Holger Uske – »Heimat. Eine Annäherung«

Person

Holger Uske

Ort

Suhl

Thema

Von Heimat zu Heimat

Autor

Holger Uske

Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Wo wol­len wir sein? Und wer? Woher kom­men, wohin gehen wir? Wan­deln durch unsere Zeit. Ver­har­ren. Stel­len uns dem, das auf uns zukommt. Eilen davon. Neh­men Wege, schla­gen sie aus, atem­los alle Tage. Rau­schen vor­über: das Leben selbst ein Rausch. Wer hält uns auf? Stellt wann die Fra­gen, die all das in Frage stel­len? Orte zeit­le­bens. Das Atem­ho­len viel zu sel­ten. Wo mir der Atem leicht wird, viel­leicht ist dort meine Heimat.

 

1

Hin­ein­ge­bo­ren wer­den in eine Land­schaft, das ist der Beginn für uns alle. Eine Land­schaft aus Flüs­sen und Wie­sen, aus Ber­gen und Hügeln, aus Stra­ßen­schluch­ten mit immer wie­der blü­hen­den Bäu­men darin. Aus Fel­dern und hier­zu­lande noch immer viel Wald. Ande­ren­orts aus unent­wegt rin­nen­dem Sand, tro­cke­ner wer­den­der Erde. Aus schwin­den­dem Eis. Kaum vor­stell­bar noch, was die Alten berich­ten: was soll es hier ein­mal gege­ben haben?
Nach­bars Hund in mei­ner Erin­ne­rung. Die Hexe aus dem Haus nebenan, von der die Nach­bars­kin­der schau­rige Geschich­ten erzäh­len. Das Zie­hen der Schiffe auf der Elbe. Die Melo­die der Spra­che, von der man nichts bemerkt, weil man in ihr auf­wächst mit all den Men­schen ringsum, die man erst nach und nach zuord­nen kann: das sind Tante und Onkel, aber das sind Herr und Frau Sowieso. Vaters Motor­rad knat­tert am Haus. Mit dem Rol­ler kann ich schon mal mei­nen Mut am Berg aus­tes­ten. Der zwan­zig Jahre spä­ter zum Hügel­chen schrumpft. Hei­mat, in die man hin­ein­wächst, unge­fragt. In der man selt­same Sätze auf­schnappt wie: »Ist im Krieg geblie­ben.« Was bedeu­tete das? »Das ver­stehst du noch nicht.« Meine Groß­el­tern wohn­ten in einem Dorf. In einer Zeit, die heute Jahr­hun­derte ent­fernt zu sein scheint: das Was­ser ging Groß­va­ter mit dem Eimer holen von der Pumpe fünf­zig Meter die Straße hinab. Und Groß­mutter sagte: Kannst ruhig mit, du bist doch schon groß, nimmst den klei­nen Eimer! Das Dorf, Stau­cha in der Lom­matz­scher Pflege, war der sichere Ort mei­ner Kind­heit, an den wir immer im Som­mer für ein paar Wochen Ferien zurück­kom­men konn­ten, als Städ­ter begrüßt. Da waren wir längst umge­zo­gen in die Stadt in den Ber­gen, in einen ande­ren Land­strich: Hei­mat als Neu­land, in das man wie­derum unge­fragt hin­ein­ge­stellt wird, ver­setzt, von den Schul­ka­me­ra­den weg, wie mein Bru­der, 300 Kilo­me­ter ent­fernt von den Eltern, wie meine Mut­ter; Ende der 1950er Jahre war das selbst mit der Bahn eine Tages­reise. Die kos­tete pro Per­son 50 Mark. Ich erin­nere mich daran, dass wir die Reise dort­hin ein zwei­tes Mal im Jahr nur unter­neh­men konn­ten, wenn die Groß­el­tern zuvor das Geld geschickt hat­ten. Mein Groß­va­ter wurde 70, an einem 25. Dezem­ber. Groß­mutter hatte alles klamm­heim­lich vor­be­rei­tet, unser Besuch sollte eine Über­ra­schung wer­den. Wir lie­fen zu viert von unse­rem Miets­haus am Berg, damals am Rande von Suhl gele­gen, durch den frisch gefal­le­nen Schnee und die bei­nahe laut­lose Stadt die vier­zig Minu­ten bis zum Bahn­hof, glück­lich wie sel­ten, so kommt mir das heute vor. Hei­mat alt und Hei­mat neu? Oder eins und zwei? In wech­seln­der und spä­ter sich umkeh­ren­der Rei­hen­folge? Die Arbeit der Eltern. Viel spä­ter erst begeg­nete ich Freun­den mei­ner Söhne. Ein Vater war Offi­zier. Die Fami­lie zog regel­mä­ßig um, aller drei Jahre. Rei­chen drei Jahre, um Wur­zeln zu schla­gen? Auf dass Hei­mat entstehe?

