Herzog Bernhard von Sachsen-Weimar-Eisenach – »Das Tagebuch der Reise durch Nord-Amerika in den Jahren 1825 und 1826«

Person

Johann Wolfgang von Goethe

Ort

Weimar

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Siegfried Seifert

Erstdruck in Palmbaum 2-2019.

Gele­sen von Sieg­fried Seifert

Mit bewun­derns­wer­ter Akri­bie und Ausgewogenheit

 

Diese Neue­di­tion ist ein Ereig­nis: Für das euro­päi­sche Ame­ri­ka­bild ein­gangs des 19, Jahr­hun­derts, aber auch für die Ideen­welt des klas­si­schen Wei­mar, gespie­gelt in der „Neuen Welt“, sowie für die Goe­the-For­schung. Das ame­ri­ka­ni­sche Tage­buch des Her­zogs Bern­hard (1792–1862), des zwei­ten Soh­nes des Groß­her­zogs Carl August, war zuerst 1828 in der Hoff­mann­schen Hof­buch­hand­lung zu Wei­mar erschie­nen; eine eng­li­sche und eine nie­der­län­di­sche Über­set­zung folg­ten sofort. Der dama­lige Her­aus­ge­ber, der Jenaer His­to­ri­ker Hein­rich Luden, hatte aber – in weit­ge­hen­der Über­ein­stim­mung mit dem Autor – den Text um fast die Hälfte gekürzt und auch Ver­än­de­run­gen im Wort­laut vor­ge­nom­men. Her­zog Bern­hard war wohl letzt­lich doch von Ludens Redak­tion ent­täuscht, denn er schrieb spä­ter, dass die­ser den Text „cas­trirt“ habe (S. 9). Mit der von dem ame­ri­ka­ni­schen Ger­ma­nis­ten Wal­ter Hin­de­rer und dem Wei­ma­rer Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Alex­an­der Rosen­baum her­aus­ge­ge­be­nen Edi­tion wäre Bern­hard aber ohne Zwei­fel höchst zufrie­den. Die neue Aus­gabe bie­tet den unge­kürz­ten Text in ori­gi­na­ler sprach­li­cher und ortho­gra­phi­scher Fas­sung. Die Tran­skrip­tion der über 1000 Sei­ten umfas­sen­den, im Haupt­staats­ar­chiv Wei­mar auf­be­wahr­ten Hand­schrift durch A. Rosen­baum ist eine bei­spiel­lose, bewun­derns­werte Leistung!

Die bei­gefüg­ten Auf­sätze von Rosen­baum und Hin­de­rer (über die bis­he­rige Publikations­geschichte des Tage­buchs bzw. über die Ame­rika-Reise des Her­zogs, S. 803–863) inter­pre­tie­ren Her­zog Bern­hards Tage­buch in sei­ner inhalt­li­chen wie lite­ra­ri­schen Bedeu­tung. Sie heben nicht nur die gene­relle „bewun­derns­werte Akri­bie und Aus­ge­wo­gen­heit“ (S. 9) des Wer­kes her­vor, die „Rast­lo­sig­keit“, mit der Bern­hard das „Neue und das Fremde sucht, um es sich anzu­eig­nen“ (S. 838), sie wei­sen auch auf zahl­rei­che ein­zelne The­men und Aspekts des weit­ge­spann­ten inhalt­li­chen Ange­bots hin. (Lei­der ver­or­ten diese Auf­sätze die Zitate aus Bern­hards Auf­zeich­nun­gen in der Wei­ma­rer Hand­schrift oder der Aus­gabe von 1828, nicht nach der neuen Gesamt­aus­gabe; offen­sicht­lich waren Satz und Umbruch noch nicht fertig.)

