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Hansjörg Rothe
Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.
Gelesen von Hansjörg Rothe
»Lieber Ungerechtigkeit begehen als Unordnung ertragen«
Für wie unwahrscheinlich man es auch halten mag, jemand könne heute noch etwas inhaltlich Neues zu Goethe zutage befördern, nachdem ganze Heerscharen von Germanisten seit inzwischen über einhundert Jahren jedes Detail seines Lebens hin und her gewendet haben – Gustav Seibt ist es gelungen. Zugleich dokumentiert das 2014 erschienene Buch eindrücklich, dass wir mit diesem Dichter und Politiker noch lange nicht fertig sind und hochaktuelle Diskussionen problemlos auf von ihm angestoßene Argumentationen zurückgreifen können.
Im Fokus steht die kurzzeitig unter der Besatzung der französischen Revolutionsarmee im Jahre 1792 in Mainz etablierte Rheinisch-Deutsche Republik und vor allem deren Ende, dem »Die Belagerung von Mainz« gewidmet ist. Goethe war Augenzeuge, doch der Text wurde erst 1820, als Teil von »Dichtung und Wahrheit«, verfasst.
Jeder kennt die Szene, in welcher Goethe schildert, wie er beim Auszug der geschlagenen Franzosen vom Fenster des herzoglich-weimarischen Quartiers aus beobachtet, wie die Volksmenge einen jakobinischen Kollaborateur aus den Reihen der Franzosen herausziehen und offenbar misshandeln will, er selbst daraufhin hinauseilt und » … mit gebietender Stimme: Halt!« ruft, der Menge tatsächlich Einhalt gebieten kann und ihr »stark und heftig sprechend« zuruft, » …hier sei das Quartier des Herzogs von Weimar, der Platz davor sei heilig; wenn sie Unfug treiben und Rache üben wollten, so fänden sie noch Raum genug.« Schließlich äußert er zu seinem Bekannten Charles Gore, der Augenzeuge ist und ihm wegen seiner Verwegenheit Vorhaltungen macht, den berühmten Satz, es liege nun einmal in seiner Natur, »…lieber Ungerechtigkeit begehen als Unordnung ertragen« zu wollen.
Die Sache hat einen Haken. Kein anderer hat die Darstellung je bestätigt, weder der namentlich benannte englische Maler Gore noch irgendjemand anderes. Gustav Seibt argumentiert recht überzeugend, dass ein solcher Menschenauflauf angesichts der Fülle an Briefmaterial, in dem alle Ereignisse jenes dramatischen 25. Juli 1793 meist mehrfach geschildert wurden, wenigstens einmal Erwähnung gefunden haben sollte – schließlich war Goethe ja kein Unbekannter. Die »argumentatio ex nihilo« sei zwar heikel, so Seibt, aber dass Goethe hier die Wahrheit schreibe, möge »glauben wer will.«
Nun heißt Goethes Werk bekanntlich »Dichtung und Wahrheit«, ein Register, welche Episode wie einzuordnen sei, hat er nicht mitgeliefert. Gustav Seibts geniale Leistung besteht aber darin, die wahrscheinliche Vorbildszene gefunden zu haben, die von zwei unabhängigen Augenzeugen festgehalten wurde: »Als diese Colonne in Marienborn vor den Preussen vorbeimarschirte, so machten einige Mainzer Bürger Mine, als wenn sie sich an dem Rüffel vergreifen wollten. Sogleich rief Dübajet mit einer äusserst imposanten Stimme, und einer ebenso bedeutenden Schwenkung des Degens aus: Je compte sur la loyauté du roi de Prusse; Er wiederholte diese Worte dreymahl, und wandte sich zu seinen Soldaten mit den Worten: pas ordinaire, pas lent, silence. Hierauf trat der Herzog von Weimar hervor, und versicherte Dübajet, daß man die Kapitulation in allen Puncten aufs genaueste halten werde: nach welcher Versicherung die Franzosen und ihre Clienten ungestört fortzogen.«
Franz Xaver Riffel alias »Rüffel« war ein Mainzer Gastwirt von entschieden jakobinischer Gesinnung, der kurz nach dem Einzug der französischen Revolutionstruppen europaweit für Gesprächsstoff gesorgt hatte, indem er zwei in Mainz untergetauchte französische Emigranten anzeigte, die prompt hingerichtet wurden. In den folgenden Monaten begann er seine beträchtlichen militärischen Ambitionen auszuleben und lieferte wahrscheinlich gewisse Anregungen für Goethes »Bader Schnaps«, die Titelfigur des zu Anfang Mai 1793 uraufgeführten satirischen Schwanks »Der Bürgergeneral«.
Seibts Buch beginnt mit dem Kapitel »Jagdszenen am Mittelrhein«, in welchem die Racheakte an den »Clubbisten«, den jakobinischen Kollaborateuren, nach Abzug der französischen Revolutionstruppen geschildert werden. »O wie unedel handeln die Deutschen, die sich nun dem fränkischen [französischen] Gesindel gleich setzen und ähnliche Barbareien und Grausamkeiten ausüben«, zitiert der Autor einen Zeitgenossen, »ich habe es immer gesagt: alle Greuel der Sansculotten werden von den Siegern und Aristokraten noch übertroffen werden.« Die Franzosen hatten vielfach »Pfarrer, Amtleute und Wirte…, also Gebildete und Wohlhabende« als Maires und Administratoren eingesetzt. An diesen entlud sich der Volkszorn, nach dem Austausch der französischen Besatzung durch die preußische.