In mei­ner Hei­mat zwei wurde ich wirk­lich hei­misch. Mein Vater war schon ein Jahr zuvor nach Suhl gekom­men, wohnte da lange erst­mal zur Unter­miete, bevor wir für die Fami­lie eine Woh­nung beka­men. Und eig­nete sich an den Wochen­en­den die auch für ihn neue Gegend an. Uns musste er dann zei­gen, was es hier alles an Schö­nem gab. Wald­wege, die ich zuvor in Riesa gar nicht ken­nen­ge­lernt hatte. Blau­bee­ren an ihrem Rand! Spä­ter kam noch das Pil­ze­su­chen hinzu, von den Eltern bald zur Pas­sion gestei­gert. Ich trot­tete hin­ter­her, fand den unter Fich­ten dunk­len und unter Lär­chen gar knis­tern­den Wald nicht beson­ders schön – und hatte stets die geringste Aus­beute von allen. Vor­erst aber gab es Orte im Umfeld zu ent­de­cken, Aus­bli­cke zu bewun­dern bis in die Rhön: Da hin­ten ist schon der Wes­ten! Und es gab geheim­nis­volle Ein­kehr­plätze, die »Wald­frie­den« hie­ßen oder »Stu­ten­haus« oder »Schmü­cke«. Auf der Schmü­cke, erin­nere ich mich, gab es noch einen Schall­plat­ten-Auto­ma­ten. Für einen Gro­schen spielte er das aktu­elle Lieb­lings­lied. Und in der manch­mal grö­ße­ren Wan­der­gruppe hieß es dann: Sing du doch mal, du kannst doch so schön sin­gen. Leder­ho­sen­be­klei­det – wie die meis­ten Jungs damals beim Unter­wegs­sein, die hiel­ten wenigs­tens! – stellte ich mich vor die Gruppe und schmet­terte mit. Oder, wenn der Auto­mat schwieg, dann noch mal als Solo-Sänger.

