nung erfüllt. Doch Gino wurde damit nicht glücklich.

1998 beginnt sein Tage­buch »Die Schleif­spur des Geschwin­dig­keits­mes­sers im Fluch­t­rausch. Retro­spek­tive Ver­ge­wis­se­run­gen« mit dem Gefühl, als Staats-Dich­ter­sti­pen­diat in Rom depla­ziert zu sein.

Zumal die ursprüng­li­che Szene am Prenz­lauer Berg dop­pelt zer­fiel: die Künst­ler gin­gen in den sich nun öff­nen­den Räu­men getrennte Wege und als auto­nome Lebens­welt wird der Stadt­be­zirk plötz­lich »in«, wird von Wes­sis über­formt und ver­kommt zum schi­cken Touristenmagnet.

In die­ser Situa­tion schrieb Gino einen iro­ni­schen Pro­jekt-Antrag an das Thü­rin­ger Kul­tus-Minis­te­rium, der seine Ästhe­tik im mehr­fach gebro­che­nen Wort­spiel offenbart:

Lär­men um Nichts

Antrag auf ein Schriftstellerstipendium

beim Thü­rin­ger Minis­te­rium für Wis­sen­schaft, For­schung und Kul­tur, Juri-Gaga­rin-Ring 158, 99084 Erfurt, am 28. 7. 1999

Sehr geehrte Mit­ar­bei­ter! Freun­din­nen, Genossen!
Bevor ich mich mei­nem Alters­werk widme und mich mit dem armen Par­zi­val, der, ver­letzt, seine Hei­mat ver­spielt hat und sie – vier­leicht oder fünfleicht des­halb strotz­dem immer noch und manch­mal, fin­dend, immer wie­der – sucht, in einen sechs­tau­send­jäh­ri­gen Gral aus Heim­wer­ker-Mar­mor, Ele­fan­ten­bein und Müll süd­lich Nea­pels zurück­zieh, möchte ich Ihrer und unse­rer Hei­mat, ein­schließ­lich dem gan­zen Land Thü­rin­gen noch einen letz­ten Grals-Gefal­len tun und zur Zer­streu­ung kom­men­der Lebens­jahre mit nach­fol­gend kon­zep­tio­nier­tem Hei­mat­ge­dicht Land und Leute in ihrer wie mei­ner Unschuld erbauen. TTT Ich sende ihnen meine Unter­la­gen gemäß der Richt­li­nie zur För­de­rung von Künst­lern und lite­ra­ri­schen Pro­jek­ten in den Berei­chen Kunst, Lite­ra­tur, Musik, Dar­stel­lende Kunst und Film vom 20. 9. 96, um mich für ein Arbeits­sti­pen­dium in der Sparte Lite­ra­tur als Fest­be­trags­fi­nan­zie­rung von monat­lich 1.500 DM zu bewer­ben. Es ist ihnen frei­ge­stellt, mir 2000 DM oder ein paar (tau­send!) Mark mehr zu bewil­li­gen. Ich bin doch nicht kleinlich.

(…)

Als Zugabe möchte ich sie aller­dings noch dar­auf auf­merk­sam machen, für mich und einen mir ver­bun­de­nen Stu­den­ten im ers­ten Semes­ter an der Heim­wer­ker­markt-Uni­ver­si­tät mit dem gro­ßen Namen, der seine Über­nach­tun­gen in Wei­mar, (…), unan­stän­dig ange­zo­gen auf einer unbe­heiz­ten Tie­fur­ter Park­pank zur Schande aller dort ver­wei­len­den Kur­schat­ten ver­bringt, eine Sechs­jah­res-Miete für zwei Zim­mer wenigs­tens, mit Bad und Ilm­park­blick im Hotel Hil­ton an der Bel­ve­de­rer Allee zu gönnen.

Als from­mer Ita­lie­ner aus Ital-Jena müsste ich mich sonst schä­men, meine mafiö­sen Ösen nicht für einen der talen­tier­tes­ten Bank­räu­ber ver­wen­det zu haben, für den ich mich schon im Inter­esse der Stadt­spar­kasse beru­fen fühle, ihm für die began­ge­nen etwas an‑, wie noch in sei­ner Schuld ste­hen­den Jahre vor­zu­zah­len, für die ich Sie zur Ver­hin­de­rung wei­te­rer Misse­taten als vor­bild­li­ches, rau­chen­des Süh­ne­zei­chen gemäß der Richt­li­nie zur För­de­rung von Künst­lern und lite­ra­ri­schen Pro­jek­ten in den Berei­chen Kunst, Lite­ra­tur, Musik, Dar­stel­lende Kunst und Film vom 20.9.96 ver­ant­wort­lich mache.

Weil ich, wie sie inzwi­schen wis­sen, oder hin­sicht­lich mei­nes Dia­lek­tes geahnt haben, ein Thü­rin­ger bin und sonst zu nichts ande­rem tauge.

So wie ich zu nichts und nie­man­dem zuge­höre als zu mir selbst, und des­halb oft den Halt ver­liere oder nicht mehr ganz genau weiß, wozu ich eine Hei­mat nöti­ger hätte, als mir selbst vom Halse zu fal­len wie mein eige­ner Kopf. So wenigs­tens wie einer­lei, Wei­mar kommt als Wort im Titel aller mei­ner Pro­jekte in Ewig­keit vor.

(.…)

In Folge mei­ner bis­her erschie­ne­nen Bände (…) habe ich vor, in einem der nächs­ten Jahre einen ent­schei­dend neuen Lyrik-Band mit dem Titel ALLE WEGE NACH ROM ÜBER WEIMAR KANNST DU VERGESSEN vorzulegen.

Abbie­gen nach links, 200 m Rich­tung Ilmu­fer hinab:

 Im Fluchtrausch oder: »Wei mer briefat« sind –Auf den Spuren von Gino Hahnemann:

  1. Hauptgebäude der Bauhaus-Universität: Pantherei – Geworfene im Fluss der Zeit
  2. Steintisch: Die Zeit heilt alle Wunder
  3. Petőfi-Denkmal: Vom Wandel des Widerspruchs
  4. In der Ferne erscheint das Römische Haus: Quo vadis? Oder wohin sehnen?
  5. Franz-Stein: Flucht in Elysische Gefilde oder Dekonstruktion aller Utopie?
  6. Bank mit Blick zum Goethe-Gartenhaus: Glotzt nicht so romantisch!
  7. Der Schlangenstein: der kriechende (Un-)Geist von Weimar
  8. Shakespeare: Der Tod ist ein Narr
  9. Liszt-Denkmal: Gesang unter gebrochenen Fingern
  10. Parkhöhle: Ginos laufende Bilder im Untergrund
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