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Holger Uske
Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Wo wollen wir sein? Und wer? Woher kommen, wohin gehen wir? Wandeln durch unsere Zeit. Verharren. Stellen uns dem, das auf uns zukommt. Eilen davon. Nehmen Wege, schlagen sie aus, atemlos alle Tage. Rauschen vorüber: das Leben selbst ein Rausch. Wer hält uns auf? Stellt wann die Fragen, die all das in Frage stellen? Orte zeitlebens. Das Atemholen viel zu selten. Wo mir der Atem leicht wird, vielleicht ist dort meine Heimat.
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Hineingeboren werden in eine Landschaft, das ist der Beginn für uns alle. Eine Landschaft aus Flüssen und Wiesen, aus Bergen und Hügeln, aus Straßenschluchten mit immer wieder blühenden Bäumen darin. Aus Feldern und hierzulande noch immer viel Wald. Anderenorts aus unentwegt rinnendem Sand, trockener werdender Erde. Aus schwindendem Eis. Kaum vorstellbar noch, was die Alten berichten: was soll es hier einmal gegeben haben?
Nachbars Hund in meiner Erinnerung. Die Hexe aus dem Haus nebenan, von der die Nachbarskinder schaurige Geschichten erzählen. Das Ziehen der Schiffe auf der Elbe. Die Melodie der Sprache, von der man nichts bemerkt, weil man in ihr aufwächst mit all den Menschen ringsum, die man erst nach und nach zuordnen kann: das sind Tante und Onkel, aber das sind Herr und Frau Sowieso. Vaters Motorrad knattert am Haus. Mit dem Roller kann ich schon mal meinen Mut am Berg austesten. Der zwanzig Jahre später zum Hügelchen schrumpft. Heimat, in die man hineinwächst, ungefragt. In der man seltsame Sätze aufschnappt wie: »Ist im Krieg geblieben.« Was bedeutete das? »Das verstehst du noch nicht.« Meine Großeltern wohnten in einem Dorf. In einer Zeit, die heute Jahrhunderte entfernt zu sein scheint: das Wasser ging Großvater mit dem Eimer holen von der Pumpe fünfzig Meter die Straße hinab. Und Großmutter sagte: Kannst ruhig mit, du bist doch schon groß, nimmst den kleinen Eimer! Das Dorf, Staucha in der Lommatzscher Pflege, war der sichere Ort meiner Kindheit, an den wir immer im Sommer für ein paar Wochen Ferien zurückkommen konnten, als Städter begrüßt. Da waren wir längst umgezogen in die Stadt in den Bergen, in einen anderen Landstrich: Heimat als Neuland, in das man wiederum ungefragt hineingestellt wird, versetzt, von den Schulkameraden weg, wie mein Bruder, 300 Kilometer entfernt von den Eltern, wie meine Mutter; Ende der 1950er Jahre war das selbst mit der Bahn eine Tagesreise. Die kostete pro Person 50 Mark. Ich erinnere mich daran, dass wir die Reise dorthin ein zweites Mal im Jahr nur unternehmen konnten, wenn die Großeltern zuvor das Geld geschickt hatten. Mein Großvater wurde 70, an einem 25. Dezember. Großmutter hatte alles klammheimlich vorbereitet, unser Besuch sollte eine Überraschung werden. Wir liefen zu viert von unserem Mietshaus am Berg, damals am Rande von Suhl gelegen, durch den frisch gefallenen Schnee und die beinahe lautlose Stadt die vierzig Minuten bis zum Bahnhof, glücklich wie selten, so kommt mir das heute vor. Heimat alt und Heimat neu? Oder eins und zwei? In wechselnder und später sich umkehrender Reihenfolge? Die Arbeit der Eltern. Viel später erst begegnete ich Freunden meiner Söhne. Ein Vater war Offizier. Die Familie zog regelmäßig um, aller drei Jahre. Reichen drei Jahre, um Wurzeln zu schlagen? Auf dass Heimat entstehe?