Die umfas­sende Bil­dung und das breite, unvor­ein­ge­nom­mene soziale Inter­esse des auf sei­nem Lebens­weg vor allem als Mili­tär in nie­der­län­di­schen Diens­ten erfolg­rei­chen Her­zogs sind beein­dru­ckend. Im Tage­buch fin­den sich Bern­hards über­zeu­gende Urteile über poli­ti­sche, kul­tu­relle und tech­ni­sche Fra­gen, anschau­li­che Schil­de­run­gen sei­ner Begeg­nun­gen mit z. T. berühm­ten Per­sön­lich­kei­ten wie John Quincy Adams und Tho­mas Jef­fer­son, fes­selnde Natur­be­schrei­bun­gen (Nia­gara-Fall usw.) und vie­les andere. Zeich­nun­gen des Autors berei­chern den Text. Sein Ver­ständ­nis für die ame­ri­ka­ni­sche Geschichte seit dem Unab­hän­gig­keits­krieg und der Grün­dung der USA schließt auch die kri­ti­sche Sicht, vor allem auf den Skla­ven­han­del, nicht aus: Bern­hard beschreibt meh­rere Sze­nen, in denen Skla­ven und vor allem Skla­vin­nen gede­mü­tigt und bru­tal miss­han­delt wer­den. Sach­kun­dig und in vie­lem ver­ständ­nis­voll und aner­ken­nend aber seine Bemer­kun­gen zu den Sied­lun­gen des uto­pi­schen Sozia­lis­ten Robert Owen und des schwä­bi­schen Pie­tis­ten Johann Georg Rapp sowie zu den – aller­dings rela­tiv gerin­gen – Begeg­nun­gen mit India­nern. Man kann die­ses gewal­tige Werk wohl nur all­mäh­lich und the­ma­tisch-par­ti­ell lesen, auf­neh­men und stu­die­ren. Dabei hel­fen das Per­so­nen­re­gis­ter und das Geo­gra­phi­sche Regis­ter (S. 865–910). Sehr nütz­lich sind auch wei­tere Ergän­zun­gen und Über­sich­ten: Ver­zeich­nis der Bei­la­gen im Tage­buch, Doku­mente (vor allem Briefe im Zusam­men­hang mit dem Ame­rika-Auf­ent­halt), Biblio­gra­phie sowie eine Kurz­bio­gra­phie zu Bern­hard. Dass die Neue­di­tion kei­nen erläu­tern­den Stel­len­kom­men­tar hat, kann man akzep­tie­ren; sie wäre wohl sonst erst in fer­ner Zukunft fer­tig gewor­den. So bleibt die detail­lierte Aus­wer­tung und Inter­pre­ta­tion die Auf­gabe der künf­ti­gen For­schung, die mit die­ser Edi­tion eine abso­lut sichere Quel­len­grund­lage erhält.

Das außer­or­dent­li­che Inter­esse Goe­thes am Tage­buch Bern­hards konnte in den Bei­trä­gen der Her­aus­ge­ber nur im Ansatz, aber mit deut­li­chem Ver­weis auf ent­spre­chende Spe­zi­al­un­ter­su­chun­gen, soweit sie schon vor­han­den sind, ana­ly­siert wer­den. Goe­the, der schon wäh­rend der Reise Bern­hards in die Lek­türe der nach Wei­mar über­sand­ten Teil­fasz­i­kel des Tage­buchs ein­be­zo­gen war, begrüßte den Heim­ge­kehr­ten mit einem Gedicht in der Wei­ma­rer Frei­mau­rer­loge am 15. 9. 1826 („Dem aus Ame­rika glück­lich-berei­chert Wie­der­keh­ren­den …“). Ohne Zwei­fel hat Goe­thes beson­de­res Enga­ge­ment nicht nur die schnelle Publi­ka­tion des Ame­rika-Tage­buchs ent­schei­dend geför­dert, son­dern auch die Wir­kung von Bern­hards weit­ge­spann­tem Pan­orama der „Neuen Welt“ auf die Neu­be­ar­bei­tung von „Wil­helm Meis­ters Wan­der­jah­ren“ ermög­licht. Bekannt ist auch Goe­thes 1827 ent­stan­de­nes Zah­mes Xen­ion „Ame­rika, du hast es bes­ser …“. Inso­fern gehört das Ame­rika-Tage­buch auch zu den geis­ti­gen Wur­zeln des klas­si­schen Wei­mar in Goe­thes Spätzeit.

 

  • Her­zog Bern­hard von Sach­sen-Wei­mar-Eisen­ach: Das Tage­buch der Reise durch Nord-Ame­rika in den Jah­ren 1825 und 1826, Hrsg. von Wal­ter Hin­de­rer und Alex­an­der Rosen­baum, Königs­hau­sen & Neu­mann Würz­burg, 2017, 910 S., zahlr. his­tor. Abb. (Stif­tung für Roman­tik­for­schung, 60) 68,00 Euro
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