Wächst Hei­mat auch, wenn man allein unter­wegs ist? Sind es nicht gerade die Men­schen, mit denen man lebt, die einen hei­misch wer­den las­sen? Hei­misch sein: gebor­gen. Was du mit­nimmst für dein gan­zes Leben. Oder ver­säumst, hei­mat­los bleibst. Ich komme dar­auf zurück. Meine Eltern waren neu­gie­rig auf die neue Hei­mat in Thü­rin­gen – einen Begriff, den es damals offi­zi­ell schon gar nicht mehr gab. 1952 hatte die DDR die Län­der auf­ge­löst, in einer Ver­wal­tungs­re­form genann­ten Aktion, mit der zugleich die unge­lieb­ten Län­der­par­la­mente abge­schafft wur­den. Zwar gab es dann Bezirks­tage, doch die eigene Lan­des­ge­setz­ge­bung war Geschichte. Aus Thü­rin­gen waren die Bezirke Erfurt, Gera und Suhl gewor­den und wir wohn­ten nun statt in der Kreis­stadt Riesa in der Bezirks­stadt Suhl, statt mit­ten in Sach­sen im frän­kisch gepräg­ten Süd­thü­rin­gen. Von die­ser frän­ki­schen Prä­gung aber wuss­ten, so meine ich heute, nicht mal meine Eltern etwas. Aber ihre Neu­gier wurde zu mei­ner. Hei­mat­ge­winn durch Neu­gie­rig­sein. Blei­ben wol­len geht mit Neu­gier stil­len ein­her. Etwas aneig­nen wol­len als akti­ver Weg, Hei­mat zu fin­den. Als das Andere zum Blei­ben am ver­trau­ten Ort, wo alles selbst­ver­ständ­lich ist und sich die Frage nach Alt und Neu gar nicht stellt. Hei­mat gewin­nen als ein akti­ver Pro­zess. Ist davon hier­zu­lande über­haupt noch die Rede? Da Hei­mat viel­fach zu einem Schmäh­be­griff gewor­den ist? Thü­rin­gen kam mir im Lied­gut wie­der ins Gedächt­nis. Als wir ins Feri­en­la­ger fuh­ren, kann­ten andere das Lied, das mir als zuge­zo­ge­nem Sach­sen – was ich damals gar nicht so emp­fand – unbe­kannt war: »Thü­rin­ger sind wir, das macht uns alle froh.« Hei­mat durch Kul­tur. Zwar gab es damals in der Schule ein Fach Hei­mat­kunde. Darin aber war neben Pflan­zen und Tie­ren, soweit ich mich ent­sinne, stets nur von der DDR als Hei­mat die Rede. Da kam wie­der ein Lied ins Spiel, das viele in der DDR Sozia­li­sierte bis heute im Ohr haben wer­den: »Unsre Hei­mat, das sind nicht nur die Städte und Dör­fer…« Natur im Vor­der­grund. Aber auch schon Ideo­lo­gie: »Wir schüt­zen sie, weil sie dem Volke gehört«. Von Hei­mat zu Hei­mat. Wir sind bei unse­rem Thema.

 