In meiner Heimat zwei wurde ich wirklich heimisch. Mein Vater war schon ein Jahr zuvor nach Suhl gekommen, wohnte da lange erstmal zur Untermiete, bevor wir für die Familie eine Wohnung bekamen. Und eignete sich an den Wochenenden die auch für ihn neue Gegend an. Uns musste er dann zeigen, was es hier alles an Schönem gab. Waldwege, die ich zuvor in Riesa gar nicht kennengelernt hatte. Blaubeeren an ihrem Rand! Später kam noch das Pilzesuchen hinzu, von den Eltern bald zur Passion gesteigert. Ich trottete hinterher, fand den unter Fichten dunklen und unter Lärchen gar knisternden Wald nicht besonders schön – und hatte stets die geringste Ausbeute von allen. Vorerst aber gab es Orte im Umfeld zu entdecken, Ausblicke zu bewundern bis in die Rhön: Da hinten ist schon der Westen! Und es gab geheimnisvolle Einkehrplätze, die »Waldfrieden« hießen oder »Stutenhaus« oder »Schmücke«. Auf der Schmücke, erinnere ich mich, gab es noch einen Schallplatten-Automaten. Für einen Groschen spielte er das aktuelle Lieblingslied. Und in der manchmal größeren Wandergruppe hieß es dann: Sing du doch mal, du kannst doch so schön singen. Lederhosenbekleidet – wie die meisten Jungs damals beim Unterwegssein, die hielten wenigstens! – stellte ich mich vor die Gruppe und schmetterte mit. Oder, wenn der Automat schwieg, dann noch mal als Solo-Sänger.
Wächst Heimat auch, wenn man allein unterwegs ist? Sind es nicht gerade die Menschen, mit denen man lebt, die einen heimisch werden lassen? Heimisch sein: geborgen. Was du mitnimmst für dein ganzes Leben. Oder versäumst, heimatlos bleibst. Ich komme darauf zurück. Meine Eltern waren neugierig auf die neue Heimat in Thüringen – einen Begriff, den es damals offiziell schon gar nicht mehr gab. 1952 hatte die DDR die Länder aufgelöst, in einer Verwaltungsreform genannten Aktion, mit der zugleich die ungeliebten Länderparlamente abgeschafft wurden. Zwar gab es dann Bezirkstage, doch die eigene Landesgesetzgebung war Geschichte. Aus Thüringen waren die Bezirke Erfurt, Gera und Suhl geworden und wir wohnten nun statt in der Kreisstadt Riesa in der Bezirksstadt Suhl, statt mitten in Sachsen im fränkisch geprägten Südthüringen. Von dieser fränkischen Prägung aber wussten, so meine ich heute, nicht mal meine Eltern etwas. Aber ihre Neugier wurde zu meiner. Heimatgewinn durch Neugierigsein. Bleiben wollen geht mit Neugier stillen einher. Etwas aneignen wollen als aktiver Weg, Heimat zu finden. Als das Andere zum Bleiben am vertrauten Ort, wo alles selbstverständlich ist und sich die Frage nach Alt und Neu gar nicht stellt. Heimat gewinnen als ein aktiver Prozess. Ist davon hierzulande überhaupt noch die Rede? Da Heimat vielfach zu einem Schmähbegriff geworden ist? Thüringen kam mir im Liedgut wieder ins Gedächtnis. Als wir ins Ferienlager fuhren, kannten andere das Lied, das mir als zugezogenem Sachsen – was ich damals gar nicht so empfand – unbekannt war: »Thüringer sind wir, das macht uns alle froh.« Heimat durch Kultur. Zwar gab es damals in der Schule ein Fach Heimatkunde. Darin aber war neben Pflanzen und Tieren, soweit ich mich entsinne, stets nur von der DDR als Heimat die Rede. Da kam wieder ein Lied ins Spiel, das viele in der DDR Sozialisierte bis heute im Ohr haben werden: »Unsre Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer…« Natur im Vordergrund. Aber auch schon Ideologie: »Wir schützen sie, weil sie dem Volke gehört«. Von Heimat zu Heimat. Wir sind bei unserem Thema.