In den weiteren Kapiteln argumentiert der Autor, Goethe habe zwar die Notwendigkeit anerkannt, mit der in Frankreich die dortigen Bedingungen zur Revolution führen mussten, einen Revolutions-Export ins Ausland und insbesondere Deutschland aber strikt abgelehnt. Dabei zeichnet er allerdings ein Bild von Goethe, das diesen viel zu kategorisch im Lager der Konterrevolution verortet und seine durchaus vorhandenen Sympathien für die Deutsche Revolution kleinredet. Das wird deutlich bei der Behandlung von Goethes Berufung auf einen Ratsherrensitz in seiner Heimatstadt Frankfurt, die ihn just während der Kampagne in Frankreich erreichte, letztlich aber von ihm abgelehnt wurde. Seibt sieht es als ausgemacht an, diese Aussicht sei für Goethe nur abschreckend gewesen, da Frankfurt ja auch zeitweise von französischen Revolutionstruppen besetzt gewesen sei und dann hätte Goethe »womöglich mit Bürgergenerälen als Ratsherr verhandeln müssen«, Frankfurter Pendants zum Mainzer Riffel. Dabei verkennt der Autor zum einen, dass es in Frankfurt auch schon einmal einen wohlhabenden Gastwirt mit stark frankophilen Neigungen gegeben hatte – Goethes Großvater. Zum anderen malt er ein viel zu rosiges Bild von Goethes Verhandlungen mit dem Herzog über die Bedingungen seines Verbleibs in weimarischen Diensten, oder vielmehr: solcher Verhandlungen habe es gar nicht bedurft, wegen »seine[r] günstigen Weimarer Lebensumstände«.
Nur, so günstig waren die zu jenem Zeitpunkt gar nicht. Es hatte Zerwürfnisse gegeben, und zwar schon seit 1788. »Die Vulpius hat alles verdorben«, gab Carl August irgendwann zu Protokoll. »Die Vulpius« – Goethes 1816 verstorbene Frau – war dieselbe, die vom selbsternannten Chefgoetheversteher Thomas Mann noch 100 Jahre nach ihrem Tod als ein schönes Stück Fleisch – »un bel pezzo di carne, gründlich ungebildet« – verunglimpft wurde. Goethe selbst hatte 1796 an Schiller geschrieben: »Heut ist die Französische Revolution 7 Jahr und mein Ehstand 8 Jahr alt.« Und in einem Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, den Seibt nicht zitiert (wohl aber Sigrid Damm in ihrem Buch über Christiane von Goethe): »Daß die Französische Revolution auch für mich eine Revolution war, kannst du dencken.« Nachdem sich abgezeichnet hatte, dass Goethe mit seinem »Ehstand« ernst zu machen gedachte, war es ihm ergangen wie dem Gastwirt Riffel beim Abzug der Franzosen: der Herzog hatte dem Günstling »seine mit Gold angefüllten Taschen … in wenig Minuten ausgeleert und ausgetheilt«. Dann noch »die Vulpius« – comme ordinaire! – so eine traf man als Freund des Herzogs gelegentlich »auf der Heiden« oder bestenfalls in der Jagdhütte. Carl August entzog Goethe das Wohnrecht in seinem Haus am Frauenplan, wo er seit 1782 zur Miete gewohnt hatte, und wies ihm ein paar Räume im »Jägerhaus« zu, wo vor den Toren Weimars die herzoglichen Fasanen und Frettchen gehalten wurden. Dort verlebten Goethe und Christiane die Jahre 1789 bis 1792, dort wurde auch der Sohn August geboren. Erst nach Valmy und zeitgleich mit der Frankfurter Offerte (die Goethe als Verhandlungs-Joker am Ende gar selbst angeregt hatte?) gab der Herzog nach und rückte den Schlüssel zum Frauenplan wieder heraus, wahrscheinlich unter der Bedingung, dass es zu keiner formalen Eheschließung komme – nicht nur die französischen Revolutionstruppen hatten sich als recht zäh erwiesen, sondern auch Goethe, in dessen Gartenlaube keine Bittgesuche formuliert worden waren sondern nur die Feststellung, ein wollenes Kleid lasse sich ebenso gut aufheben wie ein brokatenes.
In den folgenden Jahren übernahm Christiane weitgehend die Kommunikation mit Carl Augusts Maitresse, der Schauspielerin Caroline Jagemann, deren Vorgesetzter Goethe als Theaterdirektor war, während sie selber von den Damen der Gesellschaft ignoriert wurde. Nach dem Tod seiner Frau vor die Wahl gestellt, nun seinerseits die Jagemann nicht mehr zu ignorieren – und damit sozusagen als herzoglich-weimarischer Hofzuhälter zu fungieren – oder lieber den Posten als Theaterdirektor aufzugeben, entschied Goethe sich für letzteres. Er mochte nun einmal keine Unordnung.