2

Hei­mat DDR. Hei­mat im Sozia­lis­mus. Das hieß Hei­mat fin­den in Ideo­lo­gie. Hei­mat in Ideo­lo­gie fin­den aber bedeu­tet, keine Hei­mat zu haben. Was ich heute wie selbst­ver­ständ­lich nie­der­schreibe, wäre mir damals nicht mal in den Sinn gekom­men. Als Kind, als Jugend­li­cher fühlte ich mich gut, zu den »Sie­gern der Geschichte« zu gehö­ren. Selbst in den Atlan­ten war ziem­lich weit vorn vom welt­wei­ten Über­gang zum Sozia­lis­mus zu lesen. Far­big die Län­der, die schon die­sen Schritt nach vorn gegan­gen waren. Von Aus­gabe zu Aus­gabe wur­den es mehr, in den 1960er-Jah­ren. Erst in mei­nem Gedicht­band »Erd­fahrt« von 2011 ver­öf­fent­lichte ich in dem Text »Grenze« die Verse: »Ich durfte schon / Zukunft leben. Wusste / Nicht, dass der Sta­chel­draht / Mir galt«. In dem Buch »Ein rot-roter Son­der­weg? Sozi­al­de­mo­kra­ten und Kom­mu­nis­ten in Thü­rin­gen 1919–1949« ent­wi­ckelt des­sen Autor Stef­fen Kachel ein Modell der Zuord­nung von Geburts­jahr­gän­gen zur DDR-Geschichte. Danach zähle ich als zwi­schen 1950 und 1960 Gebo­re­ner zu den »inte­grier­ten Jahr­gän­gen«, denen die »Auf­bau-Genera­tion« der zwi­schen 1930 und 1950 Gebo­re­nen voran ging, aber schon die (zwi­schen 1960 und 1975 Gebo­rene) »distan­zierte Genera­tion« folgt. Meine Hei­mat war die DDR. Ich kannte gar kein ande­res Gesell­schafts­mo­dell aus eige­ner Anschau­ung, kein ande­res Land als die erreich­ba­ren des »sozia­lis­ti­schen Lagers«. Diese Erfah­rung teile ich mit Hun­dert­tau­sen­den. Man sah dort schon Unter­schiede. Aber mit dem Plus und dem Minus rich­tete man sich ein. Auch ich. Als unsere Kin­der gebo­ren waren, sag­ten wir uns, dass es denen doch gleich war, ob sie an der Müritz, an der Ost­see oder am Mit­tel­meer Was­ser, Sand und Sonne genie­ßen konn­ten. Wir leb­ten mit sol­cher­art Recht­fer­ti­gun­gen. Punk­tu­ell drang Unwahr­schein­li­ches durch wie von einem rus­sisch-fin­ni­schen Krieg. Vom Frie­dens­staat Sowjet­union? Undenk­bar! Den Ein­marsch in die CSSR erlebte ich als 13-jäh­ri­ger. Vor­her hatte ich ver­sucht, aus sei­ten­lan­gen Bera­tungs­kom­mu­ni­ques Infor­ma­tio­nen zu gewin­nen – ver­ge­bens. Lagen Schat­ten auf der Hei­mat? Hei­mat DDR. Das ankerte so tief. Das hatte ich zwölf Schul­jahre lang auf­ge­so­gen. War es ein Ein­trich­tern gewe­sen? Ich will es mir nicht zu ein­fach machen. Es war ein gutes Gefühl, auf der Seite der Zukunft zu leben. Ich wollte die­sen Stolz. Ich wollte Aner­ken­nung auch von die­sem Land, in dem ich lebte. Wir waren die Über­le­ge­nen. Die paar Unstim­mig­kei­ten, das würde sich schon noch geben: das Plat­ten­bau-Einer­lei, der ster­bende Wald, die abge­stor­be­nen Flüsse. Am Zusam­men­fluss von Saale und Elbe unter­schied sich die Schaum­höhe, die beim Schla­gen des Was­sers mit einem Stöck­chen erzielt wurde, nur gering­fü­gig. Und wohin das Was­ser am Ufer gelangte, dort wuchs buch­stäb­lich kein Gras mehr. Da kam zu dem Begriff Hei­mat schon die Auf­gabe hinzu, sich auch für deren Erhalt einzusetzen.

Von Anfang an und für immer gab es nur die DDR. So wie nie über Hei­mat­ver­trie­bene gespro­chen wurde – Hei­mat­ver­trie­be­nen­ver­bände waren nach offi­zi­el­ler Les­art »Revan­chis­ten­ver­bände« in West­deutsch­land, mit dem uns offi­zi­ell ja sowieso nichts ver­band, son­dern alles mit der Sowjet­union – so sah ich im Unter­richt auch nie eine Karte zu Deutsch­lands Größe vor und nach den Krie­gen des 20. Jahr­hun­derts. Deutsch­land als Hei­mat exis­tierte nicht. Meine Hei­mat DDR aber war letzt­lich ein ideo­lo­gi­sches Kon­strukt. Meine Hei­mat war eine Uto­pie. Fol­ge­rich­tig ging mit der Uto­pie auch meine Hei­mat ver­lo­ren – diese. Es sei denn, ich hätte mir längst eine andere Uto­pie auf­ge­baut, viel­leicht die, auf freiem Grund mit freien Men­schen zu ste­hen. Aber kann eine Uto­pie Hei­mat sein? Auf Dauer? Muss sich Hei­mat nicht an Kon­kre­tem fest­ma­chen, Land­schaft, Kul­tur, Spra­che? Und jedes davon muss ich weit fas­sen – die beson­dere Folge von Ber­gen in einem Gebirge, den beson­de­ren Duft des Wal­des. Das unver­wech­sel­bare Spiel des Win­des, wenn der Föhn her­ein­bricht. Jenes Gericht, das nir­gendwo anders so schmeckt wie hier. Die Spitze eines Müns­ters überm Nebel. Der Blick ins Tal, der sich tief ins Gedächt­nis ein­ge­prägt hat – auch wenn ich ihn schon 20 Jahre spä­ter nicht mehr auf­fin­den kann, weil die Bäume ihr eige­nes Leben füh­ren und es vor­zie­hen, zu wach­sen, statt getreue Abbil­der mei­ner Erin­ne­rung zu blei­ben. Bräu­che, Sit­ten, Lie­der, Erzäh­lun­gen abends am Lager­feuer– Die aber sind längst abge­wan­dert auf Schat­ten­plätze im Inter­net. Wovon auch noch zu reden sein wird.