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Heimat DDR. Heimat im Sozialismus. Das hieß Heimat finden in Ideologie. Heimat in Ideologie finden aber bedeutet, keine Heimat zu haben. Was ich heute wie selbstverständlich niederschreibe, wäre mir damals nicht mal in den Sinn gekommen. Als Kind, als Jugendlicher fühlte ich mich gut, zu den »Siegern der Geschichte« zu gehören. Selbst in den Atlanten war ziemlich weit vorn vom weltweiten Übergang zum Sozialismus zu lesen. Farbig die Länder, die schon diesen Schritt nach vorn gegangen waren. Von Ausgabe zu Ausgabe wurden es mehr, in den 1960er-Jahren. Erst in meinem Gedichtband »Erdfahrt« von 2011 veröffentlichte ich in dem Text »Grenze« die Verse: »Ich durfte schon / Zukunft leben. Wusste / Nicht, dass der Stacheldraht / Mir galt«. In dem Buch »Ein rot-roter Sonderweg? Sozialdemokraten und Kommunisten in Thüringen 1919–1949« entwickelt dessen Autor Steffen Kachel ein Modell der Zuordnung von Geburtsjahrgängen zur DDR-Geschichte. Danach zähle ich als zwischen 1950 und 1960 Geborener zu den »integrierten Jahrgängen«, denen die »Aufbau-Generation« der zwischen 1930 und 1950 Geborenen voran ging, aber schon die (zwischen 1960 und 1975 Geborene) »distanzierte Generation« folgt. Meine Heimat war die DDR. Ich kannte gar kein anderes Gesellschaftsmodell aus eigener Anschauung, kein anderes Land als die erreichbaren des »sozialistischen Lagers«. Diese Erfahrung teile ich mit Hunderttausenden. Man sah dort schon Unterschiede. Aber mit dem Plus und dem Minus richtete man sich ein. Auch ich. Als unsere Kinder geboren waren, sagten wir uns, dass es denen doch gleich war, ob sie an der Müritz, an der Ostsee oder am Mittelmeer Wasser, Sand und Sonne genießen konnten. Wir lebten mit solcherart Rechtfertigungen. Punktuell drang Unwahrscheinliches durch wie von einem russisch-finnischen Krieg. Vom Friedensstaat Sowjetunion? Undenkbar! Den Einmarsch in die CSSR erlebte ich als 13-jähriger. Vorher hatte ich versucht, aus seitenlangen Beratungskommuniques Informationen zu gewinnen – vergebens. Lagen Schatten auf der Heimat? Heimat DDR. Das ankerte so tief. Das hatte ich zwölf Schuljahre lang aufgesogen. War es ein Eintrichtern gewesen? Ich will es mir nicht zu einfach machen. Es war ein gutes Gefühl, auf der Seite der Zukunft zu leben. Ich wollte diesen Stolz. Ich wollte Anerkennung auch von diesem Land, in dem ich lebte. Wir waren die Überlegenen. Die paar Unstimmigkeiten, das würde sich schon noch geben: das Plattenbau-Einerlei, der sterbende Wald, die abgestorbenen Flüsse. Am Zusammenfluss von Saale und Elbe unterschied sich die Schaumhöhe, die beim Schlagen des Wassers mit einem Stöckchen erzielt wurde, nur geringfügig. Und wohin das Wasser am Ufer gelangte, dort wuchs buchstäblich kein Gras mehr. Da kam zu dem Begriff Heimat schon die Aufgabe hinzu, sich auch für deren Erhalt einzusetzen.
Von Anfang an und für immer gab es nur die DDR. So wie nie über Heimatvertriebene gesprochen wurde – Heimatvertriebenenverbände waren nach offizieller Lesart »Revanchistenverbände« in Westdeutschland, mit dem uns offiziell ja sowieso nichts verband, sondern alles mit der Sowjetunion – so sah ich im Unterricht auch nie eine Karte zu Deutschlands Größe vor und nach den Kriegen des 20. Jahrhunderts. Deutschland als Heimat existierte nicht. Meine Heimat DDR aber war letztlich ein ideologisches Konstrukt. Meine Heimat war eine Utopie. Folgerichtig ging mit der Utopie auch meine Heimat verloren – diese. Es sei denn, ich hätte mir längst eine andere Utopie aufgebaut, vielleicht die, auf freiem Grund mit freien Menschen zu stehen. Aber kann eine Utopie Heimat sein? Auf Dauer? Muss sich Heimat nicht an Konkretem festmachen, Landschaft, Kultur, Sprache? Und jedes davon muss ich weit fassen – die besondere Folge von Bergen in einem Gebirge, den besonderen Duft des Waldes. Das unverwechselbare Spiel des Windes, wenn der Föhn hereinbricht. Jenes Gericht, das nirgendwo anders so schmeckt wie hier. Die Spitze eines Münsters überm Nebel. Der Blick ins Tal, der sich tief ins Gedächtnis eingeprägt hat – auch wenn ich ihn schon 20 Jahre später nicht mehr auffinden kann, weil die Bäume ihr eigenes Leben führen und es vorziehen, zu wachsen, statt getreue Abbilder meiner Erinnerung zu bleiben. Bräuche, Sitten, Lieder, Erzählungen abends am Lagerfeuer– Die aber sind längst abgewandert auf Schattenplätze im Internet. Wovon auch noch zu reden sein wird.
