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Harry Schulze-Wilde
Theodor Plievier. Nullpunkt der Freiheit, München 1965.
Religiöse Schwärmer traten zu allen Zeiten und bei allen Völkern auf, von den Flagellanten bis zu den Wiedertäufern, von den Sabbatisten bis zu den Mormonen in den USA, besonders nach einem Kriege. In Deutschland war nach 1918 zweifellos jener Sektreisende Louis Haeusser […] der bekannteste, obwohl man heute kaum noch seinen Namen kennt. […]
Er erhielt eine Einladung, im Hörsaal des Bauhauses zu sprechen. Es war alles da, was in der modernen Kunst damals einen Namen hatte, angefangen von Walter Gropius bis Kandinsky, von Schlemmer über Feininger, Peter Röhl und Klee bis zu den Handwerksmeistern und Schülern des Bauhauses, die das vornehmlich von Pensionisten besiedelte alte Weimar so sehr in Unruhe versetzten. Nur die geschwätzige Alma Mahler-Werfel fehlte; sie hatte schon wieder mal gewechselt.
Dreißig Jahre später würde man die Bauhäusler als Existentialisten eingestuft haben, doch damals waren sie für die Ureinwohner von Weimar das Böse schlechthin, die sie für so ziemlich alles verantwortlich machten, was es an Widerwärtigkeiten in der Welt gab, bis hin zu der unheimlichen Zunahme der Geschlechtskrankheiten und der fortschreitenden Geldentwertung.
Der große Hörsaal war bis auf den letzten Platz gefüllt. Unten drängten sich die Prominenten, auf den Bänken die Schüler, in den oberen Reihen die geladenen Gäste. Haeusser sprach wiederum fast zwei Stunden, und seine Suada schlug auch diese Versammlung Intellektueller in seinen Bann. Als er geendet hatte, herrschte eine andächtige Stille, fast wie in einer Kirche nach der Predigt eines berühmten Gastpfarrers. Einer der Prominenten — sein Name wird heute mit Ehrfurcht genannt — war völlig verzaubert oder besser: völlig »verhaeussert«. Ergriffen drückte er dem »Meister« die Hand.
Eigentlich hätte jetzt eine Orgel spielen müssen. Aber es war keine vorhanden. Statt dessen tönte in die Stille hinein die schluchzende Frage einer Bauhausschülerin. Ich kannte sie. Sie zeichnete sich nicht gerade durch Schönheit aus und stand außerhalb des Verdachtes, eine Maria Magdalena zu sein. Ihre Worte: »Meister, wie kann ich werden wie du?« klangen wie der Aufschrei einer ob ihres unbefriedigenden und nicht erfüllten Lebens gemarterten Seele.
Aller Augen richteten sich erwartungsvoll auf Haeusser. Was würde er sagen? War es nicht vermessen, dem »wiedergekehrten Christus« gleich sein zu wollen? Doch der »Meister« ließ sich mit seiner Antwort Zeit. Erst nach einer Pause breitete er seine Arme aus und hob den Kopf, als müsse er auf eine Eingebung von oben warten. Es war sehr attraktiv. Und dann geschah es! Statt Haeusser antwortete ein Schauspieler vom Nationaltheater, der sich irgendwie Einlaß verschafft hatte. Vom obersten Rang her rief er mit rollendem R in den Hörsaal: »Du willst wie der ›Meister‹ werden? Dann mußt du dir einen Bart wachsen lassen und eine Kutte kaufen!«
Die Wirkung war einzigartig. Einige lachten, und das wirkte ansteckend. Plötzlich wieherte der ganze Saal. Der »Meister« trug gar keine Kleider wie der Kaiser in Andersens Märchen; der »wiedergekommene Christus« war nackt, so wie er es auf seinen Plakaten versprochen hatte. Diese »Nacktheit« aber offenbarte seine Häßlichkeit! Er war ein Schwindler. Haeusser begriff sofort, wie peinlich der Zwischenfall für ihn war, und überschüttete den Schauspieler mit einer Flut von nicht gerade sehr feinen Schimpfworten, die keinesfalls von einem heiligen Zorn zeugten. Ein Münchner Droschkenkutscher hätte jedenfalls keine plastischeren Ausdrücke finden können.
Es war nichts mehr zu retten, die weihevolle Stimmung war dahin! Der Saal leerte sich rasch, und die Spottlust der Bauhausschüler gewann wieder die Oberhand.
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