Letzt­lich ist Hei­mat immer auch eng ver­knüpft mit Geschichte. Gehört die Hei­mat also denen, denen die Deu­tungs­ho­heit über die Geschichte gehört? Kommt der harte Kampf darum also auch vom Kampf um Hei­mat? Ist die Geschichte gar deren neues Kampf­ge­biet? Oder war auch das nicht schon immer so? So wie ich immer ein Kind der DDR blei­ben werde, so tra­gen die meis­ten mei­ner Genera­tion die­sen Ruck­sack der Leit­sätze mit sich herum, die 40 Jahre lang von den wenigs­ten hin­ter­fragt wur­den. Und die ein Aneig­nen neuer Hei­mat so schwie­rig machen.

 

3

Hei­mat Welt. So ein­fach könnte es sein. Gleich, in wel­che Land­schaft ich hin­ein­ge­bo­ren wurde, wel­che Spra­che mei­nen Hori­zont bestimmt, wie meine Kul­tur mich inte­griert in meine Gesell­schaft und abgrenzt von ande­ren – ich bin ein Teil der Welt, Teil einer grö­ße­ren Gemein­schaft, eines grö­ße­ren Zusam­men­halts. Welt geht über mich hin­aus, über alle meine Hori­zonte. Welt ist grö­ßer als Hei­mat. Aber kann jemand in der Welt zu Hause sein, wenn er keine Hei­mat hat? Wenn er nicht einen über­schau­ba­ren Bereich über­bli­cken, sich aneig­nen kann – wie will er dann in der Welt hei­misch wer­den? Und kein Hin- und Her­ge­trie­be­ner blei­ben, der nir­gends ankom­men wird, weil er nie eine Hei­mat besaß? Regio­nale Ver­an­ke­rung als Vor­aus­set­zung für ein Hei­mi­sch­wer­den in der Welt, Gebor­gen­heit der Hei­mat als unver­lier­ba­res Pfund für ein Leben über­all auf der Welt.

Ich sehe all die Ver­lo­re­nen vor mir, die Umher­ir­ren­den in den gro­ßen Städ­ten. Süch­tig nach der klei­nen Kneipe in ihrer Straße als Mini­mal­va­ri­ante von Hei­misch­sein, von Hei­mat. Denn Hei­mat heißt auch Ange­nom­men wer­den ohne Wenn und Aber. Die Ver­ein­zel­ten in ihren Arbeits­zim­mern, die Wände ver­stellt von Bücher­re­ga­len – kön­nen Buch­sta­ben allein Hei­mat sein? Kommt es viel­leicht auch hier­bei nur auf das Aneig­nen an? Wel­che Seite spricht mich heute an wie andere ein Baum im Park, ein Strauch am Weg­rand, ein Pas­sant, eine Stimme, die eben um eine Ecke schlich, um mich zu erschre­cken? Viel­leicht sind es nur Nuan­cen, die den Unter­schied aus­ma­chen zwi­schen ver­ein­zelt und ver­lo­ren. Den Unter­schied zwi­schen Hei­mat und Hei­mat­lo­sig­keit. Ich kenne nie­man­den, dem die Welt wirk­lich Hei­mat ist. Weil es nie­man­den gibt, der die Welt wirk­lich erfas­sen kann.