Letztlich ist Heimat immer auch eng verknüpft mit Geschichte. Gehört die Heimat also denen, denen die Deutungshoheit über die Geschichte gehört? Kommt der harte Kampf darum also auch vom Kampf um Heimat? Ist die Geschichte gar deren neues Kampfgebiet? Oder war auch das nicht schon immer so? So wie ich immer ein Kind der DDR bleiben werde, so tragen die meisten meiner Generation diesen Rucksack der Leitsätze mit sich herum, die 40 Jahre lang von den wenigsten hinterfragt wurden. Und die ein Aneignen neuer Heimat so schwierig machen.
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Heimat Welt. So einfach könnte es sein. Gleich, in welche Landschaft ich hineingeboren wurde, welche Sprache meinen Horizont bestimmt, wie meine Kultur mich integriert in meine Gesellschaft und abgrenzt von anderen – ich bin ein Teil der Welt, Teil einer größeren Gemeinschaft, eines größeren Zusammenhalts. Welt geht über mich hinaus, über alle meine Horizonte. Welt ist größer als Heimat. Aber kann jemand in der Welt zu Hause sein, wenn er keine Heimat hat? Wenn er nicht einen überschaubaren Bereich überblicken, sich aneignen kann – wie will er dann in der Welt heimisch werden? Und kein Hin- und Hergetriebener bleiben, der nirgends ankommen wird, weil er nie eine Heimat besaß? Regionale Verankerung als Voraussetzung für ein Heimischwerden in der Welt, Geborgenheit der Heimat als unverlierbares Pfund für ein Leben überall auf der Welt.
Ich sehe all die Verlorenen vor mir, die Umherirrenden in den großen Städten. Süchtig nach der kleinen Kneipe in ihrer Straße als Minimalvariante von Heimischsein, von Heimat. Denn Heimat heißt auch Angenommen werden ohne Wenn und Aber. Die Vereinzelten in ihren Arbeitszimmern, die Wände verstellt von Bücherregalen – können Buchstaben allein Heimat sein? Kommt es vielleicht auch hierbei nur auf das Aneignen an? Welche Seite spricht mich heute an wie andere ein Baum im Park, ein Strauch am Wegrand, ein Passant, eine Stimme, die eben um eine Ecke schlich, um mich zu erschrecken? Vielleicht sind es nur Nuancen, die den Unterschied ausmachen zwischen vereinzelt und verloren. Den Unterschied zwischen Heimat und Heimatlosigkeit. Ich kenne niemanden, dem die Welt wirklich Heimat ist. Weil es niemanden gibt, der die Welt wirklich erfassen kann.
Das ist der Punkt in diesem Aufsatz, an dem der Weltgeist Einzug halten müsste, ein Abstraktum, die Weltenseele, Gott. An die es immer nur Annäherungen geben kann, sei es per Zugang zur Akasha-Chronik, sei es im Gebet, sei es in den Momenten des Einsseins. Haben Liebende in ihren höchsten Momenten diese je als Heimat Welt verstanden? Nicht doch als etwas Größeres, wie von ihnen Getrenntes? Ist Liebe allein schon Heimat?
