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Holger Uske
»Dichters Wort an Dichters Ort« / Thüringer Literaturrat e.V.
Mein Thüringen ist fränkisch. Davon wusste ich wenig, als ich in diese Landschaft kam. Mein Thüringen waren Berge und Wald, und Vater wies immer wieder auf die gute Luft hier hin. War die Weggabelung halb am Berg mein erster poetischer Ort, das Stück Heideland, das den Namen »Himmelreich« trug? Von ihm aus konnte man hinab sehen auf die Stadt, die sich weiter und weiter hinaufschob aus dem Tal. Hinter der Wegbiegung blickte man hinüber zum Rennsteig, dem Kammweg des Gebirges, an dessen Fuß sich Goldlauter schmiegte: noch so ein verlockendes Wort. Dunkle Schieferhäuser, steile Hänge, wusste ich bald von den Wanderungen mit der Familie. Es gab das Tal der goldenen und jenes der dürren Lauter, den Pochwerksgrund, in dem immer noch ein paar Zwerge das Eisen schmiedeten, wasserkraftgetrieben. Schön waren beide Täler. So lag gar keine so große Spanne zwischen dürr und golden?
Mein poetischer Ort heißt seit langem Suhl. Ich habe die Stadt wachsen sehen. Als Kinder staunten wir, wenn große Lkw, deren Namen wir natürlich kannten, es waren Büffel, ein um ein Häuschen gespanntes Stahlseil einhakten, losfuhren, und das Haus mit sich rissen, Platz für Neues schufen. Was für ein Spaß auf dem Weg zur oder von der Kinderbibliothek im Pionierhaus. Auch das trug einen Namen: Soja Kosmodemjanskaja. Das musste irgendwie mit dem Komsomol zusammenhängen, dem großen Jugendverband in der großen Sowjetunion. Dass das Viertel dort Aspen hieß, wusste ich nicht, weil es die Eltern nicht wussten, weil sie nicht von hier waren, nicht in diesem singenden Tonfall sprachen, der die Laute verschiebt und das R rollen lässt. Niemand in unserem Haus sprach so, damals neu gebaut am Rande der Stadt, bevor das nächste Neubauprogramm die Stadtgrenze weiter den Berg hinaufschob. Bei den Herkunftsorten der Bewohner gab es wieder solch klingende Namen wie Königsberg, von dem die Eltern wie alle Erwachsenen beharrlich schwiegen. Dabei hätten Königsberg und goldene Lauter so gut zusammengepasst, verbunden durch das Himmelreich.
Dort saß ich später wieder, allein, sah auf meine Stadt. Mit den Häusern wurde auch manches Problem klein. Und Worte groß. Wie man sie notiert, wenn Gefühle bestimmen. Begann ich da, ständig ein Notizbuch bei mir zu tragen? Der Rennsteig als Sprachgrenze zwischen Franken und Obersachsen. Auch davon wusste ich nichts. Denn mit uns zog die neue Zeit. Viele Jahre später erst hatte ich hart zu lernen beim hennebergisch-fränkischen Geschichtsverein: Südthüringen ist eine Erfindung der Kommunisten, Südthüringen ist Nordfranken.
Hangauf wachsendes Grau. Das schrieb ich 1980 in ein Gedicht über meine Stadt. Das aber war nur das Äußerliche, die Umschreibung des allgegenwärtigen Betons unterm dunkelgrünen Waldrand. Der Text kennzeichnet mich auch als Ausgeschlossenen: vom fränkischen Idiom hiesiger Sprache, die für einen ganzen Kulturkreis steht, wieder und wieder sprachfremden Herren zugeschlagen: Verschlossener Ort Sprache / Winkel Suhl. Poesie als Antithese zum Beton? Zu dieser Zeit wohnte ich selbst hinter Schieferwänden, in einem modernen Haus – von 1904. Seitdem allerdings war wenig an dem Haus passiert. Die Poesie des Kohlenschaufelns. Nur 25 Zentner fasste die uns als Mietern zugewiesene Kohlenbucht. 25 Zentner bedeuteten damit 50 Zentner Arbeit, denn die geballte Winterwärme musste zuerst von der Straße durch ein Kellerfenster auf den Boden und von dort dann noch einmal in die Kohlenbucht geschaufelt werden. Und doch lag Poesie darin: im Vollenden des Werkes, im Zusammenfegen und Eintüten des Kohlendrecks vom Kellerboden, im Einlegen der ersten frischen Briketts in die Schütte: gespeicherte Wärme für ein halbes Lebensjahr.