Das ist der Punkt in die­sem Auf­satz, an dem der Welt­geist Ein­zug hal­ten müsste, ein Abs­trak­tum, die Wel­ten­seele, Gott. An die es immer nur Annä­he­run­gen geben kann, sei es per Zugang zur Aka­sha-Chro­nik, sei es im Gebet, sei es in den Momen­ten des Eins­seins. Haben Lie­bende in ihren höchs­ten Momen­ten diese je als Hei­mat Welt ver­stan­den? Nicht doch als etwas Grö­ße­res, wie von ihnen Getrenn­tes? Ist Liebe allein schon Heimat?

Wer keine Hei­mat hat, wird in der Welt nicht hei­misch wer­den. Wer Hei­mat ablehnt, lehnt letzt­lich auch Welt als Hei­mat ab. Für wen beim Begriff Hei­mat (oder wie bei Chris­tiane Hoff­mann in ihrem Buch »Alles, was wir nicht erin­nern«: »Hei­mat ist kein Ort, son­dern ein Gefühl« und »Grä­ber sind Hei­mat«) nicht auch Liebe mit hin­ein­spielt als Geben und Gewin­nen, der wird nir­gends hei­misch sein. Kampf gegen eine Hei­mat ist damit auch Kampf gegen die Welt, Kampf gegen sich selbst, gegen das Eins­sein mit ande­ren. Der Schritt von »Hei­mat ver­re­cke«, mei­net­hal­ben auch als »Deutsch­land ver­re­cke« apo­stro­phiert, führt am Ende zu »Welt ver­re­cke«. Wor­über sollte dann noch zu reden sein? Aber viel­leicht doch die Frage gestellt: Wer spricht da durch wen? Und warum? So wie ich immer wie­der die Frage auf­wer­fen will: Kann deine Hei­mat auch meine sein? Wenn meine deine sein soll? Auch eine Uni­ver­sal­hei­mat Welt fügt sich zusam­men aus klei­nen Tei­len. Deren Viel­falt erst macht die Viel­falt jener grö­ße­ren aus, deren Reich­tum. Wir schaf­fen es nicht, die Viel­falt der Welt in jener klei­ne­ren, regio­na­len Hei­mat abzu­bil­den; es bliebe keine mehr. In mei­ner Hei­mat Thü­rin­gen kann ich nicht die Gesamt­heit der Welt abbil­den; es bliebe kein Thü­rin­gen mehr. In mei­ner Hei­mat Deutsch­land kann ich nicht die Pro­bleme der Welt lösen; wer auch immer zu uns kommt, er bringt seine Pro­bleme ja mit und wird ver­sucht sein, sie hier zu lösen. Mit sei­nen Mit­teln, mit unse­ren. Viel­leicht hat meine Hei­mat Europa das Poten­tial dazu. Eine Hei­mat hier in unse­rem, dem west­li­chen Teil, die mit ihren offe­nen Gren­zen und dem offe­nen Aus­tausch auch von Kul­tur das größte Frie­dens­pro­jekt dar­stellt, das die­ser Kon­ti­nent bis­her sah. Hei­mat Europa – auch das ist inzwi­schen ein gefähr­de­tes Pro­jekt. Gefähr­det von Ideo­lo­gen, die ihr Den­ken zum Maß für andere erhe­ben und ihr Groß­macht­stre­ben mit Waf­fen­ge­walt umzu­set­zen ver­su­chen. Hei­mat Geschichte könnte da ein hilf­rei­cher Ort sein. Hei­mat als die Folge von Lebens­leis­tun­gen mei­ner Vor­fah­ren. Spricht davon noch jemand? Wie sehr wir heute leicht­fer­tig genau dar­über hin­weg gehen, obwohl wir sehen, wohin unsere über­heb­li­che Kurz­sich­tig­keit führt? Deutsch­land, Europa als Hei­mat mit gro­ßer Anzie­hungs­kraft für die Welt – es ist ein Land, ein Kon­ti­nent der Regio­nen. Es ist die in Ansät­zen ver­wirk­lichte Idee, das Hei­misch­sein in Land­schaft und Kul­tur, das Anneh­men eige­ner Geschichte ins Grö­ßere zu tra­gen. Hei­mat als fort­wäh­ren­der Ver­such also. Als Auf­gabe, die immer neu gelöst wer­den muss. Hei­mat als Mög­lich­keit, mit der Erde im Ein­klang zu blei­ben. Auch ich bin mein Thü­rin­gen, mein Deutsch­land. Die Erde und ich sind eins. Das ist der ein­zige Weg, um in der Welt hei­misch zu sein.