Wer keine Heimat hat, wird in der Welt nicht heimisch werden. Wer Heimat ablehnt, lehnt letztlich auch Welt als Heimat ab. Für wen beim Begriff Heimat (oder wie bei Christiane Hoffmann in ihrem Buch »Alles, was wir nicht erinnern«: »Heimat ist kein Ort, sondern ein Gefühl« und »Gräber sind Heimat«) nicht auch Liebe mit hineinspielt als Geben und Gewinnen, der wird nirgends heimisch sein. Kampf gegen eine Heimat ist damit auch Kampf gegen die Welt, Kampf gegen sich selbst, gegen das Einssein mit anderen. Der Schritt von »Heimat verrecke«, meinethalben auch als »Deutschland verrecke« apostrophiert, führt am Ende zu »Welt verrecke«. Worüber sollte dann noch zu reden sein? Aber vielleicht doch die Frage gestellt: Wer spricht da durch wen? Und warum? So wie ich immer wieder die Frage aufwerfen will: Kann deine Heimat auch meine sein? Wenn meine deine sein soll? Auch eine Universalheimat Welt fügt sich zusammen aus kleinen Teilen. Deren Vielfalt erst macht die Vielfalt jener größeren aus, deren Reichtum. Wir schaffen es nicht, die Vielfalt der Welt in jener kleineren, regionalen Heimat abzubilden; es bliebe keine mehr. In meiner Heimat Thüringen kann ich nicht die Gesamtheit der Welt abbilden; es bliebe kein Thüringen mehr. In meiner Heimat Deutschland kann ich nicht die Probleme der Welt lösen; wer auch immer zu uns kommt, er bringt seine Probleme ja mit und wird versucht sein, sie hier zu lösen. Mit seinen Mitteln, mit unseren. Vielleicht hat meine Heimat Europa das Potential dazu. Eine Heimat hier in unserem, dem westlichen Teil, die mit ihren offenen Grenzen und dem offenen Austausch auch von Kultur das größte Friedensprojekt darstellt, das dieser Kontinent bisher sah. Heimat Europa – auch das ist inzwischen ein gefährdetes Projekt. Gefährdet von Ideologen, die ihr Denken zum Maß für andere erheben und ihr Großmachtstreben mit Waffengewalt umzusetzen versuchen. Heimat Geschichte könnte da ein hilfreicher Ort sein. Heimat als die Folge von Lebensleistungen meiner Vorfahren. Spricht davon noch jemand? Wie sehr wir heute leichtfertig genau darüber hinweg gehen, obwohl wir sehen, wohin unsere überhebliche Kurzsichtigkeit führt? Deutschland, Europa als Heimat mit großer Anziehungskraft für die Welt – es ist ein Land, ein Kontinent der Regionen. Es ist die in Ansätzen verwirklichte Idee, das Heimischsein in Landschaft und Kultur, das Annehmen eigener Geschichte ins Größere zu tragen. Heimat als fortwährender Versuch also. Als Aufgabe, die immer neu gelöst werden muss. Heimat als Möglichkeit, mit der Erde im Einklang zu bleiben. Auch ich bin mein Thüringen, mein Deutschland. Die Erde und ich sind eins. Das ist der einzige Weg, um in der Welt heimisch zu sein.
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Neulich auf dem Erfurter Hauptbahnhof. Zwei junge Männer unterwegs. Vom Nebenbahnsteig beobachte ich, wie der eine sein Rad beinahe auf das Gleisbett lenkt – weil er sich nicht vom Blick auf sein Handy trennen kann. Der andere riskiert, mit Passanten zusammenzustoßen. Nur auf der Suche nach Informationen – oder doch schon im Internet zu Hause? Heimat Internet? Immer mehr vor allem junge Menschen scheinen sich zumindest zeitweilig auszutakten aus der realen Welt. Kaum jemand kommt in den nun gottlob wieder dichter begangenen Fußgängerzonen um einen Beinahe-Zusammenstoß mit Menschen herum, denen die Welt auf ihrem Smartphone möglicherweise wichtiger ist als die reale. Upps, ein Fußgänger? Wo kam der denn her? Sorry. Und weiter mit dem Abrufen von Neuigkeiten aus der gemeinsam verwalteten Meinungsblase, mit Texten, die serienmäßig vom Internet-Anbieter nach den zuvor interessierenden Themen ausgesucht worden sind. Die Spirale der sich selbst bestätigenden Meinungen ist längst in Gang gesetzt. Heimat Internet?
Die Rede kommt auf die Möglichkeit des Heimat-Findens in einer Fiktion. Heimat 2.0 gewissermaßen, falls das als Begriff nicht längst vergeben ist. Gab es nicht wirklich schon Vorstöße, die eigene Stadt im Netz virtuell nachzubauen? Erlaubt Google Street View nicht schon, in einigen Städten spazieren zu gehen – ohne den Fuß aus dem eigenen Zimmer zu setzen (fast bin ich geneigt zu schreiben: aus dem heimatlichen Zimmer)? Die Welt verlagert sich ins Virtuelle. Kann sich auch Heimat ins Virtuelle verlagern?