Es gab die Poesie der Bücher, die ein Freund zuweilen unangemeldet vorbeibrachte, zwischen Stapeln »Neues Deutschland« versteckt, und nichts sagte als: bis Freitag. Nächte überm Buch, mit Kaffee wach gehalten, Ascoffin. Archipel Gulag. Die wunderbaren Jahre. Die Alternative. Die Poesie des Denkens.
Die Poesie der Begegnungen, Gespräche. Das nur kurzzeitig unterbrochene Sprechen, wenn plötzlich wie ein Blitz die Frage kam: was geb ich gerade preis, was kann sich gegen mich kehren? Die Erfahrung der Poesie des Schweigens.
Einer meiner poetischen Orte in Suhl reicht weit über das Fränkische zurück. Es ist vermutlich ein Keltenstein an einem Ort, der wieder einen klingenden Namen trägt: Ehwed. Den der flüchtige Wanderer am Domberg, dem steil aus dem Stadtzentrum aufragenden Suhler Hausberg, nicht findet und an dem auch ich lange vorüberging. Ein Quader ragt dort aus einer Grasfläche auf. Wer es weiß, sieht ein Gesicht darin lächeln. Zu Sonnenwendzeiten spielt das Licht eine große Rolle und lässt die Zeichen deutlich werden. Was aber besagen sie? Wie viel haben wir an Wissen verloren über zweieinhalbtausend Jahre Geschichte hinweg? Magie liegt über dem Platz. Wir waren zur Wintersonnenwende mit Freunden dort, nahmen einen Wanderer in unser Heilritual auf. Wir verknüpften die leeren Stellen der Zeit. Poesie, die sich nicht mehr in Sprache pressen lässt. Vielleicht waren wir kurz davor, Kobolde zu erblicken, jene wundersamen Wesen, die den alten Berg des Eisenabbaus und diesen Platz hüten. Und den Schlüssel zur Poesie der Stille.
Mein lärmendes Suhl. Meine noch vor kurzem hundertkneipige Stadt. Dominierende Berge. Der Stilbruch durch die Moderne, von jedem Blickwinkel aus. 500 Meter Weg für 500 Jahre Zeitensprung. Alles ist hier gleichzeitig da. Die kaiserlichen Heerscharen unter General Isolani, der Schreckensschrei: die Kroaten kommen! Bis heute läuten am Gallustag in Suhl die Glocken Sturm. Die Lust am Waffenbauen. Es geht um Perfektion! Die Ismen, die dieser Stadt besonders schwer mitspielten. Fränkische Streitlust. Der Erfindergeist der Gebirgler. Das Abschotten vor Fremden. Gastfreundschaft. Das raue Klima am Fuß des Gebirges. Unvergleichliche Wintertage, wenn der Blick mühelos hinübereicht bis in die hohe Rhön. Hochsommernächte, die zwischen den Bergen immer wieder Kühle bringen. Die Poesie der vom Leben gezeichneten Gesichter; in Suhl gilt man heute mit 50 noch als jung. Hier Schritte ziehen. Im Klang von Herbert Roth, von Singakademie und internationaler Bands in einer der angesagtesten Musikkneipen Deutschlands. Im Regenrausch, im Stimmengewirr: mein Thüringen ist fränkisch. Hier hat es jede Silbe schwer, zu schweben. Doch dann die Chance, weit zu fliegen über das flacher werdende Land nach Süden, von wo die Lautungen kamen; übers Gebirge vielleicht ins Gothaische, das heranreicht an Schmücke und Inselsberg und sich einst bis zur Nachbarstadt streckte. Über den Baum schreiben, der mit jeder Nadel ein Stück Himmel hält. Die Wege, über die einst Fuhrleute ihre Wagen schoben durchs Gebirg mit fränkischer Ware fürs sächsische Land und retour. Die Poesie der Häuser meiner Stadt, die ein Zeitgitter weben in den Himmel über mir, der wegen der Berge kleiner ist als anderenorts – und deshalb vielleicht verlockender. Mein Ort im Erfurter Windschatten, aus dem selbst Thüringer Zeitungen flohen, der sich wacker hält und stolz, wo sich Poesie entlädt im Provinzschrei und im Feilschen um jede Silbe im Gedicht. Dem man entkommt, um wiederzukehren: mein Winkel Suhl.
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