 

4

Neu­lich auf dem Erfur­ter Haupt­bahn­hof. Zwei junge Män­ner unter­wegs. Vom Neben­bahn­steig beob­achte ich, wie der eine sein Rad bei­nahe auf das Gleis­bett lenkt – weil er sich nicht vom Blick auf sein Handy tren­nen kann. Der andere ris­kiert, mit Pas­san­ten zusam­men­zu­sto­ßen. Nur auf der Suche nach Infor­ma­tio­nen – oder doch schon im Inter­net zu Hause? Hei­mat Inter­net? Immer mehr vor allem junge Men­schen schei­nen sich zumin­dest zeit­wei­lig aus­zu­tak­ten aus der rea­len Welt. Kaum jemand kommt in den nun gott­lob wie­der dich­ter began­ge­nen Fuß­gän­ger­zo­nen um einen Bei­nahe-Zusam­men­stoß mit Men­schen herum, denen die Welt auf ihrem Smart­phone mög­li­cher­weise wich­ti­ger ist als die reale. Upps, ein Fuß­gän­ger? Wo kam der denn her? Sorry. Und wei­ter mit dem Abru­fen von Neu­ig­kei­ten aus der gemein­sam ver­wal­te­ten Mei­nungs­blase, mit Tex­ten, die seri­en­mä­ßig vom Inter­net-Anbie­ter nach den zuvor inter­es­sie­ren­den The­men aus­ge­sucht wor­den sind. Die Spi­rale der sich selbst bestä­ti­gen­den Mei­nun­gen ist längst in Gang gesetzt. Hei­mat Internet?
Die Rede kommt auf die Mög­lich­keit des Hei­mat-Fin­dens in einer Fik­tion. Hei­mat 2.0 gewis­ser­ma­ßen, falls das als Begriff nicht längst ver­ge­ben ist. Gab es nicht wirk­lich schon Vor­stöße, die eigene Stadt im Netz vir­tu­ell nach­zu­bauen? Erlaubt Google Street View nicht schon, in eini­gen Städ­ten spa­zie­ren zu gehen – ohne den Fuß aus dem eige­nen Zim­mer zu set­zen (fast bin ich geneigt zu schrei­ben: aus dem hei­mat­li­chen Zim­mer)? Die Welt ver­la­gert sich ins Vir­tu­elle. Kann sich auch Hei­mat ins Vir­tu­elle verlagern?