Es ist, als ob dieser Text seinem Finale zustrebe. Aus der Heimat aus Überlieferung und eigenem Erleben, aus Sprache und Kultur, wird Heimat aus Fiktion. Leben aus zweiter Hand – wie ich zuweilen das Eintauchen in Film- und Computer-Welten bezeichne – wird zur neuen Heimat. Das Einmischen ist vorläufig, kann durch Tastendruck jederzeit beendet werden. Das Engagement bleibt theoretisch, denn der echte Einsatz vor Ort, auf der Straße, im Wald, in Debattierrunden ohne einen Fokus spendenden Kameramann, bleibt aus. Heimat im Netz, die ich doch mit so vielen teilen kann, Heimat virtuelles Netz – für mich heißt das nichts anderes, als keine Heimat mehr zu haben. Wo kam ich her, wo geh› ich hin – all das verwischt, wird unkenntlich, kann sich von Stunde zu Stunde verschieben. Wenn ich meine Heimat einfach abschalten kann, dann trage ich auch keine Verantwortung mehr für sie. Dann bin ich selbst doch gar nicht gefragt. In der virtuellen Welt agiere ich meist ja nicht einmal mit meinem wirklichen Namen. Ich ist ein Anderer. Ich spannt sich zwischen den Weltpolen auf, bestenfalls. Virtuelle Welt bedarf keiner Heimat. Virtuelle Welt wird selbst zur Heimat.
Wer profitiert davon? Von Heimatlosigkeit, gut: im alten Sinne, von Geschichtslosigkeit, ja, von Gesichtslosigkeit? Liege ich gänzlich falsch, auch solchem Vorgehen ein Ziel unterzuschieben? Wer benötigt heimatlose Gesellen weltweit – und wofür? Vielleicht handelt es sich um die extremste Ausformung des Heimatbegriffes: Heimat Internet. Jederzeit verfügbar. Aber kalt. Universell nutzbar. Aber auf Distanz. Einer Weltsprache zustrebend, von der ich noch nicht sicher bin, ob sie auch Weltkultur zur Folge haben wird. Einer Sprache, die mich nicht mehr berührt. Mit der Rasanz des Lebens aus zweiter Hand von der Vielfalt zur Uniformität. Vom ideologisch überfrachteten Heimatbegriff der Gesellschaftssysteme des vergangenen Jahrhunderts hin zur Heimat in der Fiktion. Die das Ende der Heimat im alten Sinne bedeutet. Aber auch für mich Neues bereithalten kann. Es kommt nur darauf an, den Begriff zu weiten. Mit der Sprache das Denken zu verändern. Und das Wissen der Alten, geachtet seit Jahrtausenden, abzustempeln zu dem eines alten weißen Mannes. Oder einer Kräuterhexe. Vermutlich weiß nur, wer ohne Heimat ist, was gut ist für alle. An den Folgen und der Umsetzung solchen Denkens – nicht nur im vorigen Jahrhundert – leiden wir bis heute – und aktuell schon wieder.
Von Heimat zu Heimat. So gehen wir. Für Gläubige stellt das weniger ein Problem dar: deren Heimat ist eh nicht von dieser Welt. Aber wir alle kom-men ohne unsere Heimat Erde nicht aus, jenen wunderbaren Planeten am Rande der Milchstraße, von dem es heißt, dass hier das Wissen des ganzen Kosmos gespeichert sei. Und wir Menschen eher als Zufallsprodukt ent-standen: da die Sternfahrer in die wunderschönen Frauen hier eingehen wollten, sie »erkannten«, wie es in der Bibel heißt, und das Menschengeschlecht erschufen. Selbst wenn das alles Legende ist, so ist es doch eine faszinierende Vorstellung. Nun sind wir hier. Gehen von Heimat zu Heimat. Ein jeder für sich. Bestenfalls mit denen, die er liebt. Bestenfalls ohne Hass. Mit einer unverlierbaren Heimat in seiner Erinnerung. Und einer an jedem neuen Tag neu zu gewinnenden, mit leichtem Atem unterwegs.
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»Von Heimat zu Heimat – eine literarische Spurensuche« ist eine Reihe des Thüringer Literaturrates e.V. mit freundlicher Unterstützung der Kulturstiftung des Freistaats Thüringen.
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