Diese Lesart von »Goethe in der Revolution« liefert auch ein plausibles Motiv, warum Goethe im Jahre 1820 die »Belagerung von Mainz« so und nicht anders schrieb. Gustav Seibt dekonstruiert sehr überzeugend, dass Goethe keinen Tatsachenbericht liefert, sondern eine klassische Theaterszene entworfen hat, aber die Frage nach dem Warum? bleibt er schuldig. Goethes Auftritt vor der Menschenmenge ist die Schlussszene einer ganzen Dramaturgie, in welcher zunächst nach seinem Eintreffen in Marienborn besagter Vorplatz gefegt, also »in Ordnung gebracht« wird und dann in den folgenden Tagen alle Hauptpersonen des theatralischen Höhepunkts schon einmal auftreten und mit dem Dichter »rein zufällig« Gespräche führen. Wer sollte nun Adressat dieses »Spiels im Spiel« sein, wenn nicht eine einzige Person: der Herzog, denn der saß ja in dieser Theaterszene als Zuschauer quasi mit auf der Bühne, nach Art der barocken Landesherren, war er doch in der Realität als handelnde Person in der Urszene aufgetreten. Vermutlich hat Goethe das Ereignis auch von ihm selbst erzählt bekommen. Goethe hingegen tritt in der Rolle des französischen Generals Dubayet auf und proklamiert damit zum einen seine loyauté du roi de Prusse, zum anderen beteuert er, die Ordnung im Hause Sachsen-Weimar, ja selbst der gefegte Vorplatz vor dem herzoglichen Quartier, sei ihm nichts Geringeres als »heilig«.
Dieses ominöse Attribut ist eindeutig der Situation des Jahres 1820 geschuldet – kurz nach den Karlsbader Beschlüssen und der Proklamation der »Heiligen Allianz«, die letztlich nur von der militärischen Macht des russischen Zaren zusammengehalten wurde. Der schon 1793 als preußischer General fungierende Herzog von Sachsen-Weimar hatte sich klar als Satellit Preußens in diesem System positioniert, ein Status der schon bald durch die Heirat seiner Enkelin Augusta mit dem preußischen »Kartätschenprinzen« von 1848 und späteren Kaiser Wilhelm I. zementiert werden sollte.
Die »Belagerung von Mainz« ist also mehr als ein bloßer Beitrag zum politisch-gesellschaftlichen Diskurs. Wir werden als Leser zu unwissenden Zeugen eines Friedensangebots, einer Erneuerung des alten Männerbunds zwischen Goethe und dem Herzog. Die »Ungerechtigkeit«, die Carl August seinem Jugendfreund wohl am bittersten angekreidet hatte, dürften die Umstände der im Jahre 1806 entgegen allen Absprachen doch noch durchgesetzten Eheschließung gewesen sein – als der Herzog samt Hofstaat nach der gegen Napoleon verlorenen Schlacht von Jena und Auerstedt das Weite suchte, blieb Goethe bekanntlich zu Hause, fand im teilweise brennenden Weimar auch noch einen Pfarrer und ließ sich kirchlich trauen, mit seinem inzwischen 17 Jahre alten Sohn August als Trauzeuge. Das war aber nun alles schon sehr lange her, Christiane als Stein des Anstoßes seit 4 Jahren tot.
Wie relevant Goethes Position in diesem »bürgerlichen Krieg« zwischen Gegnern und Anhängern der Revolution auch heute noch ist, verdeutlicht nicht nur der von Gustav Seibt im 2. Kapitel angeführte erbitterte Streit von Thomas Mann mit seinem Bruder Heinrich, der 1950 um ein Haar Gründungspräsident der Akademie der Künste der DDR geworden wäre. Das Hin und Her der Stellungnahmen zu Goethes Lieber-Ungerechtigkeit-Begehen-als-Unordnung-Ertragen-Wollen wird von Seibt nachgezeichnet, über Romain Rolland bis zu Michael Jaegers Faust-Kolonie. Das kurzlebige und doch folgenreiche Experiment der Mainzer Republik wird detailliert geschildert und der vom Autor zitierte Beschluss der französischen Nationalversammlung vom 22. Mai 1790, nach dem alle künftigen Gebietserweiterungen Frankreichs »von der Zustimmung der Betroffenen abhängig gemacht« werden sollten, beleuchtet die Aktualität dieser keineswegs vergangenen Vergangenheit für uns, die wir über die Abspaltungen der Krim von der Ukraine und des Kosovo von Serbien diskutieren. Der wertvollste Gewinn aus der Lektüre des Buches ist aber das Angebot Goethes an seinen Herzog Carl August, mit den Mitteln von Dichtung und Wahrheit zurückzufinden zur Gemeinsamkeit ihrer Jugend, über alle Gräben von Revolution und Konterrevolution hinweg. Dank Gustav Seibts Entschlüsselung verstehen wir nun endlich auch, dass dem so ist.
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