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Guido Naschert
Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.
Wiedergelesen von Guido Naschert
»Poesie, heißt das nicht auch: den Menschen wieder-finden, der heute auf dem Weg ist, sich selbst zu verlieren?« Hanns Cibulka, Swantow
Die fünfzehntausend Exemplare der Erstauflage von Hanns Cibulkas (1920–2004) Erzählung Swantow verkauften sich bei ihrem Erscheinen im Jahr 1982 binnen weniger Tage; ein ungewöhnlicher Erfolg, der einen in Gotha eher zurückgezogen lebenden Autor einer größeren Öffentlichkeit als ökologisch motivierten Staats- und Systemkritiker bekanntmachte. Nach Soldatenzeit und Gefangenschaft war Cibulka als »Umsiedler« Ende der 1940er Jahre nach Jena gekommen und hatte wenig später die Möglichkeit zu einer Bibliothekarsausbildung in Berlin erhalten. Am Ende des Studiums bot man ihm mehrere Stellen an. Cibulka wählte die Leitung der Stadt- und Kreisbibliothek »Heinrich Heine« in Gotha, weil die Residenzstadt nah am Thüringer Wald lag und dies seinem Bedürfnis nach Natur entgegenkam. Er sollte der Stadtbücherei bis 1985 vorstehen. Doch das, was seinem schriftstellerischen Werk Charakter und Haltung verlieh, brachte er bereits nach Gotha mit. Rückblickend bemerkte er einmal: »der Krieg, der ständige Umgang mit dem Tod, […] nicht zuletzt der Verlust meiner Heimat […] waren stärker als alles, was in den letzten dreißig Jahren auf mich zukam; sie packten mich dort, wo der Mensch am verwundbarsten ist.«
Hanns Cibulka ist als Lyriker und Autor literarischer Tagebücher in Erinnerung geblieben. Letztere gleichen kleinen Breviers zum Mit-Sich-Tragen und wiederholten Lesen. Sie sind geprägt von einer starken gedanklichen Durchdringung der Gegenstände und mischen kurze Gattungen wie das Gedicht, den Essay, die Naturbeschreibung oder die Anekdote. Vom äußeren Erscheinungsbild ebenso wie von ihrer Erzählhaltung her treten sie mit Bescheidenheit und Selbstzurücknahme auf. In der Regel lässt der Autor in ihnen trotz des autobiographischen Mitteilungswillens ein Alter-Ego sprechen. So sind seine ›Tagebücher‹ keine Diarien oder Chroniken, sondern es sind durchkomponierte und mit verschiedenen Darstellungsebenen und Spannungsbögen versehene Aufzeichnungen. Es sind Dokumente einer beständigen Suchbewegung, räumliche wie intellektuelle Orientierungen.
Cibulkas Tagebücher erzählen von Ereignissen an geschichtsträchtigen Orten seiner Gegenwart. Die später so bezeichnete Gruppe der »Thüringer Tagebücher« liegt in zwei verschiedenen Fassungen vor: Eine noch vom Autor selbst getroffene Auswahl für den Leipziger Reclam-Verlag erschien 1993. In ihr fehlt Das Buch Ruth und die Liebeserklärung in K wird abweichend von der chronologischen Reihenfolge an den Anfang gestellt. Die Ausgabe von Heinz Puknus aus dem Jahr 2013 vereint alle vier zwischen 1972 und 1988 erschienenen Bände in der Ordnung ihres Erscheinens.
In den Dornburger Blätter[n] (1972) entdeckt Cibulka das »Licht- und Sonnenland« der Dornburger Schlösser und zelebriert es im Spiegel Goethescher Texte. In der Liebeserklärung in K (1974) vermischen sich während eines Aufenthalts im Sommerschloss der Frau von Stein in Kochberg die Eindrücke der Gegenwart mit den starken Erinnerungen an eine unerfüllte Liebe aus der Kriegszeit im polnischen Kremenz. Das Buch Ruth (1978) enthält die Aufzeichnungen des Archäologen Michael S. aus Eisenach, der davon träumt, in Syrien Ausgrabungen unternehmen zu können, was ihm eines Tages auch ermöglicht wird. Bei einem israelischen Bombenangriff auf ein Hotel in Damaskus im Oktober 1973 – während des Jom-Kippur-Kriegs – kommt er jedoch ums Lebens. Mit dem Tagebuch Wegscheide (1988) schließlich beginnt Cibulka seinen Ruhestand in Tambach-Dietharz im Thüringer Wald. Die Meditation über die Musik Schuberts oder die Lektüre Meister Eckharts erlauben es ihm, den Blick von der privaten Situation weg auf das Ganze hin zu weiten: »Wir stehen an einer Wegscheide: wenn wir den Aufbruch in eine neue Bewußtseinssphäre ignorieren, dieses vorausschauende Denken, den Prozeß der Vergeistigung, setzen wir unsere eigene Zukunft aufs Spiel.«
Cibulkas Tagebücher beeindrucken durch ihre kunstvolle, immer anregende Montage von Ideen und Notaten, durch die äußerst feinsinnigen Naturbeschreibungen und die anteilnehmenden Beobachtungen seiner Mitmenschen. Beeindruckend ist ferner der an der Klassik geschulte Weitblick des Verfassers, der sich von Land, Ideologie und System nie einengen ließ. So betrachtete er etwa die Folgen der Umweltzerstörung nicht als Auswirkungen des politischen Systems, sondern als solche der modernen technologischen Naturausbeutung. In seinen wiederkehrenden Forderungen nach Verzicht, Entsagung oder Selbstbeschränkung deutet sich eine Ethik der Verantwortung an. Die Literatur und das Schreiben erhalten in diesem Rahmen ihre Funktion. Cibulka will seine Leser anleiten, sich als Suchende zu erkennen, die nur in der Auseinandersetzung mit der Natur, der Geschichte und der Kunst zu sich selbst finden können.
Dies alles ist sehr ernst gedacht. Manchmal vermisst man die Leichtigkeit der Ironie und des Witzes, das Verständnis für bestimmte Tendenzen der modernen Kunst und Jugendkultur, für Entwicklungen der Technologie, die wir nicht nur nicht mehr rückgängig machen können, sondern die der Poesie auch neue Wege eröffnen. Doch gibt es etwas Wichtiges, das diesen Tagebüchern dauerhaften Wert verleiht: Cibulka wusste, dass die Sprache der (Natur-)Wissenschaften für ein bewusstes Leben nicht ausreicht, dass der Mensch dazu auf die Sprachen der Philosophie, Kunst oder Religion angewiesen bleibt. Am eigenen Beispiel führt er vor Augen, wie Lyrik und Tagebuch zu Mitteln werden können, die durch Krieg und Gefangenschaft verlorene Heimat im Schreiben über die Fremde neu zu finden und ein die Tradition einbeziehendes, bewusstes Leben zu führen.
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