Es ist, als ob die­ser Text sei­nem Finale zustrebe. Aus der Hei­mat aus Über­lie­fe­rung und eige­nem Erle­ben, aus Spra­che und Kul­tur, wird Hei­mat aus Fik­tion. Leben aus zwei­ter Hand – wie ich zuwei­len das Ein­tau­chen in Film- und Com­pu­ter-Wel­ten bezeichne – wird zur neuen Hei­mat. Das Ein­mi­schen ist vor­läu­fig, kann durch Tas­ten­druck jeder­zeit been­det wer­den. Das Enga­ge­ment bleibt theo­re­tisch, denn der echte Ein­satz vor Ort, auf der Straße, im Wald, in Debat­tier­run­den ohne einen Fokus spen­den­den Kame­ra­mann, bleibt aus. Hei­mat im Netz, die ich doch mit so vie­len tei­len kann, Hei­mat vir­tu­el­les Netz – für mich heißt das nichts ande­res, als keine Hei­mat mehr zu haben. Wo kam ich her, wo geh› ich hin – all das ver­wischt, wird unkennt­lich, kann sich von Stunde zu Stunde ver­schie­ben. Wenn ich meine Hei­mat ein­fach abschal­ten kann, dann trage ich auch keine Ver­ant­wor­tung mehr für sie. Dann bin ich selbst doch gar nicht gefragt. In der vir­tu­el­len Welt agiere ich meist ja nicht ein­mal mit mei­nem wirk­li­chen Namen. Ich ist ein Ande­rer. Ich spannt sich zwi­schen den Welt­po­len auf, bes­ten­falls. Vir­tu­elle Welt bedarf kei­ner Hei­mat. Vir­tu­elle Welt wird selbst zur Heimat.
Wer pro­fi­tiert davon? Von Hei­mat­lo­sig­keit, gut: im alten Sinne, von Geschichts­lo­sig­keit, ja, von Gesichts­lo­sig­keit? Liege ich gänz­lich falsch, auch sol­chem Vor­ge­hen ein Ziel unter­zu­schie­ben? Wer benö­tigt hei­mat­lose Gesel­len welt­weit – und wofür? Viel­leicht han­delt es sich um die extremste Aus­for­mung des Hei­mat­be­grif­fes: Hei­mat Inter­net. Jeder­zeit ver­füg­bar. Aber kalt. Uni­ver­sell nutz­bar. Aber auf Distanz. Einer Welt­spra­che zustre­bend, von der ich noch nicht sicher bin, ob sie auch Welt­kul­tur zur Folge haben wird. Einer Spra­che, die mich nicht mehr berührt. Mit der Rasanz des Lebens aus zwei­ter Hand von der Viel­falt zur Uni­for­mi­tät. Vom ideo­lo­gisch über­frach­te­ten Hei­mat­be­griff der Gesell­schafts­sys­teme des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts hin zur Hei­mat in der Fik­tion. Die das Ende der Hei­mat im alten Sinne bedeu­tet. Aber auch für mich Neues bereit­hal­ten kann. Es kommt nur dar­auf an, den Begriff zu wei­ten. Mit der Spra­che das Den­ken zu ver­än­dern. Und das Wis­sen der Alten, geach­tet seit Jahr­tau­sen­den, abzu­stem­peln zu dem eines alten wei­ßen Man­nes. Oder einer Kräu­ter­hexe. Ver­mut­lich weiß nur, wer ohne Hei­mat ist, was gut ist für alle. An den Fol­gen und der Umset­zung sol­chen Den­kens – nicht nur im vori­gen Jahr­hun­dert – lei­den wir bis heute – und aktu­ell schon wieder.

Von Hei­mat zu Hei­mat. So gehen wir. Für Gläu­bige stellt das weni­ger ein Pro­blem dar: deren Hei­mat ist eh nicht von die­ser Welt. Aber wir alle kom-men ohne unsere Hei­mat Erde nicht aus, jenen wun­der­ba­ren Pla­ne­ten am Rande der Milch­straße, von dem es heißt, dass hier das Wis­sen des gan­zen Kos­mos gespei­chert sei. Und wir Men­schen eher als Zufalls­pro­dukt ent-stan­den: da die Stern­fah­rer in die wun­der­schö­nen Frauen hier ein­ge­hen woll­ten, sie »erkann­ten«, wie es in der Bibel heißt, und das Men­schen­ge­schlecht erschu­fen. Selbst wenn das alles Legende ist, so ist es doch eine fas­zi­nie­rende Vor­stel­lung. Nun sind wir hier. Gehen von Hei­mat zu Hei­mat. Ein jeder für sich. Bes­ten­falls mit denen, die er liebt. Bes­ten­falls ohne Hass. Mit einer unver­lier­ba­ren Hei­mat in sei­ner Erin­ne­rung. Und einer an jedem neuen Tag neu zu gewin­nen­den, mit leich­tem Atem unterwegs.

 

***

»Von Hei­mat zu Hei­mat – eine lite­ra­ri­sche Spu­ren­su­che« ist eine Reihe des Thü­rin­ger Lite­ra­tur­ra­tes e.V. mit freund­li­cher Unter­stüt­zung der Kul­tur­stif­tung des Frei­staats Thüringen.

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